Herman Bavinck im Jahr 1904:
Von diesem hohen und erhabenen Standpunkt, auf den uns die christliche Weisheit stellt, fällt schließlich ein überraschendes Licht auf das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie. Die Verwandtschaft beider wird durch alle großen Denker gefühlt und anerkannt. Aber Hegel wird durch seine dialektische Methode zu der Auffassung geführt, dass Religion primitive Philosophie, in Allegorie gehüllte anschauliche Metaphysik des Volks, und die Philosophie deshalb die in Begriffe um gesetzte Religion des Denkers sei. Damit aber kommt das Wesen bei der, besonders der Religion, zu kurz. Denn sei es auch, dass die Philosophie eine vollständige Erklärung der Welt und einen vollständig reinen Begriff von Gott geben könnte, der Mensch würde darin doch kein Genüge finden. Sein Herzensdurst verlangt nicht zuerst nach einem reinen Gottesbegriff, sondern nach dem lebendigen Gott selbst. Der Mensch findet keine Ruhe, bevor Gott sein Gott und sein Vater gewor den ist. Mag nun auch die Philosophie einen noch so hohen Beruf und eine noch so hohe Aufgabe haben, Gott selbst finden wir unter ihrer Leitung nicht. Zu ihm nähern wir uns nur, mit ihm treten wir nur in Gemeinschaft auf dem Wege der Religion. Auch für den tiefsten Denker gibt es keine Rechtfertigung durch den Begriff, sondern allein durch den Glauben. Jesus sprach nicht die Weisen und Verständigen, sondern die Kinder, die Kinder auch unter den Philosophen, selig. Besser war dann noch die Anschauung Schleiermachers, der Religion und Philosophie aus zwei ganz verschiedenen Bedürfnissen und Funktionen der menschlichen Natur ableitete und deshalb beiden eine dauernde Bedeutung im menschlichen Leben sicherte. Aber auch dieser Dualismus befriedigt nicht. Denn die Philosophie beschränkt sich nicht auf das Endliche und kommt deshalb auch mit Gott, als der letzten Ursache aller Dinge, in Berührung. Und die Religion, welche den Menschen in erster Linie in Gemeinschaft mit Gott bringt, bestimmt dadurch auch sein Verhältnis zu allen Geschöpfen. Sie erschöpft sich nicht in Gefühlen, sondern schließt sehr konkrete Vorstellungen in sich ein und enthält stets den Keim einer ganzen Weltanschauung.