Eva Illouz: Von der „Bindung an die eigene Verwundung“

Die Soziologin Eva Illouz hat am 21. Oktober in Berlin den Frank-Schirrmacher-Preises verliehen bekommen. Ich habe mich weder mit ihrem Gesamtwerk noch mit dem Inhalt ihrer Dankesrede eingehend beschäftigt (erschienen als: „Schuld ist das Schlüsselthema der extremen Rechten – und Beleg für die zerstörerische Kraft der Identitätspolitik“, FAZ vom 18.11.2024, Nr. 269, S. 12). Mir fiel allerdings auf, dass sie sich bemerkenswert kritisch zur Identitätspolitik äußert.  Sie schreibt unter anderem: 

Das Problem mit der Opferkultur ist nicht, dass manche sie missbrauchen, wenngleich manche sie missbrauchen. Es ist auch nicht, dass sie Leute zu Jammerlappen macht, die sich nicht selbst zu helfen wissen, wenngleich auch das mitunter der Fall sein mag. Das ist ein Preis, den die Befreiung des Opferstatus wert ist. Es bringt aber drei andere Probleme mit sich. Erstens macht die Verwandlung der Opferrolle in einen existenziellen Zustand auch das Vergehen des Täters zur bleibenden Schuld. Die Schuld wiederum wurzelt in der Gruppe ein, die durch die in der Vergangenheit verübte Unterdrückung definiert wird. Shelby Steele, afroamerikanischer Wissenschaftler der Universität Stanford, beschreibt dies in seinem gleichnamigen Buch am Beispiel der „White Guilt“. Ihm zufolge hat sich die schwarze Politik der Emanzipation im Kampf gegen den Rassismus in eine Politik verwandelt, in der die Weißen die moralische Autorität erlangt haben, Schuld zu tragen und somit als Einzige moralische Akteure zu sein.

Steele vergleicht den schwarzen Kampf gegen die „weiße Schuld“ mit der Art von Militanz eines Malcolm X, die in seinen Worten authentisch war, weil sie die Schwarzen aufforderte, sich von den Weißen abzuwenden und die geistigen und moralischen Mittel zu finden, um die Verantwortung für ihre Befreiung zu übernehmen. Die Opferkultur dagegen will die „Bindung an die eigene Verwundung“ nicht aufgeben, weil sie nicht auf die Schuld der anderen Seite verzichten will und sich so durch die Schuld des Täters selbst konstituiert. Sie will keine Rechnungen begleichen. Während Duelle oder Racheakte eine Rechnung begleichen und einen Schlussstrich unter ein Vergehen ziehen, verfügt die Opferkultur über keine vergleichbaren Mechanismen, um einen Verletzungskreislauf zu beenden. Die Opferrolle ist vielmehr Teil der eigenen Identität. Sie kann nicht zwischen der historischen Wahrheit und der historischen Wunde trennen, wie Dipesh Chakrabarty sagt. Die Identität wird durch die Erinnerung an die Wunde bestimmt und verlangt darum, dass der Täter die Erinnerung ebenfalls bewahrt.

Ich finde, das ist eine sehr kluge Beobachtung. In der Identitätspolitil wird die Opferrolle zum Teil der eigenen Identität. Es entsteht ein Teufelskreis: „Die Identität wird durch die Erinnerung an die Wunde bestimmt und verlangt darum, dass der Täter die Erinnerung ebenfalls bewahrt.“ Genau dieser Kreislauf wird vom Evangelium durchbrochen. Wer seine Identität „in Christus“ findet, muss sich mehr über die erlittende Schuld definieren. Er findet – mit Gottes Hilfe – sogar die Freiheit und Kraft, den „Verletzungskreislauf“ zu verlassen und den anderen aus seiner Schuld zu entlassen. „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern“ (Mt 6,12).    

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