Für Krister Stendahl und andere Vertreter der Neuen Paulusperspektive (siehe auch: Was ist die „Neue Paulusperspektive?“) geht es im Galaterbrief nicht um die Frage, wie ein Mensch mit Gott versöhnt wird, sondern vielmehr darum, unter welchen Bedingungen Heiden in das Volk Gott aufgenommen werden können.
Schon im „Paulus“ von William Wrede gehörte die Rechtfertigungslehre nicht in die Soteriologie. Sie erscheint bei ihm als Nebenkrater der apostolischen Missionstheologie. 1904 schrieb er:
Die Reformation hat uns gewöhnt, diese Lehre als den Zentralpunkt bei Paulus zu betrachten. Sie ist es aber nicht. Man kann in der Tat das Ganze der paulinischen Religion darstellen, ohne überhaupt von ihr Notiz zu nehmen, es sei denn in der Erwähnung des Gesetzes. Es wäre ja auch sonderbar, wenn die vermeintliche Hauptlehre nur in der Minderzahl der Briefe zum Worte käme. Und das ist der Fall; d. h. sie tritt überall nur da auf, wo es sich um den Streit gegen das Judentum handelt. Damit ist aber auch die wirkliche Bedeutung dieser Lehre bezeichnet: sie ist die Kampfeslehre des Paulus, nur aus seinem Lebenskampfe, seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum und Judenchristentum verständlich und nur für diese gedacht, – insofern dann freilich geschichtlich hochwichtig und für ihn selbst charakteristisch.
Bei N.T. Wright klingt es folgendermaßen: (Worum es Paulus wirklich ging, 2010, S. 151):
Die Frage, um die es in der Gemeinde von Antiochien ging, auf die Paulus im 2. Kapitel [des Galaterbriefes; Anm. R.K.] verweist, lautet nicht, wie Menschen in eine Beziehung zu Gott eintreten, sondern sie lautete: Mit wem darf man essen? Wer gehört zum Volk Gottes? Sind ehemalige heidnische Konvertiten Mitglieder im vollen Sinne sind oder nicht.
Stephen Westerholm hält in seinem hilfreichen Buch Justification reconsidered entgegen (zitiert nach Stephen Westerholm, Angriff auf die Rechtfertigung: Die Neue-Paulus-Perspektive auf dem Prüfstand, Oerlinghausen: Bethanien, 2015, siehe meine Rezension hier):
Wie können Sünder einen gnädigen Gott finden? Diese Frage ist für den modernen westlichen Menschen alles andere als typisch; doch Paulus weckte diese Frage mit seiner Botschaft überall, wohin er auch ging. Paulus aber war nicht dazu gesandt, einen Notstand zu beleuchten, sondern einer Welt, die unter dem Gericht Gottes steht, Rettung zu bringen. Seine Antwort lautete (in den Thessalonicherbriefen inhaltlich, wenn auch nicht ausdrücklich; in den Korintherbriefen ausdrücklich, wenn auch nicht vorherrschend; im Galaterbrief thematisch und in seinen weiteren Briefen regelmäßig): Sünder, für die Christus starb, werden von Gott für gerecht erklärt, wenn sie an Jesus Christus glauben.
„Wie können Sünder einen gnädigen Gott finden? Diese Frage ist für den modernen westlichen Menschen alles andere als typisch;“
So ist es. Aber warum? Weil der moderne westliche Mensch nicht an Gott glaubt? Oder weil er nicht an Auferstehung und ewiges Leben glauben kann?
Welche Rolle spielen Auferstehung und ewiges Leben bei der NPP? Kann ein Exeget behaupten, wenn er denn in Deutschland mit Zustimmung seiner Landeskirche christliche Theologie lehrt, dass ihn Auferstehung und ewiges Leben bei der Exegese nicht interessieren?
Ich habe gerade den Abschnitt über Rechtfertigung und Gerechtigkeit Gottes im Buch „Paulus – Ein Grundriss seiner Theologie“ von Michael Wolter, Dozent für NT an der Uni Bonn gelesen und kann diesen nur empfehlen. Er sieht die Rechtfertigungslehre zwar als ein soteriologisches Konstrukt des Paulus, sieht ihren eigentlichen Ort allerdings in der Ekklesiologie. Die Rechtfertigung des Sünders sei nach ihm keine Thematik der Christusverkündigung unter Ungläubigen, sondern gehöre in den Kontext der Besprechung des Evangeliums: „Die paulinische Rechtfertigungslehre hat ihren Ort im literarischen Kontext der Besprechung des Evangeliums und nicht im Kontext seiner Verkündigung. (…) Es handelt sich bei der paulinischen Rechtfertigungslehre zwar um eine soteriologische Theorie, doch hat sie ihren eigentlichen Ort zweifellos in der Ekklesiologie. Mit Hilfe der Soteriologie seiner Rechtfertigungslehre löst Paulus ein ekklesiologisches Problem. (…) Das, was die christliche Identität konstituiert, nämlich der Christus-Glaube, vermittelt auch die Zugehörigkeit zu dem im Abraham erwählten Volk-Gottes und gibt Anteil am Heil Gottes.“ Wolter schafft meiner Meinung nach eine… Weiterlesen »
@Niklas Gleitz: Wolters übernimmt in Anlehnung an die frührabbinischen Texte und Käsemann den Gedanken der Bundestreue auf: „Wenn in altestamentlichen und frühjüdischen Texten von Gottes Gerechtigkeit gesprochen wird, ist dabei immer von Gottes heilvollem Handeln zugunsten seines Volkes oder zugunsten des einzelnen Frommen die Rede“ Der Brief an die Römer, Bd. 1, 2014, S. 122). Das entspricht kaum dem biblischen Befund. Siehe dazu z.B. The Righteousness of God.
Liebe Grüße, Ron
Anders als Käsemann sieht er aber in der Gerechtigkeit Gottes ebenso die Heilstat Gottes im Sinne des genetivus auctoris als auch die Gerechtigkeit Gottes im Sinne einer Gabe der Gerechtigkeit. Dass die Gerechtigkeit Gottes als Heilstat mindestens nicht abwegig ist, macht m.M.n. der Befund aus Jes 40-66 deutlich.
Stephen Westerholm hat schon die richtige Antwort darauf gefunden. Ergänzend dazu noch ein paar Überlegungen meinerseits. Paulus wurde verfolgt, gefoltert, eingekerkert und später umgebracht. Warum hat er trotzdem weiter gemacht? Weil ihm so Fragen wie, mit wem darf man essen oder wer gehört zum Gottes Volk so außerordentlich wichtig waren? Dann muß er ja beklppt gewesen sein. Oder es ging ihm um etwas viel wichtigeres. Wie kommt der Mensch zu Gott? Dann macht das Ganze wieder Sinn. Ja, und dieser Paulus, da geht er nach Athen und wovon redet er? „Paulus aber stand mitten auf dem Areopag und sprach: Männer von Athen, ich sehe, dass ihr in jeder Beziehung den Göttern sehr ergeben seid. Denn als ich umherging und eure Heiligtümer betrachtete, fand ich auch einen Altar, an dem die Aufschrift war: Einem unbekannten Gott. Was ihr nun, ohne es zu kennen, verehrt, das verkündige ich euch. Der Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darin ist, er,… Weiterlesen »
Rechtfertigung ist und bleibt ein soteriologischer Begriff, der anzeigt, wie ein Mensch gerecht vor Gott stehen kann, nämlich durch die Gerechtigkeit Jesu. Allerdings zeigen Sie, Theophil, gerade mit dieser Stelle, dass Paulus eben in der Verkündigung des Evangeliums selten bis gar nicht mit der Rechtfertigung explizit argumentiert, sondern mit der Verkündigung des Werkes Jesu und dem Aufruf zur Buße und zum Glauben.
Die Rechtfertigungsbotschaft im Römer- und im Galaterbrief gebraucht Paulus, um ekklesiologische Probleme in den Gemeinden, nämlich die Exklusivität der Judenchristen, die die Heiden dazu zwingen wollten, Juden zu werden, um am Bund teilzuhaben. Paulus argumentiert dagegen, dass wenn die Judenchristen das machen würden, sie sich selbst dem Gericht unterstellen, denn dann würden sie ihre Gerechtigkeit aus dem Gesetz suchen und nicht aus Glauben. Da dies nicht möglich ist, weil die Rechtfertigung (soteriologisch!) allein aus Glauben kommt, fallen sie aus der Gnade. Wir müssen als trennen zwischen impliziten und expliziten Absichten der Rechtfertigungslehre.
@Niklas Gleitz
Ekklesiologie klingt nach Theologie, bewegt sich aber in den meisten modernen „theologischen“ Ausführungen allein im Bereich der Sozialpolitik. So ist das eine Mogelpackung.
„dass Paulus eben in der Verkündigung des Evangeliums selten bis gar nicht mit der Rechtfertigung explizit argumentiert, sondern mit der Verkündigung des Werkes Jesu und dem Aufruf zur Buße und zum Glauben.“
Das ist lustig! Gehört die Buße auch zur Ekklesiologie? Für den allein psychoanalytisch Denkenden wohl schon. Aber so ist das alles umsonst. An 1 Kor 15,14 kommt kein Theologe vorbei, wenn er sich denn noch als einen christlichen Theologen bezeichnen will.
@ Niklas Gleitz: Verlassen wir nun mal die Bücherstube und werden ganz praktisch. Paulus ist dort zum ersten Mal und hält eine Rede vor Fremden. Was soll der da nun abliefern? Eine Vorlesung über die Rechtfertigung (meinetwegen auch Soteriologie)? Wieviel Zeit hätte der dafür gehabt, bis die Leute eingeschlafen oder weggelaufen wären? Der hat ganz kurz und knapp wichtige Sachen verkündigt. Ich bin überrascht, was er alles in den wenigen Worten untergebracht hat. Und es spitz sich dann in der Verkündigung der Auferstehung Jesu zu. „… Werkes Jesu und dem Aufruf zur Buße und zum Glauben.“ Ich weiß nicht, was Sie unter christlicher Rechtfertigung verstehen, aber Jesus Werk ist sein Tod am Kreuz. Er starb für unsere Sünden, weil wir uns nicht von unseren Sünden erlösen können. Wir hätten alle den Tod verdient. Und daß der Tod tatsächlich besiegt wurde, wird durch seine Auferstehung bewiesen. Will ich mich mit Gott aussöhnen, will ich erlöst werden, dann sind dazu Buße und… Weiterlesen »
Lieber Gast2 und lieber Theophil, ich glaube, Sie verstehen mich ganz und gar falsch. Ich fühle mich irgendwie ein wenig zu Unrecht in die liberale bzw. neo-emergente (wenn es solch eine Ecke überhaupt gibt) gedrängt 🙂 Aber das nehme ich Ihnen nicht übel, denn die Grenzen sind ja doch schwammig… Ich unterschreibe alles, was Sie in ihren Posts gesagt haben voll und ganz (außer dass ich aus der Bücherstube heraus argumentiert habe.. wenn das so geklungen haben soll, dann soll man mir das nachsehen). @Gast2: Wo habe ich mich für solch ein sozial-politisches Konzept von Ekklesiologie ausgesprochen? Mit Ekklesiologie meine ich, dass Paulus mit der Rechtfertigung ekklesiologische Probleme anspricht und lösen möchte, OHNE dabei die Rechtfertigung als ein ekklesiologisches Konzept zu gebrauchen (wie es Wright m.M.n. oft tut, in dem er Rechtfertigung = Bundeszugehörigkeit setzt, das sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe, die man zwar nicht trennen, aber auch nicht gleichsetzen darf!). Ekklesiologische Probleme in der Hinsicht, weil sie das… Weiterlesen »
Lieber Niklas Gleitz, in jedem von uns steckt auch ein Liberaler – auch in mir. Es geht mir deshalb nicht um Schubladen, sondern um die Öffnung für das, was andere (abfällig) als Metaphysik, als Supranaturalismus, das Übernatürliche oder was auch immer bezeichnen. Christliche Theologie kommt ohne diese Öffnung nicht aus. Es gibt keine christliche Ekklesiologie ohne christliche Soteriologie. Das sollte frei flottierende Exegese als Korrektiv immer bedenken. Ohne Leib gibt es keine Glieder. Wer als Exeget die Dinge partout nur psychoanalytisch, sozialpolitisch, philosophisch deuten will, der soll zu den Psychologen/Psychiatern, den Soziologen, Politikwissenschaftlern oder Philosophen wechseln, aber (noch) gläubige Christen nicht weiter abschrecken. Liebe Grüße!
P.S. Ihre Worte an Theophil „dass Heiden und Juden gleichermaßen gerettet werden und deswegen ein Volk bilden.“ verstehe ich noch nicht ganz. Was meinen Sie damit?
@ Niklas: „ihr seid gerechtfertigt aus Glauben und nicht aus Werken, also glaubt an Christus!“ Hätten die Griechen ihn dann verstanden? Was sollen sie mit „der Gesalbte“ anfangen? Wozu denn Rechtfertigung? Er knüpft ja mit dem unbekannten Gott bei ihnen an. Stellt ihnen den hebräischen Gott vor. Den Schöpfergott, der so anders ist als die griechischen Götter. Er stellt da ja klare Unterschiede heraus. Damit konnten sie etwas anfangen. Und dann erzählt er ihnen vom Gericht Gottes und wie sie daraus entfliehen können. Der Brief an die Römer und die Galater ist ein Brief an Christen. Die kennen Christus schon, aber durch die verschiedenen Lehren sind sie vielleicht etwas verwirrt. Und da erklärt er ihnen, was ihr Glaube eigentlich bedeutet und was der Unterschied zum jüdischen Glauben ist. Ich bin oft auf Schülerfreizeiten gefahren und bei vielen anderen Gelegenheiten habe ich von Christus erzählt. Das ist gar nicht so einfach, zumal grundlegende Sachen heutzutage bei vielen nicht mehr vorhanden sind.… Weiterlesen »
Kann es sein, daß da bei Guido Baltes Einflüße durch die neue Paulus Perspektive zu entdecken sind?
http://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/christlich-juedischer-wurzelstoff-paulus-jude-mit-mission-von-guido-baltes/
Sieht fast so aus. Habe aber nichts von ihm gelesen.
Liebe Grüße, Ron
Die genaue Betrachtung, in welchem Kontext Paulus die Rechtfertigungslehre mit welcher textpragmatischen Absicht entfaltet, mag für die Analyse seiner Texte wichtig sein. Daraus jedoch abzuleiten, dass diese Lehre als eine rein kircheninterne Reflexion (zur Lösung von Gruppenproblemen) mit der missionarischen Verkündigung direkt nicht viel zu tun habe (und also in heutiger öffentlicher Predigt gar nicht zentral aufgegriffen zu werden braucht?), halte ich für eine zu weit gehende Schlussfolgerung. Die Aussagen etwa im Römerbrief sind in einer so wuchtigen Grundsätzlichkeit verfasst, dass es mir schwerfällt, sie nur als zweckgerichtete Argumentationshiflen aufzufassen. Wenn denn die Apostelgeschichte wirklich authentische Paulus-Verkündigung wiedergibt (wenn sie es tut: hat Lukas vielleicht unvollständig zitiert und bestimmte Akzente hervorgehoben?), dann kann man doch auch umgekehrt sagen: In seinen theologischen Briefen reift das bei Paulus erst zur vollen Erkenntnis aus, was er auf den Plätzen und an den Flüssen bei zufälligen Menschenversammlungen (vielleicht z.T. nur fragmentarisch – „anfixend“) von Christus gespredigt hatte. Einige oben genannte Argumente machen auf mich… Weiterlesen »
Rechtschreibfehler im Titel Ihres Beitrags „Paulinische Rechtfertigungslehre nur Missionstheologie?“
LG, KCB
Danke für den Hinweis. Korrigiert. Liebe Grüße, Ron