Richtet nicht!

Mbstexte193 theo deu a Seite 1„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“ (Mt 7,1), ist laut Erwin Lutzer der „meistzitierte Vers der Bibel“. Damit scheint klar zu sein, dass es Nachfolgern von Jesus Christus nicht erlaubt ist, andere oder anderes zu beurteilen. Doch so ganz einfach das mit dem Bedeutungsspektrum von „sondern, sichten“ (griech. κρίνω) jedoch nicht. Und der Kontext, in dem Jesus dieses Aussage macht, sollte ebenfalls beachtet werden.

Tanja Bittner schreibt:

Auf den ersten Blick scheint alles ganz klar. Jesus mahnt in der Bergpredigt: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 7,1). Was kann das anderes bedeuten, als dass sich Christen tunlichst eines Negativurteils über andere enthalten sollen, um selbst einem solchen zu entgehen? Was für eine positive Atmosphäre würde in unseren christlichen Gemeinden herrschen, wenn unser Umgang miteinander von purer Ermutigung geprägt wäre! Jeder Einzelne – wer auch immer er sein mag – würde sich ohne den Schatten eines Vorbehalts ganz genau so, wie er nun mal ist, angenommen fühlen. Entspricht das nicht einem Idealbild von Gemeinde, wie man es sich nur wünschen kann? Klingt das nicht nach typisch Jesus: Liebe wird ganz groß geschrieben?

Doch schon auf den zweiten Blick wird die Sache holpriger: Denn bereits hier in der Bergpredigt scheint sich Jesus selbst nicht an seine eigenen Vorgaben zu halten. Im Gegenteil, er spricht deutliche Negativurteile aus (z.B. Mt 5,20; 6,5; 7,15). Auch seine Nachfolger verbreiten nicht nur Ermutigung pur. Bei Bedarf nehmen Petrus (z.B. 2Petr 2,12–14) oder Paulus (z.B. 2Tim 2,16–17) kein Blatt vor den Mund und tun ihr Urteil über das Leben anderer kund. Tatsächlich kritisiert Paulus die Korinther sogar, weil sie es unterlassen haben zu urteilen (1Kor 5,2f; 6,2). Die Sache scheint etwas widersprüchlich zu sein.

Noch verwirrender wird das Ganze, wenn man feststellt, dass im Urtext jeweils ein- und dasselbe Wort verwendet wird: κρίνω (krinō). Was nun? Einerseits ist es mir als Christ offenbar untersagt, zu κρίνειν (krinein) – andererseits kann es auch falsch sein, es zu unterlassen?

Die Sympathiepunkte dürften sich wohl klar dem Verbot zuneigen. Erwin Lutzer vermutet gar, dass Mt 7,1 „der meistzitierte Vers der Bibel“ ist, noch vor Joh 3,16. Natürlich: Wie attraktiv kann schon eine Gemeinde mit Stasi-Flair sein – jeder beobachtet jeden, jeglicher Regelverstoß wird sofort angeprangert? Und gebietet es nicht bereits die Toleranz, erst recht aber die Liebe, jedem das Recht zuzugestehen, so zu leben, wie er es für richtig hält? Schließlich möchte ich auch nicht, dass mir jemand dreinredet. Andererseits müssen wir so ehrlich sein, diesen Gedankengang zu hinterfragen: Klingt hier wirklich der Geist der Bibel an? Oder bringt sich bei dieser Überlegung vielleicht doch eher unsere individualistisch geprägte Kultur zu Gehör?

Der erste und der zweite Blick reichen hier also nicht aus, wir müssen genauer hinsehen. Wenn man die ganze Bibel als Gottes Wort ernst nimmt, dann gilt uns offenbar wirklich beides. Wir sollen κρίνειν (krinein) und sollen es auch wiederum nicht. Unter welchen Vorzeichen ist aber was davon das Richtige? Wann ist κρίνειν (krinein) nötig, wann ist es zu unterlassen?

Die Untersuchung „Soll ich meines Bruders Hüter sein?: Vom Urteilen“ (MBS TEXTE, Theologische Akzente, 193, 2020, zuerst in;  Glauben und Denken heute, Nr. 24 (2/2019), kann hier heruntergeladen werden: mbstexte193_theo_deu_a.pdf.

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2 Kommentare
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Clemens Altenberg
3 Jahre zuvor

Kierkegaard:

Die Schrift lehrt: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet.“ Das ist als Ermahnung und Warnung gesagt, aber es ist zugleich eine Unmöglichkeit.

Markus Jesgarz
3 Jahre zuvor

Meine Meinung ist:  Die Bedeutung von Matthäus 7,1-2 ist: Urteile nicht heuchlerisch. Im Kommentar am 17.07.2019 von Markus Jesgarz steht am Ende: Im Beitrag: I Don’t Have Enough Faith to Be an Atheist (Ich habe nicht genug Glauben, um ein Atheist zu sein) https://static.crossway.org/excerpt/9781433506390-epdf.pdf von Norman L. Geisler und Frank Turek steht auf der Seite 404 und der Seite 405 von 450 in der Anzeige in der Mitte:  Christ: Das tue ich. Das Problem ist, dass Du nicht weißt, was er gesagt hat. Jesus sagte uns nicht, wir sollten nicht richten. Er sagte uns einfach, wir sollten nicht heuchlerisch urteilen. Er sagte: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn mit demselben Gericht, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit demselben Maß, mit dem ihr anderen zumesst, wird auch euch zugemessen werden.“ (Matthäus 7,1-2). Dann sagte er: „Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus dem Auge deines… Weiterlesen »

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