Roberto Simanowski: Fröhliche Wissenschaft – Abfall

415yLbNuxnL SX263 BO1 204 203 200Der Germanist Roberto Simanowski erzählt in seinem Buch Abfall die Algorithmisierung der Welt als Erbe der Aufklärung. Den Tod Gottes setzt er voraus. Trotzdem liefert er – dem Erbe der Postmoderne verpflichtet (große Antworten gibt es nicht mehr) – ein Buch mit geistreichen Beobachtungen und Denkanstößen.

Hier vier Zitate:

Das anfängliche Lob der (individuellen) Freiheiten und (demokratischen) Möglichkeiten des Internet ist der Kritik seiner Negativposten gewichen: Überwachung, Narzissmus, kollektive Einsamkeit, Self-Tracking, Filter Bubble, algorithmische Regulation –ganz zu schweigen von so gefährlichen Nebenwirkungen wie hyper-attention, power browsing, der Sucht nach instant gratification und der »fear of missing out« (FOMO). Dieser Abfall von den Utopien des Beginnens ist wohl die schmerzlichste Lesart des Titels, den dieses Buch über die neuen Medien trägt. (Kindle-Position 94)

Quantität ist die Währung des Populären, das im Reiche Facebook herrscht. Man bemisst den Wert der Menschen und Beiträge, auf die man hier trifft, nach ihrer Anzahl an Freunden, Shares und Likes. Die Frage ist nicht, welche Freunde man hat und wofür es Likes gab, sondern wie viele. Die Möglichkeit sprachlicher Kommentare hilft da wenig, denn 1. erschöpfen sich diese zumeist auf wenige Worte, 2. verblasst ihre Menge jeweils vor der Fülle an Klickbewertungen und 3. weiß jeder, der auf Facebook mal einen nuancierten Text angeboten hat, wie wenig das dort geliket wird. Die numerische Bewertung ist der Standard auf Facebook mit politisch bedenklichen Folgen. (195)

Der numerische Populismus ist dem postfaktischen Emotionalismus verwandt: begründungslose Likes sind die technische Variation der gebetsmühlenhaften Wiederholung haltloser Slogans. So wie im realen Leben eine Lüge, die oft genug erzählt wird, für viele Wahrheit ist, so gewinnt eine Meldung auf Facebook dadurch an Gewicht, dass sie Gewicht hat: Man klickt immer auf die Angebote mit der höchsten Zahl und befestigt so ihre Spitzenposition. Die Zahl ist ein Appell ans Gefühl, denn so viele können nicht irren, schon gar nicht, wenn meine besten Freunde darunter sind. (196)

Drei Jahrhunderte vor Lennon schrieb der französische Philosoph Blaise Pascal, dass die Menschen deswegen unglücklich seien, weil sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen. Mit sich allein gelassen würde der Mensch über die Mühen des Lebens und über seine Sterblichkeit nachdenken, »so dass er nun, wenn ihm das fehlt, was man Zerstreuung nennt, unglücklich ist«. Deswegen gehe man raus und jage Hasen; nicht weil man hungrig ist, sondern um die Zeit totzuschlagen. Ein Jahrhundert nach Pascal war das Zimmerproblem gelöst: Mit einem Buch konnte man sich in den eigenen vier Wänden zerstreuen, mit einer Lampe noch lange nach Sonnenuntergang. Mit dem Fernsehen ging das auch ohne extra Licht, seit den Privatsendern sogar durch die ganze Nacht. Und durchs Leben! Denn darauf kam es im 20. Jahrhundert immer mehr an. Pascal warb nicht für die Hasenjagd, sondern für Gott. In Gott finde das Sein zum Sinn, in der frohen Botschaft weiche die Angst vor der Stille dem Gefühl der Geborgenheit. Pascal fehlte noch deutlich die dreiste Leichtigkeit der Beatles. Was aber, wenn Gott tot ist, wie Nietzsche zwei Jahrhunderte nach Pascal verkündete? Was wenn auch keine philosophischen und politischen Erzählungen mehr den Sinn geben, den sie vor dem Aufstieg der Postmoderne und dem Niedergang des Realsozialismus noch beanspruchen konnten? Dann gibt es drei Möglichkeiten: Man richtet sich in der Aussichtslosigkeit ein, man reanimiert Gott oder man sucht nach einem Narkotikum, das sicher durch Nacht und Leben bringt. (1468-1480)

Die Hasenjagd des 21. Jahrhunderts findet im Verbund der sozialen und mobilen Medien statt. Die Alternative zum Priester ist der Programmierer. Die Moderne kann ihr Projekt, das mit der Rückkehr der Religion scheitern würde, nur durch die Flucht ins Technische retten: Indem sie »Rückbindung« in »Religion« als »Link« übersetzt und zum heilbringenden Medium nicht die Kanzel kürt, sondern das soziale Netzwerk. Dort ereignen sich die Begegnungen unserer Zeit im schwindelerregenden Takt der Updates. Dort feiert sich, in Anbetung unentwegter Gegenwart, die ewige Wiederkunft des Gleichen. Der Facebook-User entkommt, solange er das Kommunikationskarussell am Leben hält, nicht der Weltbejahung. (1510-1516)

Wenn Gott tot ist, wartet der Nihilismus oder die Zerstreuung via Facebook & Co. Was aber, wenn Gott ist?

Hier eine Besprechung des DLF:

 

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4 Kommentare
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ali
7 Jahre zuvor

Yuval Harari und sein Buch „Homo Deus“. Homo Deus? Das ist doch wirklich nichts neues. Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und was schlecht ist. Genesis 3.5. Es tut mir leid, aber bisher ist jede Hochkultur an ihrer Überheblichkeit gnadenlos gescheitert und weitgehend in die Vergessenheit geraten. Jede Kultur, die sich über die Gott gestellt hat, ist an dieserm Wahnsinn auch letztlich gescheitert. Das Ende der Hochnäsigkeit war immer das Gericht Gottes. Die einzigen Kulturen, die über Jahrtausende überlebt haben, waren die, die Gott gehorsam waren. Überlebt haben nie die selbsternannten Götter, sondern immer diejenigen, auf die von diesen gottgleichen Wesen heruntergeschaut wurde. Denn diese hatten nie viel und daher auch nie viel zu verlieren. Sie wußten um die Ewigkeit im Himmel. Immermehr denkende Menschen sind überzeugt, dass eine globale, demokratische Weltregierung mit weltübergreifenden Werten, Normen und Gesetzen dringendst notwendig wäre, um bspw. den Klimawandel oder den Missbrauch des technischen Fortschritts in den Griff zu bekommen. Sie… Weiterlesen »

Schandor
7 Jahre zuvor

Der letzte Absatz erinnert stilistisch an Sloterdijk, meinen Lieblingsdichterphilosophen. Wer im Ernst das Lachen lernen will, kommt nicht an ihm vorbei.
Facebook hatte in meinem Leben bislang die gleiche Bedeutung wie ein zertretener Kaugummi neben einer Mülltonne am Hafen in Marseille an einem Novemberabend kurz vor 22:30 Uhr, wenn im düsteren Nebel ferne Lichter blinken und das Nebelhorn eines Frachters klagt, der in den nächsten Stunden einläuft, um von eifrigen Zöllnern und deren Hunden nach Stoffen abgesucht zu werden in der Hoffnung, rechtzeitig zum Frühstück wieder zuhause zu sein, weil sie längst das Interesse an sogenannten „Funden“ verloren haben, die ihnen keinen müden Euro mehr einbringen für ihre unermüdliche Arbeit an Bord.

Roderich
7 Jahre zuvor

@Schandor:
Das war ein akuter Kandidat für „Kommentar des Jahres“ auf Theoblog. 🙂

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