Wenn die Neuronen überlegen

Nicht wenige Wissenschaftler neigen dazu, unser Gehirn zum eigentlichen Akteur und Strippenzieher unseres Selbst zu machen. Bringt uns diese Überhöhung des neurowissenschaftlichen Ansatzes weiter? Helmut Mayer stellt für die FAZ neue Publikationen zum Thema vor:

Das Gehirn hat, immer noch, Konjunktur. Man erkennt das unter anderem daran, dass mittlerweile noch die bescheidensten Einsichten in menschliche Verhaltensweisen selten ohne den Hinweis angebracht werden, dass die Hirnforschung irgendwie auch dafür spreche. Oder zumindest Aussicht bestehe, dass sie dafür sprechen werde, wenn sie nur noch ein bisschen genauer über die neuronalen Mechanismen Bescheid wissen wird. Vorsichtige Formulierungen sind dabei eher die Ausnahme, es überwiegen die Versicherungen, man habe mehr oder minder aussagekräftige hirnforscherliche Befunde doch eigentlich schon auf seiner Seite.

Und das gilt erst recht dann, wenn es um gar nicht mehr so bescheidene Thesen über menschliches Verhalten geht. Wenn etwa neurowissenschaftliche Befunde aufgeboten werden, um kulturkritischen Diagnosen ein wissenschaftliches Gepräge zu geben. Dann ist zum Beispiel das Für und Wider der digital abrufbaren Informationsflut im Handumdrehen in Aussagen über Arbeitsweise und Verarbeitungskapazitäten unseres Gehirns konvertiert. Oder die ewige Frage nach dem Unterschied der Geschlechter erhält ihre bündige Antwort durch schnittige Aussagen über das männliche und das weibliche Gehirn.

Mit konsolidierten neurowissenschaftlichen Befunden mag das zwar allenfalls nur am Rande zu tun haben, aber die Versuchung scheint einfach zu groß, alles über das Gehirn als unhintergehbare naturale Basis unserer Selbst- und Weltbewältigung laufen zu lassen. Wozu dann auch gehört, dass unser Gehirn sich selbständig macht. Bei nicht wenigen Neurowissenschaftlern rückt es nämlich zum eigentlichen Akteur auf. Was wir uns bis dahin gutgläubig selbst zuschrieben, nun soll es Sache des Gehirns sein, das hinter unserem Rücken ja auch dafür sorge, dass wir überhaupt die lebenspraktische Illusion eines Selbst hegen.

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