Luther: So wird Gott alle Menschen richten

In seiner Römerbriefvorlesung von 1516/17 erläuter Luther im Zusammenhang der Erörterung von Röm 2,15 das Jüngste Gericht wie folgt (Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516, 2017, S. 62–62):

So wie sie selbst aber vor sich selbst von sich selbst gerichtet werden durch ihr Gewissen, das ihnen Zeugnis gibt, und durch „die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen“, so werden sie auch durch dieselben Zeugen von Gott gerichtet werden. Denn sie richten sich nicht nach dem Urteil, das andere über sie fällen, und nach ihren Worten, ob sie lobend oder tadelnd sind, sondern nach ihren eigensten, innersten Gedanken, die so tief im Herzen sitzen, dass die Seele ihnen nicht entrinnen und ausweichen, sie auch nicht beschwichtigen kann, so wie sie’s mit Menschenurteil und Menschenwort vermag. So wird auch Gott alle Menschen nach diesen ihren innersten Gedanken richten, wird unser Innerstes enthüllen, so dass es keine Möglichkeit mehr gibt, sich nach innen in noch geheimere Schlupfwinkel zu flüchten; sondern es wird unausweichlich vor aller Augen entblößt und offen daliegen, wie wenn Gott sagen wollte: Siehe, ich richte dich nicht, sondern ich stimme nur deinem Urteil über dich selber zu und bekräftige es. Weil du anders über dich selbst nicht urteilen kannst, darum kann’s auch ich nicht tun. Also verdienst du nach dem Zeugnis deiner eigenen Gedanken und deines Gewissens entweder den Himmel oder die Hölle. So sagt der Herr: „Aus deinen Worten wirst du gerechtfertigt werden und aus deinen Worten wirst du verdammt werden (Mt 12,37). Wenn dies schon von den Worten gilt, wie viel mehr von den Gedanken, die doch viel geheimere und zuverlässigere Zeugen sind.

Was verband Adorno und Gehlen?

Wie kam es in den sechziger Jahren zu einer Nähe zwischen dem Linken Theodor W. Adorno und dem Rechten Arnold Gehlen? Thomas Wagner spürt in seinem Buch Abenteuer der Moderne der merkwürdigen Nähe der beiden Denker nach. Mark Siemons hat es für die FAZ gelesen und hervorragend besprochen.  

Unter anderem schreibt er: 

Das Buch steckt voller produktiv verwirrender Anekdoten, und es ist mit zahlreichen Vor- und Rückblenden so geschickt montiert und flüssig geschrieben, dass man von der ersten bis zur letzten Seite mit nicht nachlassender Neugier auf die nächste Volte gespannt bleibt. Etwa wenn Wagner die Kalte-Kriegs-Atmosphäre innerhalb des doch eigentlich als neomarxistisch geltenden Instituts für Sozialforschung schildert, wo sich Adorno demonstrativ vom „Galimathias“ des dialektischen Materialismus in der DDR absetzte. 1958 klagte Horkheimer bei Adorno einmal über einen „studentischen Propagandisten“, der am Institut „nur den Geschäften der Herren im Osten Vorschub“ leiste – gemeint war niemand anderes als der junge Habermas. In den frühen Fünfzigerjahren war das Institut sogar an der Vorbereitung der Wiederbewaffnung Westdeutschlands beteiligt; es erarbeitete eine Studie über die Auswahl demokratisch gesinnter Offiziere für die zu gründende Bundeswehr. Das Institut nahm da nur insofern Rücksicht auf seinen linken Ruf, als es das Projekt geheim hielt.

Schon die Ostberliner Szene, mit der das Buch beginnt, weckt die höchsten Erwartungen: Der marxistische Philosoph Wolfgang Harich und Manfred Wekwerth, Chefregisseur des Berliner Ensemble, hören da im Sommer 1965 atemlos die Aufzeichnung eines der Radiogespräche Adornos mit Gehlen. Die Pointe ist, dass die beiden auf der Seite des konservativen Gehlen und nicht der des Neomarxisten Adorno sind. Stabile Institutionen seien wichtig, damit die Einzelnen nicht entgleisen, während Emanzipierung der Individuen vom Institutionellen abzulehnen sei. Harich, so erfahren wir, war da schon lange Gehlen-Fan: In den Fünfzigerjahren hatte er noch darauf gehofft, dass Gehlen sich dem Kommunismus anschließt und ihm Bücher von Marx, Engels, Lenin, Stalin, Lucacs und Bloch geschickt. Er wollte ihn sogar dazu bewegen, einen Lehrstuhl in Ostberlin anzunehmen. Und Bertolt Brecht erhielt noch kurz vor seinem Tod von Harich Gehlens Buch „Urmensch und Spätkultur“, wo Brechts „Stilprinzip der Verfremdung“ lobend erwähnt wurde.

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Was ist rettender Glaube für John Piper?

John Piper betont in seinen Schriften seit vielen Jahren das Gefühlsleben des gläubigen Christen. Er steht mit dieser Pointierung in der Tradition von Jonathan Edwards. Ich war und bin dankbar für die damit verbundenen Impulse für das Glaubensleben.

In seinem Buch What Is Saving Faith? (#ad, dt. Was ist rettender Glaube?) untersucht Piper die Beziehung zwischen dem rettenden Glauben und der Liebe zu Christus genauer. Anhand von Dutzenden von Stellen aus dem Alten und Neuen Testament und unter Berücksichtigung des Zeugnisses führender reformierter Theologen vertritt er die umstrittene These, dass die Wertschätzung Christi zum Wesen des rettenden Glaubens gehört. Während der rettende Glaube im Protestantismus traditionell notitia (Wissen), assensus (Zustimmung) und fiducia (Vertrauen) einschließt, ergänzt Piper diese Anatomie also durch Affekte (oder die Liebe).

Pipers Glaubensanatomie nähert sich damit dem katholischen Verständnis an. Das dürfte auch ein Grund dafür sein, dass er sich explizit von der katholischen Lehre von der fides caritate formata abgrenzt. Fides caritate formata ist ein lateinischer Ausdruck, der in der katholischen Theologie eine zentrale Rolle spielt. Wörtlich übersetzt bedeutet er „Glaube, der durch die Liebe geformt ist“. Im Unterschied zum ungeformten Glauben (fides informis) schließt der geformte Glaube Hoffnung und Liebe mit ein. Zu finden ist diese Glaubensanatomie etwa im Konzil von Trient, wo das Wesen der Rechtfertigung beschrieben wird (Kap. 7, DH 1528–1531):

Daher erhält der Mensch in der Rechtfertigung selbst zusammen mit der Vergebung der Sünden durch Jesus Christus, dem er eingegliedert wird, zugleich alles dies eingegossen: Glaube, Hoffnung und Liebe. Denn wenn zum Glauben nicht Hoffnung und Liebe hinzutreten, eint er weder vollkommen mit Christus, noch macht er zu einem lebendigen Glied seines Leibes. 

Ist Piper die Abgrenzung von Trient überzeugend gelungen? Schon Harrison Perkins hat in seiner Rezenion von What Is Saving Faith? darauf hingewiesen, dass Piper etwas in den Glauben hineinzieht, was im reformierten Lager als Frucht des Glaubens verstanden wurde und wird. Auch die von ihm herangezogenen historischen Befunde helfen nicht weiter, denn:

Da Piper Glaubensakte als konstitutive Aspekte des Glaubens und nicht als dessen Auswirkungen oder Ergebnisse definiert, unterstützen nur sehr wenige seiner historischen Zitate seinen Standpunkt – wenn überhaupt. Sicherlich enthalten sie seine Formulierungen, aber sie erörtern in der Regel affektive Glaubensakte als Ergebnisse des Glaubens. 

Guy P. Waters ist in seiner wertschätzenden Buchbesprechung ähnlich skeptisch. Weder können Pipers exegetische Untersuchungen der einschlägigen biblischen Begründungstexte überzeugen, noch ist die notwendige Unterscheidung von Glaube und Liebe gelungen:

Piper hat völlig Recht, wenn er darauf besteht, dass Glaube und Wertschätzung Christi niemals voneinander getrennt werden dürfen. Aber es gibt einen anderen Fehler, dem WSF [What Is Saving Faith?] verfällt, nämlich die Vermischung von Glaube und Liebe. Das heißt, an einigen Stellen verwischt WSF tatsächlich die Grenzen zwischen Glaube und Liebe. Auf diese Weise versäumt es WSF, die biblische Integrität beider Gnaden zu wahren.

Diese Unschärfe hat Auswirkungen auf unser Verständnis der biblischen Lehre über die Rechtfertigung. Piper besteht zu Recht und wiederholt darauf, dass der Sünder allein auf der Grundlage der Gerechtigkeit Christi gerechtfertigt wird, die dem Sünder zugerechnet und allein durch den Glauben empfangen wird, unabhängig von den Werken des Gesetzes. Aber die Einführung der Wertschätzung Christi bzw. der Liebe zu Christus als ein Element des rettenden Glaubens, wie es WSF fordert, kompromittiert diese aufrichtig vertretene Überzeugung. Und während Piper sich bewusst und lobenswerterweise von der römischen Rechtfertigungslehre distanziert, distanzieren sich die These und die Argumentation von WSF weder ausreichend von Rom, noch stützen sie die reformatorischen Überzeugungen von WSF.

Der beste Weg ist, Glaube und Liebe weder zu trennen noch zu vermischen, sondern Glaube und Liebe zu unterscheiden. Der Gläubige muss Christus über alles schätzen, aber als notwendige Frucht und Beweis des rettenden Glaubens. Dieser Weg dient als heilsames Korrektiv für das seelsorgerliche Dilemma, das Piper zu Recht Sorgen bereitet, nämlich den weit verbreiteten Irrtum, man könne an Jesus Christus glauben, aber Jesus Christus nicht über alles lieben. Und er untermauert Pipers reformatorische Überzeugung, dass der Sünder allein durch den Glauben gerechtfertigt wird, unabhängig von den Werken. 

Kirchen haben 2024 mehr als eine Million Mitglieder verloren

Die Zahl der Kirchenaustritte ist im Jahr 2024 leicht zurückgegangen. Die Zahl der Austritte liegt jedoch weiterhin auf einem hohen Niveau. Die FAZ meldet:

Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben im Jahr 2024 zusammen mehr als eine Million Mitglieder verloren. Das teilten die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) am Donnerstag mit. Die Zahl der Mitglieder in der katholischen Kirche sank auf 19,77 Millionen; in der evangelischen Kirche sank die Mitgliederzahl auf 17,98 Millionen.

Die Gründe für den fortgesetzten Mitgliederschwund sind Kirchenaustritte sowie das zunehmend starke Auseinanderklaffen von Sterbefällen und Taufen. In der katholischen Kirche sank die Zahl der Kirchenaustritte von rund 403.000 im Jahr 2023 auf rund 322.000 im Jahr 2024, in der evangelischen Kirche sanken die Austritte im gleichen Zeitraum von rund 380.000 auf rund 345.000.

Die rekordhohen Austrittszahlen der vergangenen Jahre wurden damit nicht mehr erreicht, die Zahl der Austritte liegt aber weiterhin auf einem deutlich höheren Niveau als vor den Missbrauchsskandalen. Erstmals seit mehreren Jahren verzeichnete die evangelische Kirche zudem wieder höhere Austrittszahlen als die katholische Kirche. Anfang des vergangenen Jahres wurde allerdings auch die ForuM-Studie zum Missbrauch in der evangelischen Kirche veröffentlicht, die womöglich einen gewissen Effekt auf die Mitgliederentwicklung in der EKD hatte. Die ForuM-Studie zieht aber anders als die MHG-Studie für die katholischen Kirche aus dem Jahr 2018 keinen starken Anstieg der Austrittszahlen nach sich.

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Es wird weniger gelesen

Im einstigen Land der Dichter und Denker wird immer weniger gelesen. 27 Minuten pro Tag verbringen Personen ab zehn Jahren durchschnittlich mit dem Lesen gedruckter oder digitaler Medien, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag zu den Ergebnissen der Zeitverwendungserhebung 2022 anlässlich der Frankfurter Buchmesse mitteilte (vgl. hier).

Auf zwei Artikel, die diese Entwicklung indirekt belegen, möchte ich kurz hinweisen. 

David Brucklacher beschreibt in „Teuer erkaufte Ruhe“, dass Kleinkinder immer häufiger ein Smartphone in die Hand gedrückt bekommen. „Wo früher noch Kinderbücher, Kuscheltiere und Kartenspiele zum Einsatz kamen, greifen viele Eltern heute zu einem Trick, den die moderne Technologie ihnen seit ein paar Jahren ermöglicht: zur Smartphone-Hypnose.“ Doch digitalen Medien fördern das Lernen oder Lesen selbst dort nicht, wo Lernsoftware zum Einsatz kommt:

Das Gehirn junger Kinder befindet sich noch in der Entwicklung und kann den Unterschied zwischen der Realität und den konsumierten Medien nicht erfassen. „Es lässt sich aus Versuchen mit Erwachsenen und Jugendlichen sowie auch aus Tierversuchen ableiten, dass das Belohnungszentrum beim Medienkonsum stark angesprochen wird“, erklärt Margarete Bolten. Die akustischen und optischen Reize überfordern das Kind. In seiner Lebensrealität kommen sie in dieser Intensität normalerweise nicht vor.

Hier gibt es auch besonders großes Suchtpotential. Aus der Verhaltensforschung weiß man, dass das menschliche Gehirn besonders starke positive Reize abspeichert und wieder erfahren möchte. „Jüngeres Alter geht mit erhöhten Suchttendenzen gegenüber dem Smartphone-Gebrauch einher“, erläutert Christian Montag. Das liege daran, dass Kinder sich selbst noch nicht regulieren könnten. „Sie können nicht auf dieselben hemmenden und unterdrückenden Mechanismen zugreifen wie Erwachsene“, sagt der Professor. Kinder seien der Versuchung also deutlich stärker ausgesetzt, immer weiter zu schauen, und dadurch anfälliger für Verhaltenssuchten, sagt auch Psychologin Bolten.

Uwe Ebinghaus führt in „Ist der Campus verloren?“ (FAZ, 26.03.25, Nr. 72, S. 11) aus, wie auf dem Geländer der Universitäten die Buchläden verschwinden. Seit der Corona-Pandemie kam es „zu Umsatzeinbrüchen von bis zu 70 Prozent, viele etablierte Geschäfte wie die Uni-Buchhandlung Schaten in Bochum schlossen ihre Türen“. „Die Zeit der Standardwerke und Bücherleselisten sei vorbei“, sagt Philipp Neie, der Geschäftsführer einer Universitätsbuchhandlung in Bonn.  Aus seiner Sicht „haben Buchhandlungen auf dem Campus künftig nur noch eine Überlebenschance, wenn sie sich als ‚Eventlocation‘ mit Café, Lesungen und Musik etablieren könnten“. Peter Stobbe, Leiter des Uni-Buchladens in Bochum, habe „früher zu Beginn des Wintersemesters an Philologiestudenten 500 Reclam-Klassiker verkauft, heute seien es „nur noch 30“.

Hans Peter Richter, der einen auf Jura und Wirtschaftswissenschaften spezialisierten Fachbuchverlag in der Nähe von Kiel führt, bestätigt die stark zurückgegangene Nachfrage. Hätten Buchhandlungen früher in den Wirtschaftswissenschaften drei bis vier Regale mit Fachbüchern vorgehalten, sei es heute noch ein halbes. Vor allem Einführungen verkauften sich nicht mehr, die Onlineangebote der Unis seien einfach zu gut geworden. Komplette Vorlesungen würden seit Corona online gestellt und seien zum Teil bundesweit verfügbar. Lediglich seine stark spezialisierten Buchreihen hielten sich stabil.

Das Fachbuch für Studenten ist offenbar so gut wie tot – man kann das akzeptieren und sich dennoch fragen, was das eigentlich ist, ein Campus ohne Buchhandlung und ohne Studenten, die auch mal ein ganzes Buch lesen. Handelt es sich um die neue Normalität oder nicht doch eher um die beklagenswerte Schwundstufe dessen, was einmal als akademisches Leben galt? 

Herman Ridderbos: Die Begründung des Glaubens

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Die gerade erschienene Neuauflage des Buches Begründung des Glaubens (Verbum Medien, 2025) des Neutestamentlers Herman Ridderbos erschien erstmalig 1955 als Heilsgeschiedenis en Heilige Schrift van het Nieuwe Testament. Es folgten drei englischsprachige Auflagen mit dem Titel Redemptive History and the New Testament Scriptures in einem presbyterianischen Verlag. Sowohl die niederländische als auch die englischen Ausgaben enthalten einen zweiten Teil über die Autorität des Neuen Testaments, der in der deutschen Ausgabe von 1963 leider fehlt. Bei der Neuauflage haben wir daher nicht nur die alte Übersetzung an einigen Stellen erheblich überarbeitet, sondern auch den bisher fehlenden zweiten Teil über die Autorität des Neuen Testaments übersetzt und eingefügt.

Worum geht es in diesem Buch?

Ridderbos geht es in Begründung des Glaubens nicht – wie man aufgrund des Titels vermuten könnte – um die Verteidigung der christlichen Religion. Er erörtert vielmehr die Frage, mit welchem Recht der christliche Glaube Offenbarungswahrheit in Anspruch nimmt. Er diskutiert die Bedeutung der Schrift, ihre Kanonizität und die Eigenart ihrer Autorität.

Für den Leser ist es hilfreich, zu wissen, dass die Arbeit in einer Zeit entstand, in der es sehr verbreitet war, den biblischen Schriften lediglich einen menschlichen Zeugnischarakter zuzugestehen (vgl. z.B. Karl Barth o. Emil Brunner). Demnach komme der Bibel selbst keine Offenbarungsqualität zu, da sie nur ein menschliches und damit gebrechliches Zeugnis der göttlichen Offenbarung sei. Aus diesem Grund stand der kritischen Arbeit am „Schriftzeugnis“ nichts im Weg, was folglich die Kanonkritik und allgemein die historisch-kritische Forschung am Neuen Testament rechtfertigte und beflügelte.

Herman Ridderbos greift die vielfältigen damit zusammenhängenden Fragestellungen auf und legt schließlich eine eigenständige Antwort vor. Er vertritt die Auffassung, dass die Autorität des Kanons weder in der Anerkennung des Kanons durch die Kirche noch in der Erfahrung des Gläubigen mit dem Kanon liegt. Jeder Versuch, die Autorität des Kanons mit anderen Mitteln als dem Kanon selbst zu begründen, öffnet nach Ridderbos einer subjektivistischen und willkürlichen Argumentation Tür und Tor. Ebendeswegen ist für Ridderbos der neutestamentliche Kanon selbst die Offenbarung Gottes für sein Volk, da er die verbindliche schriftliche Verkündigung der Worte und Taten Gottes in Christus darstellt, die durch die göttlich beauftragten Apostel kundgetan wurden. Als solcher gehört der Kanon zum Heilshandeln Gottes in der Geschichte und erhält genau hierdurch seine bindende Autorität.

Das klingt dann so: 

Zunächst erscheint es etwas gewaltsam, eine Verbindung zwischen Heilsgeschichte und neutestamentlichem Kanon herstellen zu wollen. Es ist ja nirgendwo im Neuen Testament von einem Kanon als abgeschlossener Einheit von Schriften die Rede. An keiner Stelle hören wir von einem Auftrag, bestimmte Schriften zusammenzustellen, die der Kirche auf ihrem Weg durch die Geschichte als Richtschnur dienen sollen. Der Kanon ist – so scheint es jedenfalls – dem Heilshandeln Gottes in Jesus Christus a posteriori hinzugefügt. Er kam erst dann zum Zuge, als die großen Heilstaten Gottes, die Fleischwerdung Jesu Christi, seine Auferstehung, die Himmelfahrt, die Ausgießung des Heiligen Geistes schon längst der Vergangenheit angehörten. So betrachtet ist es nicht verwunderlich, dass sich die gegenwärtige Literatur – die auf den historischen Charakter der neutestamentlichen Offenbarung so starken Nachdruck legt – so wenig mit der Bedeutung beschäftigt, die das Neue Testament als literarische Größe in diesem Heilshandeln einnimmt. Es scheint wirklich so, als ob die Heilige Schrift des Neuen Testaments erst nach der großen Offenbarungszeit auftrete und sie deswegen in der Kirchengeschichte behandelt und dementsprechend beurteilt werden müsse. Doch ist dies nur zum Teil wahr. Gewiss gehört die Festlegung des Kanons als abgeschlossene Einheit von 27 Büchern zur Kirchengeschichte. Die Frage ist aber, ob das auch ob das auch vom Kanon in qualitativem Sinne gilt; genauer gesagt: ob dasjenige, was die Kirche veranlasst hat, einen schriftlichen und geschlossenen Kanon als Norm des Glaubens anzuerkennen, seinen Grund nur in der Geschichte der Kirche selbst oder auch in der Heilsgeschichte findet. Es geht hierbei nicht um das Wort „Kanon“, das im Neuen Testament nur wenige Male vorkommt und dort in sehr allgemeiner Form. Es geht um die sachliche Autorität, die den in den Kanon aufgenommenen Schriften von Anfang an in der Kirche zuerkannt wurde und die dann auch – vor allem im Westen – den kirchlichen Gebrauch des Namens „Kanon“ im Sinne von „Maßstab, Regel, Norm für Glaube und Leben“ bestimmt hat.

Von dieser Autorität gilt, dass sie ihren Ursprung im Herzen der Heilsgeschichte hat. Es ist die Tat Jesu Christi selbst, die hierin sichtbar wird, und das nicht allein deswegen, weil er als der Gesandte des Vaters und als der Sohn Gottes Träger göttlicher Vollmacht war und man daher sagen kann, dass Gott sich in Christus der Welt gegenüber als Kanon erwiesen hat. Tatsächlich hat Christus zur Mitteilung und Überlieferung dessen, was in der „Fülle der Zeit“ geschehen ist, was gesehen und gehört wurde, die formale Autoritätsinstanz geschaffen, auf die sich Ursprung und Maßstab des Evangeliums für alle Zukunft gründet.

Das Buch kostet 12,90 € und kann bei Verbum Medien oder überall im Buchhandel bestellt werden.

Orientierung in den Wirren der Dekonstruktion

Christopher Talbot beschreibt in dem Aufsatz „‚The Sun Came Out and the Song Came‘: Francis Schaeffer and Deconstructionist Spirituality“ (WTJ, Bd. 85, Ausgabe 2, 2023, S. 309–322) Francis Schaeffers tiefe Zweifel am christlichen Glauben. Diese Phase seines Lebens führte freilich nicht zum Bruch mit dem Christentum, sondern zu einer geistlichen Erweckung. Periode der Dekonstruktion können auch damit enden, dass der Gottesglaube gestärkt wird.

Das Fazit lautet: 

Schaeffers Krise führte nicht dazu, dass das Pendel zu einer anderen Art von Christentum oder gar keinem Christentum ausschlug, sondern dazu, dass er sowohl die intellektuelle als auch die spirituelle Realität des historischen christlichen Glaubens bejahte. Schaeffer hatte seine eigene spirituelle Krise durchlebt und das Christentum als Ganzes mit der Bereitschaft bewertet, es völlig zu verwerfen. Dennoch überstand er diese Zeit des tiefen Zweifels mit einem neu entfachten Eifer für die Wahrheit des christlichen Glaubens. Sein eigenes Engagement, seine apologetische Methode und seine Sicht des kirchlichen Zeugnisses im zwanzigsten Jahrhundert zeugen von einem Menschen, der sich mit Zweifeln auseinandergesetzt hat und sich um die kümmert, die ebenfalls zweifeln.

Schaeffer engagierte sich nicht für die Dekonstruktion, sondern orientierte sich selbst und die Menschen, denen er diente, am Wiederaufbau – daran, den christlichen Glauben als wahr für das ganze Leben zu sehen. Er sah das historische Christentum als etwas Ganzheitliches und Absolutes. Er erlebte tiefe Zweifel, und er diente konsequent denen, die zweifelten, während er gleichzeitig auf den unendlichen, persönlichen Gott hinwies, der in der Tat da ist.

Schaeffer war nicht perfekt und bietet kein makelloses Modell. Dennoch verstand er das Christentum als etwas, das man ganz annehmen oder ganz ablehnen kann. Dies zeigte sich in seiner Apologetik, die eine ganze Welt- und Lebensanschauung bot, die überprüft und getestet werden konnte. Er setzte diese überzeugende Apologetik mit einer Fülle von Mitgefühl um. Schließlich verdeutlichte er konsequent den wahren christlichen Standpunkt und versuchte, das wahre Christentum von allem unnötigen oder schädlichen kulturellen Ballast zu befreien. Indem er diese Elemente konsequent umsetzte, bietet Francis Schaeffer uns heute eine überzeugende Vision dafür, wie wir denen dienen können, die sich in den Wirren der Dekonstruktion befinden, eine Vision, die aktueller ist denn je. Seinem Modell folgend können wir diejenigen, die geistliche Zweifel erleben und daraus hervorgehen, dazu bringen, zu sagen: „Allmählich kam die Sonne heraus und das Lied kam.“

Die Abdankung der Transzendenz

Peter L. Berger schreibt über den (angeblichen) Verlust der Transzendenz in unserer modernen Kutlur – letztlich in der Tradition von Schleiermacher stehend (Auf den Spuren der Engel, 1991, S. 20): 

Die Entmachtung oder Abdankung der Transzendenz hat verschieden getönte Reaktionen ausgelöst: prophetischen Zorn, tiefe Trauer, Triumph – oder auch nur eine von keinerlei Gefühl getrübte Sachlichkeit. Der konservative Wortführer der Religion, der ein gottloses Zeitalter verdonnert, der „fortschrittliche“ Intellektuelle, der es willkommen heißt, und der kühle Analytiker, der es lediglich registriert, haben jedoch eines gemeinsam: sie halten diese Lage in einer Zeit, in der sich das Göttliche – mindestens in seinen klassischen Formen – in den Hintergrund menschlicher Belange und Vorstellungen zurückgezogen hat, für unausweichlich.

Das Wort „übernatürlich“  (oder auch „transzendent“) ist zu Recht auf Kritik aus den verschiedensten Lagern gestoßen. Religionshistoriker und Kulturanthropologen weisen darauf hin, daß es eine Ieilung der Wirklichkeit suggeriert: ein geschlossenes System rational faßbarer „Natur“ und, jenseits und außerhalb, ein geheimnisvolles Irgendwo. Eine solche Vorstellung ist für die Moderne bezeichnend und führt sogleich in die Irre, wenn man mit ihr an primitive oder archaische Kulturen herangeht. Alttestamentler bemängeln, das Wort „übernatürlich“ werde der Konkretheit und Historizität der jüdischen Religion nicht gerecht, christliche Theologen, daß es zu einer der Inkarnations-, wenn nicht schon der Schöpfungslehre innewohnenden Weltbejahung im Widerspruch stehe. Dennoch trifft es, vor allem in seiner alltäglichen Bedeutung, eine fundamentale Kategorie der Religion: nämlich die Überzeugung oder den Glauben, daß es eine andere Wirklichkeit gibt, und zwar eine von absoluter Bedeutung für den Menschen, welche die Wirklichkeit unseres Alltags transzendiert. Diese Grundvorstellung von Wirklichkeit, nicht nur von irgendeiner ihrer historischen Varianten, ist es, was angeblich in der modernen Welt abgestorben oder im Absterben begriffen ist.

Karl Barth: Das Problem der absichtlichen Schwangerschaftsunterbrechung

Karl Barth schreibt in seiner Kirchlichen Dogmatik über die Abtreibung Karl Barth (KD, III, 1993, S. 473–474): 

Wir erwägen als erstes das Problem der absichtlichen Schwangerschaftsunterbrechung (abortus, Abtreibung der Leibesfrucht). Sie kommt da in Frage, wo eine Zeugung und Befruchtung stattgefunden hat, die Geburt und Existenz eines Kindes aber aus irgend einem Grunde als unerwünscht erscheint oder geradezu gefürchtet wird. Es kommen als Täter in Betracht: die Mutter, die den Akt selbst vollzieht oder doch wünscht oder doch zuläßt, allerlei ihr mehr oder weniger sachkundig beistehende Dilettanten, der wissenschaftlich und technisch geschulte Arzt endlich, als Mitverantwortliche eventuell der Vater, Angehörige oder andere Drittpersonen, die den Vollzug dieses Aktes erlauben, fordern, ermöglichen, begünstigen, in einem weiteren, aber nicht minder strengen Sinn auch die Gesellschaft, deren Verhältnisse und deren Geist direkt oder indirekt nach solchen Akten ruft, deren Gesetze sie vielleicht zulassen. Die angewendeten Mittel, unter denen es ganz primitive und relativ vollendete gibt, können bei unserer Fragestellung zunächst keine Rolle spielen. Wir haben auf alle Fälle festzustellen, daß es sich für diesen ganzen Täterkreis einwandfrei und im Vollsinn des Wortes um Tötung menschlichen Lebens handelt. Das ungeborene Kind ist nämlich vom ersten Stadium an ein Kind, ein noch keimender, noch unselbständig lebender Mensch, aber ein Mensch, kein Etwas, nicht nur ein Teil des Mutterleibes.

Der Embryo besitzt Eigengesetzlichkeit, ein eigenes Gehirn und Nervensystem, einen eigenen Kreislauf. Sein Leben wirkt auf das der Mutter ein, wie das ihrige auf das seine. Er kann seine eigenen Krankheiten haben, an denen die Mutter keinen Anteil hat. Er kann umgekehrt auch bei schwerer Krankheit der Mutter völlig gesund sein. Er kann sterben, während die Mutter weiterlebt. Er kann auch seinerseits nach dem Tode der Mutter eine Weile weiterleben und eventuell durch einen rechtzeitigen Eingriff in deren Leiche gerettet werden. Kurz: er ist ein menschliches Lebewesen für sich. …

Wir haben uns also aller weiteren Überlegung vorangehend einzuschärfen: wer keimendes Leben vernichtet, der tötet einen Menschen, der wagt also jenes wahrhaft Ungeheuerliche, über Leben und Tod fremden, mitmenschlichen Lebens zu verfügen, das Gott gegeben, das wie sein eigenes nicht ihm, sondern Gott gehört. Er will (und muß es verantworten, ob es so ist) im Auftrage Gottes handeln, indem er jedenfalls über die zeitliche Gestalt dieses mitmenschlichen Lebens mit seiner Tat das letzte Wort zu sprechen wagt. Wer immer hier direkt oder indirekt beteiligt ist, muß zweifellos das verantworten.

Wieder muß hier zuerst und vor allem das große Halt! des göttlichen Gebotes gehört werden. Ist das zu verantworten? Darf, muß das sein? Was auch gegen die Geburt und Existenz eines Kindes sprechen mag: was kann es dafür, daß es da ist? Was hat es an seiner Mutter oder an all den Anderen verschuldet, daß man ihm nun sein keimendes Leben nehmen, es mit dem Tode bestrafen will? Müßte nicht schon seine völlige Wehr- und Hilflosigkeit, müßte nicht auch die Frage: wen man da vielleicht tötet, wem man da eine Zukunft versagt, bevor er geatmet und das Licht der Welt erblickt hat, zuerst der Mutter und dann all den Anderen die Waffe aus der Hand ringen, den Willen zu ihrem Gebrauch durchkreuzen?

Männerarbeit: Mehr als nur Rechentschaftsstrukturen

Samuel James hinterfragt in seinem Artikel „Why Christian Men Need Friendship, Not Just ,Accountability’“ die „Rechenschaftskultur“, die sich christlichen Männerkreisen ausgebreitet hat. Er plädiert nicht dafür, Rechenschaftsverhältnisse, in denen man etwa Sünden bekennt, aufzukündigen. Er warnt jedoch davor, das Miteinander von Männern darauf zu reduzieren. Vielmehr brauche es eine Wiederbelebung von echten, geistlichen Männerfreundschaften:

In unserer Zeit verbringen viele Männer einen Großteil ihrer wachen Stunden damit, allein auf einem Computer herumzuhämmern. Sie kehren in eine leere Wohnung zurück und entspannen sich mit Videospielen oder Streaming, lassen sich ein billiges (einsames) Abendessen liefern, bevor sie ihren Zyklus am nächsten Tag wieder aufnehmen. 

Wie um alles in der Welt könnte ein so junger Mann nicht von einer virtuellen Verführerin manipuliert werden? Vergleiche das mit der Vision in Hebräer 10, 23–25, NGÜ: „Ferner wollen wir unbeirrbar an der Hoffnung festhalten, zu der wir uns bekennen; denn Gott ist treu und hält, was er zugesagt hat. Und weil wir auch füreinander verantwortlich sind, wollen wir uns gegenseitig dazu anspornen, einander Liebe zu erweisen und Gutes zu tun. Deshalb ist es wichtig, dass wir unseren Zusammenkünften nicht fernbleiben, wie einige sich das angewöhnt haben, sondern dass wir einander ermutigen, und das umso mehr, als – wie ihr selbst feststellen könnt – der Tag näher rückt, ´an dem der Herr wiederkommt`.“ 

Paulus will damit sagen: Männer, ihr seid wichtig. Eure Brüder brauchen euch. Ihr könnt ihnen dabei helfen, durchzuhalten. Eure Brüder brauchen euch, um sie zu Liebe und guten Werken anzuspornen. Eure Brüder brauchen euch, um sich mit euch zu treffen. Sie brauchen euch, um sie zu ermutigen. Und sie brauchen dich, um sie daran zu erinnern, dass dieses Leben nicht alles ist, was es gibt. Wir könnten es so formulieren: Wir könnten es so formulieren: Nur diejenigen, die wirklich dazugehören, können zur Rechenschaft gezogen werden.

Mehr: www.digitalliturgies.net.

VD: TC

Wofür es sich zu kämpfen lohnt

Pastor Matthias Mockler hat für IDEA das Buch Wofür es sich zu kämpfen lohnt – und wofür nicht: Ein Plädoyer für theologische Triage von Gavin Ortlund rezensiert. Hier ein Auszug:

Der Streit um Lehrmeinungen ist heute bei vielen Christen verpönt. Sie sagen: „Das spaltet nur und schadet der Einheit, die Jesus für uns will!“ Gleichzeitig gibt es auch Christen, die sehr streitlustig sind. Selbst Randthemen der Bibel machen sie zu grundlegenden Bekenntnisfragen. In seinem Buch „Wofür es sich zu kämpfen lohnt – und wofür nicht“ zeigt der US-Pastor Gavin Ortlund einen besseren Weg: Streit ist erlaubt und manchmal sogar nötig. Die Frage ist allerdings: Für welche Themen kämpfen wir – und mit welcher Haltung tun wir es? Dabei ist Ortlund nicht auf Streit aus. Eines seiner Hauptanliegen ist es, unnütze Spaltungen unter Christen zu verhindern. Die theologische Zersplitterung schade der Kirche und schwäche sie in ihrer Mission. Und doch gibt es Themen, die sind so zentral, dass Kompromisse einer echten geistlichen Einheit schaden.

Anhand vieler Beispiele und persönlicher Zeugnisse hilft Ortlund dem Leser, wichtige Lehrmeinungen von weniger wichtigen zu unterscheiden. Diejenigen, die ungern streiten, bringt er zum Nachdenken: Gibt es theologische Fragen, in denen ich mich klarer positionieren müsste? Denen, die zu viel streiten, hält Ortlund den Spiegel vor: Wenn dir Gottes Wort so wichtig ist, wie hältst du es dann mit seinem Ruf zur Liebe und Einheit in der Gemeinde?

Mehr: www.idea.de.

Australien: Stellungnahme zu Vorschlägen für eine Reform des Abtreibungsrechts

Die Anglikanische Diözese von Sydney (Australien) hat auf Vorschläge zur Reform des Abtreibungsrechts reagiert. Im Fall, dass der Gesetzesentwurf verabschiedet würde, die dies substantielle Auswirkungen für das Gesundheitssystem und die Gewissensfreiheit von Ärzten.

Ich zitiere:

Das Sozialkomitee der anglikanischen Diözese Sydney äußert gemeinsam mit dem Erzbischof von Sydney, Kanishka Raffel, ernste Bedenken über den Gesetzesentwurf 2025 zur Reform des Abtreibungsrechts (Zugang zur Gesundheitsversorgung), der von der grünen Abgeordneten Dr. Amanda Cohn eingebracht wurde. Wir haben an den Premierminister von NSW, den Oppositionsführer und den Vorsitzenden der Nationals geschrieben und sie aufgefordert, sich dem Gesetzentwurf zu widersetzen.

Dieser Gesetzentwurf befasst sich nicht mit der Rechtmäßigkeit der Abtreibung, die bereits in den bestehenden Gesetzen geregelt ist, sondern zielt darauf ab, die Abtreibungsdienste auf Kosten der Einschränkung der Gewissens- und Religionsfreiheit der Bürger von NSW zu erweitern.

Im Falle einer Verabschiedung würde Dr. Cohns Gesetzentwurf dem Gesundheitsminister die Möglichkeit geben, öffentliche Gesundheitseinrichtungen zur Bereitstellung von Abtreibungsdiensten anzuweisen. Außerdem würden Ärzte, die eine Abtreibung aus moralischen Gründen ablehnen, verpflichtet werden, ihre Patienten an andere Ärzte zu überweisen, die den Eingriff vornehmen.

Diese Änderungsanträge verletzen die Freiheiten der Gläubigen. Religiöse Gesundheitsorganisationen und Einzelpersonen müssen die Freiheit haben, nach ihren religiösen Überzeugungen zu handeln. Der Gesetzentwurf würde sie dazu zwingen, entweder direkt an Abtreibungsdiensten teilzunehmen oder Patienten an andere zu verweisen, was für viele ein moralisches Dilemma darstellt. Wenn das Gesetz in Kraft tritt, könnten christliche Gesundheitsfachkräfte und -organisationen gezwungen werden, gegen das Gesetz zu verstoßen, ihre Überzeugungen zu verletzen oder ihre Aufgaben aufzugeben.

Diese Entwicklung könnte auf uns in Deutschland auch noch zukommen. Ich befürchte, dass keine der großen Kirchen hierzulande so scharf reagieren würde, wie es notwendig wäre.

Hier der gesamte Brief: Statement_on_Abortion_Law_Mar_25.pdf.

Glaubenswachstum bei Calvin

Dr. Ralf Wüstenberg hat im Jahr 2003 einen Vortrag über das Heiliungskonzept von Johannes Calvin referiert (veröffentlicht als Ralf K. Wüstenberg, „Wachstum im Glauben? Eine Analyse der Rede vom „Fortschreiten„ in Calvins ‚Institutio‘“, Neue Zeitschrift für Systematische Theologie 46 (2004): S. 264–279). Er hat verschiedene Lesarten einer progressiven Heilung gegenübergestellt, und zwar: 

  1. Eschatologisches Gezogenwerden;
  2. Wachstum als quantitative Mehrung;
  3. Wachstum als Vertiefungsbewegung.

Hier sein Ergebnis: 

Aus der bisherigen Analyse lassen sich drei Typen des Wachstumsgedankens unterscheiden: Wachstum als eschatologisches Gezogenwerden (Typ 1), Wachstum als quantitative Mehrung (Typ 2) und Wachstum als Vertiefungsbewegung (Typ 3). Diese Typen sind nicht deckungsgleich mit den drei Aspekten im Begriff Fortschreiten. Eher spitzen die beiden ersten bestimmte Momente in den analysierten Teilaspekten zu. Auf diese Akzentuierungen möchte ich meine kritischen Schlussbemerkungen beschränken.

Typ 1, Wachstum als eschatologisches Gezogenwerden, akzentuiert – wie soeben gesehen – das Ziel des Glaubensweges. Der finale Aspekt wird im Fortschrittsgedanken zugespitzt, indem ganz auf die freudige Erwartung von Tod und Auferstehung abgestellt wird. Die analysierte Funktion des eschatologischen Aspekts, nämlich den Gedanken vom Wachstum angemessen einzubetten, ihn im „Schon Jetzt“ in Grenzen und für das „Noch Nicht“ offen zu halten, wird verschoben: Alles läuft nun steil auf das Kommende zu. Zutreffend ist, wie erwähnt, dass dieses Moment im Fortschrittsgedanken bei Calvin begegnet. Angesichts der Alternative ‚nach vorn schauen‘ / ‚zurückschauen‘ kann ich mich aber nicht mit Faber für die erstere Haltung als die für die Lehre des Reformators bestimmende aussprechen. Denn mit der Akzentuierung des Zielgedankens im eschatologischen Aspekt droht der ethische Aspekt im Fortschrittsgedanken Calvins verdunkelt zu werden. Wenn alles nur noch steil auf das Ziel zuläuft, dann spielt der Blick zurück auf Schuld und Verantwortung nur noch eine Nebenrolle.

Typ 2, Wachstum als quantitative Mehrung, begegnete in der Abhandlung des soteriologischen Aspekts im Fortschrittsbegriff und trat uns dann noch einmal im ethischen Aspekt entgegen. Wachstum bezieht sich einmal auf ein faktisches Mehrwerden von Glauben. Hier ist der Glaube wie ein Samenkorn vorgestellt, das zu keimen beginnt. Wachstum bezieht sich zum anderen auf ein faktisches Wenigerwerden dessen, was den Glauben behindert. Hier lautet die Vorstellung: Der Heilige Geist setzt immer weiter seine Herrschaft gegenüber der Sünde durch. Beide Vorstellungen beschreiben Wachstum als faktische Erweiterungsbewegung. Wo der quantitative Aspekt in den Wachstumsgedanken hineinkommt, droht unter der Hand der soteriologische Aspekt verdeckt zu werden. Glaube nimmt nicht mehr und mehr beim Menschen zu, sondern dieser wächst mehr und mehr in die Einsicht hinein, wie sehr er immer wieder angesichts der Verheißungen zurückbleibt. Darum meint Calvin meines Erachtens weniger eine Erweiterungs- als eine Vertiefungsbewegung, wenn er vom Fortschreiten redet. Ich zitierte noch einmal den Reformator: „Je mehr sich einer durch Heiligkeit auszeichnet, umso mehr soll er spüren, wie weit er noch immer von der vollkommenen Gerechtigkeit entfernt ist, damit er nur auf Gottes reines Erbarmen vertraut.“

Im Typ 3, Wachstum als Vertiefungsbewegung, kommt dieser soteriologische Gedanke am deutlichsten heraus, ohne dass die anderen Aspekte im Fortschrittsbegriff Calvins zurücktreten müssten. Denn Fortschreiten als Vertiefungsbewegung bedeutet

a) soteriologisch: sich seiner heillosen Situation immer klarer werden und damit hineinwachsen in die Einsicht, total angewiesen zu sein auf Gottes Zuwendung (Der Glaubende darf diese Abhängigkeit immer stärker spüren, indem er sich immer deutlicher erkennt als jemanden, der aus Mangel an Vertrauen immer wieder zurückbleibt hinter den Verheißungen.);

b) eschatologisch: sich immer tiefer ausgerichtet wissen auf ein Ziel und damit darauf, dass alles Fortschreiten ein Ende finden darf, wenn Christus mit uns zum Ziel kommt;

c) ethisch: hineinwachsen in die Einsicht, dass der Glaube keinen Stillstand kennt, sondern immerfort in Bewegung ist und damit in Gefahr. Wenn er sich auch nur ein klein wenig gehen lässt, dann gerät er notwendig ‚auf’s Schlüpfrige‘, wie Calvin sagen kann. Dabei führt die Einsicht in das stete Zurückbleiben nicht in die Lethargie, sondern in ein stetiges Neubemühen, ein semper incipere.

Nicht in Abrede gestellt werden soll, dass die Typen 1 und 2 je für sich wichtige Gedanken hervorheben. Grundlegend zur Erläuterung der Rede vom Fortschreiten in der „Institutio“ bleibt aber nach meiner Einsicht der Typ 3, denn erstens wird der Wachstumsgedanke nicht mit quantitativen Vorstellungen belastet, sondern in Grenzen gehalten, wo die Einsicht bestimmend bleibt, dass der Glaube durch die Erkenntnis des Zurückbleibens reift. Und zweitens wird diese Erkenntnis des Zurückbleibens auf alle drei Aspekte bezogen: soteriologisch als Erkenntnis des Zurückbleibens im Vertrauen auf die Verheißungen Gottes; eschatologisch als Erkenntnis des Zurückbleibens im Hoffen darauf, das alles Wachstum wirklich zum Ziel führt, und ethisch als Erkenntnis des Zurückbleibens im Handeln angesichts der Fragilität des gelebten Glaubens im Heute, Hier und Jetzt.

Es erhärtet sich also die These vom Fortschreiten im Glauben im Sinne einer Erkenntnis des Zurückbleibens.

Karl Barth: Vorlesungsvorbereitung als Nachtschicht

Eberhard Busch, von 1965–1968 persönlicher Assistent von Karl Barth, schreibt in seiner Barth-Biographie, wie hart dieser für die Vorbereitung seiner Vorlesungen gearbeitet und gekämpft hat (Karl Barth’s Lebenslauf, 1976, S. 140–141): 

Der Schreibtisch, an dem Barth von jetzt an (bis zu seiner Emeritierung) arbeitete, war derselbe, „an dem schon mein so viel gediegenerer Vater gelebt und gearbeitet hat“. „Da gabs nun ein tage- und nächtelanges Studieren und Hin- und Herwälzen von alten und neuen Büchern, bis ich einigermaßen – ich will nicht sagen, aufs Roß, aber wenigstens auf den akademischen Esel kam, so daß ich reiten konnte an der Universität.“ Mit unerhörtem Fleiß gab sich Barth der Vorbereitung seiner Vorlesungen hin „fast immer Nachtschicht!“ „Mehr als einmal wurde das, was ich [morgens] um 7 Uhr vorbrachte, erst zwischen 3-5 Uhr fertig.“

Es war „immer etwas schneller“ zu arbeiten, „als mein natürliches Tempo wäre … Und unsere ‚komplizierenden‘, alles auf den Kopf stellenden Gesichtspunkte vereinfachen das Geschäft auch nicht: es ist ein ewiger Krieg zwischen diesen ‚Gesichtspunkten‘ und dem Stoff, der durchaus in die alte bekannte banale Form zurückschnellen möchte“‘‘. Und wie oft seufzte der junge Professor „angesichts der Türme von Stoff, die ich nicht beherrsche“!“ Wie oft klagte er darüber, „wie ich armes Maultier da im Nebel meinen Weg su muß, über allem andern auch immer noch gehemmt durch mans de gelehrte Beweglichkeit, unbefriedigende Lateinkenn schlechtestes Gedächtnis!“ „In meinem Kopf gehts zu wie in ei Hyänenkäfig vor der Fütterung.“

Das „Hirntod“-Konzept auf dem Prüfstand

In den USA wächst die Kritik am Konzept des Hirntodes und seiner praktischen Umsetzung. Dies wurde Ende Februar auf einem Symposium an der Catholic University of America in Washington deutlich, an der über hundert Ärzte, Theologen, Bioethiker, und Vertreter weiterer akademischer Disziplinen teilnahmen. DIE TAGESPOST berichtet:

Auch wenn sich die rechtlichen Regeln zum „Hirntod“ in den Vereinigten Staaten von denen in Deutschland unterscheiden, betreffen die auf der Tagung in Washington diskutierten Probleme auch das deutsche Todesfeststellungsverfahren. Vor einer Organentnahme wird nach den Regelungen der Bundesärztekammer angeblich der „irreversible Hirnfunktionsausfall“ festgestellt. Tatsächlich werden aber nicht alle, sondern nur wesentliche Teile des Gehirns auf ihre Funktionsfähigkeit hin überprüft. Nicht getestet wird das Kleinhirn, obwohl es zum gesetzlich geforderten Umfang des Funktionsausfalls gem. § 3 Abs. 2 Nr. 2 Transplantationsgesetz gehört. Ferner soll nach den deutschen Richtlinien die Produktion bzw. Abgabe von Hormonen durch den Hypothalamus dem „irreversiblen Hirnfunktionsausfall“ nicht widersprechen. Das Gleiche gilt für noch messbare elektrische Aktivität in der Großhirnrinde oder eine gewisse geringfügige Hirndurchblutung. Es stellt sich daher die Frage, wie man unter diesen Umständen überhaupt von einem „irreversiblen Hirnfunktionsausfall“ sprechen kann.

Auf der Tagung in Washington wurde auch das „Hirntod“-Konzept als solches kritisiert. So fragte der Arzt und Philosoph Michael Accad, wie ein Teil des menschlichen Organismus (das Gehirn) für die Integration des gesamten Organismus verantwortlich sein könne. Der Mensch sei bereits in seinen vorgeburtlichen Entwicklungsstadien, in denen noch kein Gehirn existiert, ein integrierter Organismus. Deshalb könne das Gehirn nicht das „Integrationsorgan“ des Menschen sein. Nach christlicher Auffassung sei die Seele das Lebensprinzip des Menschen. Die Trennung von Leib und Seele könne nicht direkt naturwissenschaftlich festgestellt werden. Solange ein integrierter Organismus existiere, müsse davon ausgegangen werden, dass auch das Lebensprinzip noch wirke. Erst wenn es zu erkennbarer Desintegration komme (nachweisbar zum Beispiel durch das Auftreten der traditionellen sicheren Todeszeichen „Leichenflecke“ und „Leichenstarre“), könne auch sicher vom Eintritt des Todes ausgegangen werden.

Mehr: www.die-tagespost.de.

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