Kevin DeYoung skizziert im kürzlich erschienenen Artikel „From silence to complexification to capitulation“ einen Stimmungswechsel unter den Evangelikalen in den USA im Blick auf brennende sexualethische Fragen. Er schreibt:
Ich stimme nicht oft mit David Gushee überein, dem liberalen christlichen Ethiker, dessen „kämpferische Auseinandersetzungen“ nach seiner eigenen Beschreibung „Themen wie Klimawandel, Folter, LGBTQ-Integration und weiße Vorherrschaft“ umfassen. Allerdings sprach er vor Jahren eine unbequeme Wahrheit aus, als er feststellte, dass es bei LGBTQ-Themen keinen Mittelweg gibt. Er sagte: „Neutralität ist keine Option. Ebenso wenig wie eine höfliche Halbakzeptanz. Und auch nicht, das Thema zu vermeiden. Wie sehr du dich auch verstecken magst, das Thema wird dich finden.
Nach DeYoung wird das Schweigen in sexualethischen Fragen langsam durch eine Haltung verdrängt, in der vor allem jene zur Rechenschaft gezogen werden, die an der biblischen Position festhalten.
In der nächsten Phase ist die Verdrossenheit gegenüber denjenigen, die auf die Sünde hinweisen, größer als gegenüber denjenigen, die die Sünde begehen. Dies ist oft ein verräterisches Zeichen dafür, dass ein Gesinnungswandel bereits stattgefunden hat. Die evangelikale Leiterpersönlichkeit mag immer noch damit prahlen, dass sie ein „Konservativer“ ist, aber es sind zugleich nur noch die Konservativen, die stören. Die ganze Sympathie wendet sich nun der revisionistischen Seite zu. Es gibt viel Geduld für den „sexuellen Kämpfer“ und nichts als Verachtung für diejenigen, die von Sünde, Gericht und der Notwendigkeit zur Umkehr sprechen. Auf dem Weg dorthin entwickelt sich ein Kanon innerhalb eines Kanons. Hier rühmen sich die Führer damit, dass sie „Rote-Buchstaben-Christen“ sind. Jesus wird gegen Paulus ausgespielt. Das Alte Testament wird als (zumindest) irrelevant und wahrscheinlich als unheilvoll abgetan beiseite geschoben.
Mehr hier: wng.org.
Ist das in Westeuropa anders?
Eine wirklich treffende Situationsbeschreibung auch für Deutschland.
Es geht hier in der Tat um viel mehr, als um sexualethische Randthemen. Es geht um eine andere Theologie und Christologie, um ein „modernes“ Gottesbild und Christusbild, das besser in unsere heutige Gesellschaft passt und dabei das, was man aus der Bibel dem heutigen Menschen noch vermitteln kann, teilweise bis zur Unkenntlichkeit zusammenschrumpft.
Ähnliche Bestrebungen hat es ja schon früher gegeben. Marcion lässt grüßen.
Er lehrte, dass der Gott des ATs nicht der Gott und Vater Jesu Christi ist. Alles Böse ist auf den Gott des ATs, den Erschaffer der Materie, zurückzuführen, während der Gott Jesu ein Gott des Lichtes und der Liebe ist. Er strich aus der Bibel das ganze AT und seine Zitate im NT.
Die Kirche exkommunizierte Marcion 144 n. Chr. Heute wäre er wohl in vielen „christlichen“ Kirchen und Gemeinden ein gefragter Redner ….
Marcion konnte nichts aus dem NT streichen, weil es noch kein NT gab (streng genommen gibt es bis heute kein gesamt-christliches NT). Der erste christliche Kanon überhaupt war wahrscheinlich der von Marcion.
@Helge: Nun, in Blogbeiträgen muss man sich manchmal vereinfacht ausdrücken. Marcion hat in der Tat seinen eigenen „Kanon“ geschaffen: Lukas-Evangelium und zehn Paulusbriefe. Die Pastoralbriefe lässt er unter den Tisch fallen. Das AT wird, wie gesagt, völlig verworfen.
In Marcions „neutestamentlichen Kanon“ werden dann auch Stellen, die sich auf das AT beziehen, entsprechend geändert.
Es gibt meiner Wahrnehmung nach auch heute viele „Markionisten“ unterschiedlicher Ausprägung. Für sie ist Marcion dann auch ein „Erfinder des Christentums“.
Das Kanon-Thema ist ein interessantes Thema, das man via Blog schwerlich diskutieren kann. Es ist natürlich auch ein beliebtes Thema, um die Autorität der Heiligen Schrift zu demontieren.