Im folgenden Abschnitt (S. 353–360) betont Augustinus nach einmal anhand verschiedener Themen und Bibelstellen, dass uns Menschen keine Verdienste vor Gott gerecht machen können. Sogar das ewige Leben, von vielen als Lohn für ein gutes Leben verstanden, ist unverdiente Gnade.
Augustinus: Nicht Verdienst, sondern Gabe des Geistes
Niemand kann also auf die rechte Weise Weisheit und Verstand gebrauchen, niemand auf die rechte Weise durch Rat und Stärke sich auszeichnen, niemand Frömmigkeit und Wissenschaft miteinander verbinden, niemand mit keuscher Furcht Gott fürchten, wenn er nicht den Geist der Weisheit und des Verstandes, des Rates und der Stärke, der Wissenschaft und Frömmigkeit und Gottesfurcht empfangen hat. Niemand kann ferner wahre Tugend, aufrichtige Liebe, gottesfürchtige Enthaltsamkeit besitzen außer durch den Geist der Tugend, der Liebe und der Enthaltsamkeit. Ebenso wird auch niemand ohne den Geist des Glaubens in rechter Weise glauben, noch ohne den Geist des Gebetes zu seinem Heile beten. Doch ist hierbei nicht etwa eine Vielheit von Geistern anzunehmen, »sondern dies alles wirket ein und derselbe Geist, indem er jedem, wie er will. Eigentümliches mitteilt«. Denn »der Geist wirkt, wie er will« (Röm 8,27ff), aber freilich – das muss man zugestehen – in anderer Weise steht er bei, wenn er noch nicht in der Seele wohnt, in anderer, wenn er bereits darin wohnt. Denn wenn er noch nicht in der Seele wohnt, so hilft er, dass man zum Glauben gelangt; wohnt er aber bereits in der Seele, so unterstützt er solche, die bereits gläubig sind.
Wo bleibt also das Verdienst des Menschen vor der Gnade, durch das er die Gnade empfangen könnte, da jedes gute Verdienst von unserer Seite nur durch die Gnade bewirkt wird und Gott, wenn er unsere Verdienste krönt, nichts anderes krönt als seine eigenen Gaben? Denn wie wir im Anfange die Gnade des Glaubens erlangt haben, nicht weil wir gläubig waren, sondern dass wir es werden, so wird uns am Ende, wo das ewige Leben eintritt, Gott krönen, wie geschrieben steht, »in Erbarmung und Barmherzigkeit« (vgl. Jer 42,12). Nicht umsonst also wird von Gott gesungen: »Und seine Barmherzigkeit wird mir zuvorkommen«, sowie auch: »Seine Barmherzigkeit wird mir nachfolgen«. Darum wird auch das ewige Leben selbst, das wir am Ende ohne Ende besitzen werden und das also allerdings nach vorausgegangenen Verdiensten erteilt wird, doch die Rücksicht darauf, dass diese Verdienste, für die man es erlangt, nicht von uns aus eigener Kraft erworben, sondern in uns durch die Gnade gewirkt wurden, selbst Gnade genannt; offenbar nur aus dem Grunde, weil es unverdient erteilt wird. Zwar wird es auch als Lohn für Verdienste gegeben, aber die Verdienste selbst, für die es verliehen wird, sind ein Geschenk. Für unsere Behauptung aber, dass auch das ewige Leben eine Gnade genannt wird, haben wir bei demselben erhabenen Verteidiger der Gnade, bei dem Apostel Paulus, die Stelle: »Der Sold der Sünde ist der Tod; Gnade Gottes aber ist das ewige Leben in Jesus Christus, unserem Herrn« (Röm 6,23).
Beachte, bitte, wie kurz gefasst und sorgfältig gewählt diese Worte sind; doch bei ernstlicher Erwägung wird sich das Dunkel dieser Frage einigermaßen lichten. Nachdem gesagt ist: »Der Sold der Sünde ist der Tod«, wer würde es da nicht für einen sehr passenden und folgerichtigen Nachsatz halten, wenn es weiter hieße: »Der Sold der Gerechtigkeit aber ist das ewige Leben«? Es ist ja Wahrheit, dass, wie der Sündenschuld der Tod gleichsam als Sold erteilt, so dem Verdienste der Gerechtigkeit gleichsam als Sold das ewige Leben gespendet wird. Oder wenn der Apostel von Gerechtigkeit nicht reden wollte, so hätte er das Verdienst des Glaubens erwähnen können, da »der Gerechte aus dem Glauben lebt« (Hab 2,4). Deshalb heißt auch das ewige Leben an sehr vielen Stellen der Heiligen Schrift ein Lohn; nirgends hingegen ist die Gerechtigkeit oder der Glaube als Lohn bezeichnet, weil der Gerechtigkeit oder dem Glauben der Lohn erteilt wird. Was aber für den Arbeiter der Lohn, das ist für den Soldaten der Sold.
Der heilige Apostel aber kämpft gegen den Stolz, der in einem so hohen Grade bei allem Großen sich einzuschleichen sucht, dass ihm selbst, wie er sagt, ein Satansengel gegeben wurde, der ihn mit Fäusten schlug, damit sich nicht sein Nacken stolz erhebe (2Kor 12,7). Da er also mit allem Eifer gegen diese Pest des Stolzes kämpft, sagt er: »Der Sold der Sünde ist der Tod«. Mit Recht nennt er ihn Sold, weil er verschuldet ist, weil man ihn nach Gebühr empfängt, weil er nach Verdienst gegeben wird. Damit sodann die Gerechtigkeit sich nicht wegen eines menschlichen Tugendverdienstes erhebe, so führt er, während die Sünde unzweifelhaft ein menschliches Missverdienst ist, nicht den Gegensatz durch, indem er etwa sagt: »Der Sold der Gerechtigkeit ist das ewige Leben«, sondern er sagt: »Gnade Gottes ist das ewige Leben«. Und damit man es nicht etwa auf irgendeinem anderen Wege ohne den Mittler suche, fügt er bei: »In Jesus Christus, unserem Herrn«, als wollte er sagen: »Wenn du hörst, dass der Sold der Sünde der Tod ist, was schickst du dich an, dich zu erheben, o menschliche Nichtgerechtigkeit, ja mit dem Namen der Gerechtigkeit prunkende Hoffart? Was schickst du dich an, dich zu erheben und das dem Tode entgegengesetzte ewige Leben gleichsam als schuldigen Sold einzufordern? Die wahre Gerechtigkeit ist es, der das ewige Leben gebührt. Wenn aber die Gerechtigkeit wahr ist, so kommt sie nicht von dir, sondern von oben herab, vom Vater der Lichter. Wenn du sie überhaupt hast, so hast du sie nur, weil du sie empfangen hast. Denn welche Güter hast du, die du nicht empfangen hättest? Darum, o Mensch, wenn du das ewige Leben empfangen wirst, so ist dies zwar der Sold der Gerechtigkeit, aber für dich ist es Gnade, da für dich überhaupt die Gnade die Gerechtigkeit ist. Das ewige Leben würde dir ja wie eine Schuldigkeit gegeben werden, wenn du von dir selbst jene Gerechtigkeit hättest, der es gebührt. Nun aber haben wir von seiner Fülle nicht nur jene Gnade empfangen, durch die wir jetzt in unseren Bemühungen gerecht bis ans Ende leben, sondern auch um dieser Gnade willen die Gnade, nach diesem Leben ohne Ende in Ruhe zu leben. Nichts Heilbringenderes glaubt der Glaube, weil auch der Verstand nichts Wahreres findet. Und wir müssen hören auf das Wort des Propheten, der spricht: »Wenn ihr nicht glaubet, werdet ihr nicht verstehen« (Jes 7,9 nach LXX).
»Aber«, sagt Pelagius, »die Menschen, die nicht gut und gläubig leben, werden sich entschuldigen und sprechen: Was haben wir verbrochen, wenn wir ein schlechtes Leben führen, da wir die Gnade nicht empfangen haben, mit der wir ein gutes Leben führen könnten?« Die ein schlechtes Leben führen, können nicht mit Wahrheit sagen, dass sie nichts Böses getan hätten. Denn wenn sie nichts Böses tun, so leben sie gut; wenn sie aber schlecht leben, so leben sie von sich aus schlecht, entweder wegen der ihnen anhaftenden Erbschuld oder weil sie außerdem persönliche Sünden begehen. Wenn sie aber »Gefäße des Zornes sind, die zum Verderben bereitet wurden« (Röm 9,22), so sollen sie es sich zuschreiben, was ihnen nach Gebühr zuteil wird; sind sie doch aus jenem Stoffe gemacht, den Gott wegen der Sünde des einen, in dem alle gesündigt haben, nach Recht und Gerechtigkeit verdammt hat. Wenn sie aber Gefäße der Barmherzigkeit sind, denen Gott, obwohl sie aus demselben Stoffe gemacht sind, die verdiente Strafe nachlassen wollte, so mögen sie nicht sich groß machen, sondern Gott preisen, der ihnen unverdiente Barmherzigkeit erwiesen hat; sollten sie etwa anderer Ansicht sein, so wird ihnen Gott auch dies noch zu erkennen geben.
Endlich: Auf welche Weise werden sie sich entschuldigen? Offenbar auf jene Art, auf die der Apostel, gleichsam in ihrem Sinne sprechend, sich selbst einen Einwand macht, indem er sie sagen lässt: »Warum klagt er also? Denn wer widersteht seinem Willen?« (Röm 9,19). Das will also sagen: »Warum beklagt man sich über uns, dass wir Gott durch unser schlechtes Leben beleidigen, da niemand seinem Willen widerstehen kann und er uns durch Verweigerung seiner Barmherzigkeit verhärtet hat?« Wenn sie sich also nicht schämen, mit dieser Entschuldigung nicht uns, sondern dem Apostel zu widersprechen, warum sollte es uns zuviel sein, ihnen immer und immer wieder das Wort des Apostels vorzuhalten: »O Mensch, wer bist du, dass du Gott zur Rede stellen willst? Spricht etwa das Gebilde zu seinem Bildner: Warum hast du mich so gemacht? Oder hat der Töpfer nicht die Macht, aus demselben Stoffe – der offenbar nach Recht und Gerechtigkeit verdammt ist – das eine Gefäß aus erbarmender Gnade zu verdienter Ehre zu bilden, das andere aber aus gerechtem Zorne zur verdienten Schmach, um den Reichtum seiner Herrlichkeit an den Gefäßen seiner Barmherzigkeit kundzutun« (Röm 9,20–23) und zu zeigen, welche Gnade er ihnen erweist, während die Gefäße des Zornes jene Strafe empfangen, die alle in gleicher Weise verdient hatten? Es genüge unterdessen dem Christen, der noch im Glauben lebt und noch nicht die Vollendung sieht, dessen Erkennen nur Stückwerk ist, zu wissen und zu glauben, dass Gott niemanden errettet außer aus freier Barmherzigkeit durch unseren Herrn Jesus Christus und niemanden verdammt außer nach vollkommenster Gerechtigkeit und Wahrheit durch unseren Herrn Jesus Christus. Warum aber Gott den einen errettet, den anderen aber nicht, wer es vermag, der erforsche diesen tiefen Abgrund seiner Gerichte, hüte sich jedoch vor dem Sturze. »Denn ist etwa bei Gott eine Ungerechtigkeit?« (Röm 9,14). Das sei ferne! Aber »unerforschlich sind seine Gerichte und unbegreiflich seine Wege« (Röm 11,33).