Ayaan Hirsi Ali: Über Gewalt

Im Westen ist eine Mehrheitskultur entstanden, die Gewalt in der Erziehung ablehnt. Weshalb das in anderen Kulturen anders ist und was das für Europa bedeutet, beschreibt Ayaan Hirsi Ali in einem Gastbeitrag für DIE WELT:

In muslimischen Gesellschaften ist Gewalt nicht nur impulsiv und reaktiv. Sie wird auch kalkuliert und geplant eingesetzt als Mittel zur Wiederherstellung der Ehre durch die Bestrafung unehrenhaften Verhaltens. „Ehrgewalt“ soll öffentlich sein – sie soll nicht nur den Makel der Schande von der betreffenden Familie entfernen, sondern auch anderen signalisieren, dass „unehrenhaftes“ Verhalten nicht toleriert wird. Gewalt im Namen der Ehre trifft daher nicht nur den mutmaßlichen Übeltäter, sondern auch seine Angehörigen. Sie führt häufig zu einem brutalen Kreislauf aus Vergeltungsakten, der nur durch die Vermittlung anderer Familien und durch Wiedergutmachung seitens des Täters beendet werden kann.

Sowohl in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit als auch in muslimischen Gemeinschaften in westlichen Ländern ist die „Ehrgewalt“ ein immer häufigeres Mittel zur Kontrolle des weiblichen Verhaltens. Eine junge Frau mit einem westlichen Freund muss damit rechnen, geschlagen, zu Hause eingesperrt, entführt, in eine arrangierte Ehe gezwungen oder sogar getötet zu werden. Je härter die Strafe, desto deutlicher die Botschaft an den Rest der Welt: Schande über diese Familie wird nicht toleriert. Und natürlich lautet die Botschaft an die Frauen in der Familie: Wenn du aus der Reihe tanzt, werden wir das auch mit dir tun.

Und dann gibt es natürlich noch die religiöse Gewalt. Ich würde sie im weitesten Sinne als transzendente Gewalt bezeichnen. Diese Art von Gewalt scheinen die Menschen im Westen am schwersten zu verstehen. Die modernen westlichen Nationen sind religiös pluralistisch. Seit langem legen ihre Mitglieder rechtlich, gesellschaftlich und moralisch Wert darauf, religiöse Unterschiede friedlich zu lösen. Es ist eine Grundvoraussetzung der westlichen Gesellschaftsordnung, dass transzendente Gewalt undenkbar ist: Töten in Gottes Namen gilt als altmodisches, rückständiges Verhalten.

Historisch gesehen ist diese Haltung jedoch nicht normal. Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte und in weiten Teilen der heutigen Welt – vor allem in muslimischen Gesellschaften – ist es nicht nur denkbar, sondern sogar erstrebenswert, im Namen Gottes und des Landes gewaltbereit zu sein. Gewalt ist nicht nur ein übliches Mittel, um auf Konflikte zu reagieren, den Makel der „Unehre“ zu beseitigen oder Macht zu erlangen. Sie ist auch ein Weg, Gott näher zu kommen, tugendhaft, edel und heilig zu sein.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

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