Molly Worthen’s Artikel „The Evangelical Roots of Our Post-Truth Society“, der kürzlich in der NEW YORK TIMES erschienen ist, enthält kluge Betrachtungen. Insgesamt will er allerdings, so mein Eindruck, den Relativismus unter den konservativen Evangelikalen fördern. Wenn Worthen beobachtet, dass manche Entwicklungen an den evangelikalen Ausbildungsstätten hoffnungsvoll stimmen, da eine wissenschaftliche Sicht auf die Bibel gefördert wird, dann passt das gut ins Bild. Wir erahnen, was damit gemeint ist.
Immerhin hat es Cornelius Van Til wieder einmal geschafft, in der NYT erwähnt zu werden (2007 wurde er von der gleichen Autorin in dem Artikel „Onward Christian Scholars“ genannt). Molly Worthen schreibt:
Der zweite Impuls, derjenige, der das Anliegen der Wissenschaftler, die Bibel herauszufordern, ablehnt, entwickelte sich im frühen 20. Jahrhundert zu einer Denkschule, die als „Voraussetzungsbewusstes Denken“ (engl. presuppositions) bezeichnet wurde. Der Begriff ist ein Zungenbrecher, aber die Idee ist einfach: Wir alle haben Denkvoraussetzungen, die unser Verständnis der Welt gestalten. Cornelius Van Til, ein Theologe, der diese Idee gefördert hat, lehnte die Prämisse ab, dass alle Menschen Zugang zur objektiven Realität haben. „Wir gestehen wirklich nicht zu, dass Sie irgendeine Tatsache in irgendeiner Dimension des Lebens so sehen, wie sie ist“, schrieb er in einer Broschüre, die auf Nichtchristen ausgerichtet war. [Anmerkung: Diese letzte Aussage hätte übrigens auch von I. Kant stammen können. Überhaupt sollte jemand, der Van Til richtig verstehen will, Kants Kritik der reinen Vernunft lesen.]
Es trifft zu, dass die Apologetik nicht zu einer Form des Tribalismus verkommen darf. Wir brauchen als Christen ehrliche Debatten, den Mut zur Selbstkritik und die Bereitschaft, uns „testen“ zu lassen. Wir brauchen aber ebenfalls den Mut (und Fleiß), die Denkvoraussetzungen nicht-christlicher Denkschulen, wie z.B. die des Naturalismus, infrage zu stellen.
Hier der Artikel: www.nytimes.com.