Marjus Lange von Ravensburg fasst in seiner Dissertation Augustinus totus noster (Göttingen, 1990, S. 122) Calvins Exegeseverständnis wie folgt zusammen:
Obwohl nur der Heilige Geist allein nach freier Wahl ein wirkliches Verstehen des Wortes für den Menschen zu bewirken und die Schrift als Gottes Wort pro me zu bezeugen vermag, so bleibt doch auch schon die vorfindliche Schrift selber das deutlich sichtbare und klare Gestalt gewordene Wort Gottes. Dieses als solches zugänglich zu machen, es aufzuschließen und zu übersetzen, ja seine ,äußere intelligentia‘ zu bewirken, ist Aufgabe sowohl der Pastoren als auch in besonderem Maße der Doktoren. Offenkundig findet demnach bei Calvin ein zweifaches Verständnis der Schrift Verwendung, eine ,intelligentia externa‘ und ,interna‘. Indem aber die ,Worte‘ der Schrift und die „mens scriptoris scripturae“ auf möglichst klare und durchsichtige Weise verdeutlicht werden, erschließen sich die an einen alttestamentlichen oder neutestamentlichen Zeugen ergangenen und für diesen Zeugen verständlichen Worte Gottes. Exegese ist deshalb nach Calvin ,Verständnishilfe‘, „bonne aide pour entendre“, der an die „ministri verbi Dei“ ergangenen Worte Gottes. Dies erklärt Calvins z.T. leidenschaftliches Interesse an dem in die jeweilige historische Situation hineindiktierten äußeren Wort und dessen genauer Erfassung.
Exegese ist die Notwendigkeit, sich das Schwierige zu erklären, einen Sinn zu formulieren. Man könnte sagen, der Mensch ist das Tier, das sich das Wort Gottes verständlich machen muss. Die oft wiederholte Aussage, erst der Heilige Geist könne dem Menschen das Verständnis erschließen, führt zu einem Missverständnis, so als müsse zum Verstehen einer Proposition noch etwas Metaphysisches (das Aufschließen des Verstandes durch den Heiligen Geist) hinzutreten. Wer A sagt, muss auch B sagen, und so muss auslegen, wer Gottes Wort als claire et distincte erklärt. Was, wenn das Aufschließen des Verstandes in etwas anderem bestünde? Zum Beispiel im plötzlichen, aber unerklärlichen Zustimmen zu einer Sache, die ich vorher verneint hätte? Genau so empfängt sich der Glaube auch: Nicht aus Irrationalem freilich, sondern anhand ganz bestimmter Aussagen. Aber weshalb der Mensch das plötzlich glaubt, könnte er nicht sagen. (Ausnahmen gibt es freilich, wo der Mensch die Genese seiner assentia nachvollziehen kann). Nun gibt es Dinge, die wir nicht (mehr) wissen. Jeder… Weiterlesen »