Der Theologe Hans Joachim Iwand folgte 1952 einem Ruf nach Bonn, wo er bis zu seinem Tod 1960 Systematische Theologie lehrte. In der Prinzipienlehre, die er in Bonn gelesen hat, setzt er sich sehr pointiert von dem neuzeitlichen Unternehmen ab, das den Menschen zum Dreh- und Angelpunkt der Wirklichkeitserkenntnis erhoben hat. In radikaler Weise betont er den reformatorischen Gedanken, dass wir Menschen die Welt und uns selbst nur dann verstehen können, wenn Gott von außen in unser Leben tritt. Anders gesagt: Die Wirklichkeit Gottes hängt nicht von meinem Selbstbewusstsein ab, sondern meine Selbsterkenntnis hängt von der Wirklichkeit Gottes ab.
Iwand (Dogmatik-Vorlesungen 1957-1960, 2013, S. 27):
Gibt es Gott nicht, dann gibt es auch kein „extra nos“! Dann bekommen wir die Welt, die Menschen, ja dann bekomme ich auch letzten Endes mich, mich als Mensch, als dieses rätselhafte Wesen Mensch, nie zu fassen. „Ich bin ich“, was heißt denn das? Ist das nicht der leerste, gedankenloseste Satz, den es gibt? „Extra se stare“, einen Standpunkt außerhalb seiner selbst gewinnen, das hieße eben gerade diese Identität zertrümmern, das Gefängnis des „Ich bin ich“, dieser amor sui [Selbstliebe], zerbrechen, in der Lazarus begraben liegt [Joh 11]. Das ist es, was zerbrochen wird, wenn das Wort Gottes kommt. Das Wort Gottes hebt den Traum dieser Identität auf – hier liegt die Blindheit, hier liegt das Leiden, das mit uns geboren ist, die Blindheit unseres gerade so vernünftigen Wesens. Denn wenn Gottes Wort an uns geschieht, dann heißt es nicht: „Du bist Du“, dann bestätigt er mir nicht jenes „Ich bin ich“, das ich in meinem Stolz oder in meiner abgrundtiefen Verzweiflung sage, sondern er streicht jene Identität durch als die Grundtäuschung, der ich erlegen bin. Und eben damit betreten wir das Reich, wo er Herr ist, wo wir festen Boden unter den Füßen haben, wo nicht mehr die Frage zu unserer Lebensfrage wird, ob wir die Welt gestalten oder sie uns, sondern wo beide Positionen in ihrer Absolutheit aufgehoben sind weil eine dritte Position gefunden und bezogen ist: die des „extra me“!
Vielleicht ist dieses „Ich bin ich“ überhaupt der Gott geraubte Name, den der Mensch sich fälschlich, zu Unrecht angeeignet hat, der nicht sein Name ist. Er ist ein Göttername. Und wenn ihm dann, diesem sich absolut setzenden Menschen, bei seiner Einsamkeit und Isolierung bange wird, dann erträumt er sich einen Helfer über den Sternen, den nennt er Gott. Das ist sozusagen jenes Wesen, das alles das hat, was ihm fehlt, sein Partner sozusagen, der große Menschengott, den wir brauchen, damit wir nicht „aufwachen“ [vgl. Rom 13,11f]. Dieser Menschengott muss als solcher offenbar, enthüllt, zerbrochen werden, er ist die letzte und äußerste Form der Gottlosigkeit, der Unwirklichkeit unseres Lebens, wenn uns Gott selbst finden soll, wenn wir ihn und mit ihm zugleich das finden, was wir das Leben nennen. Die Wirklichkeit schlechthin.
Danke! Ja, diese „Lutheraner“ hatten noch einen theologischen Durchblick, den man heutzutage selten unter diesen findet. Falls Du, Ron, nebenbei in dieser theologischen Richtung nach „kostbaren Nuggets“ weiter schürfen willst, empfehle ich die Aufsätze von Peter Brunner. Über weite Strecken sehr lesenswert und ähnlich orientiert wie Iwand.
Ja, auch Danke.
Ein Genuss, das zu lesen und ich habe es sogar verstanden. Vieles von dem „Klugen, Gescheiten“ was hier so hier und da steht und diskutiert wird, verstehe ich gar nicht, aber das ist klar und eindeutig.
Bitte Buchtipps ..für einen Anfänger… 😉
Vielen Dank, Ron, für diesen wunderbaren Text!
@Jutta: Ein wichtiges Buch für Anfänger (in guter neuer deutscher Übersetzung auch recht gut verständlich) ist da Johannes Calvins Institutio. Er beginnt diese Glaubenslehre auch mit der Feststellung, dass Selbsterkenntnis nur durch echte Gotteserkenntnis geschehen kann.
Bei guten Englischkenntnissen kann ich auch Nancy Pearceys Buch „Total Truth“ sehr empfehlen, welches vor wenigen Tagen hier im Blog vorgestellt wurde. Ich habe bislang das erste Viertel davon gelesen. Es ist nicht besonders hochstehend philosophisch geschrieben, sondern verständlich, nutzt aber einen breiten englischen Wortschatz.