Bei den Vorbereitungen für einen Vorlesungstag zum Thema »Sühneopfer« bin ich auf ein interessantes Zitat von Bultmann und dessen angemessene Kommentierung durch den katholischen Dogmatiker Peter Hünermann gestoßen (Hünermann, Peter, Jesus Christus, Gottes Wort in der Zeit, Aschendorff Verlag, 1997, S. 88–89):
1960 hatte Rudolf Bultmann festgestellt: »Schwerlich kann diese Hinrichtung [Jesu; d. Vf. ] als die innerlich notwendige Konsequenz seines Wirkens verstanden werden; sie geschah vielmehr aufgrund eines Mißverständnisses seines Wirkens als eines politischen. Sie wäre dann – historisch gesprochen – ein sinnloses Schicksal. Ob oder wie Jesus in ihm einen Sinn gefunden hat, können wir nicht wissen. Die Möglichkeit, daß er zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschleiern.« Von dieser These Bultmanns ausgehend, resümiert Hans Kessler zehn Jahre später seine Detailuntersuchungen: »Wir wissen nicht sicher, ob oder wie Jesus in seinem Tod einen besonderen Sinn gesehen hat … Es ist wenig wahrscheinlich, daß Jesus mit seinem bevor stehenden Tod Opfer- und Sühnegedanken verband und daß es in seiner Absicht lag, durch seinen Tod die Welt zu erlösen.«
Urteile wie dieses rechnen unbefangen mit denselben Wertprioritäten und Kriterien, wie sie im tagtäglichen Selbstverständnis der Menschen vorkommen, ohne zu berücksichtigen, daß bereits ernsthaftes Denken und Philosophieren die Zugehörigkeit des Todes zum Leben aufdecken und jede Verdrängung des Todes als eine entfremdete Bewußtseinslage denunzieren. Es wurde bereits oben in der Erörterung von Sinn und Sendung Jesu Christi die Präsenz des Todes in seinem Leben thematisiert. Man kann dafür eine Fülle von neutestamentlichen Stellen anführen.
Hinsichtlich der Frage, wie Jesus seinen Tod gesehen hat, spielen folgende Momente eine zentrale Rolle: Jesus konnte mit der Möglichkeit, ja er mußte mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Todes rechnen. Das ergibt sich aus der Anknüpfung Jesu an die Botschaft des Täufers und dem engen Zusammenhang, in dem er mit dem Täufer steht (vgl. Mk 6,14), ebenso aber auch aus dem sehr früh in seinem öffentlichen Leben auftauchenden Widerstand gegen seine Auslegung des Willen Gottes im Gegenüber zur pharisäischen Gesetzesauslegung und zur sadduzäischen Kultfrömmigkeit.
Jesus konnte nicht nur mit seinem Tode rechnen, er tat es auch. Aus zahlreichen Worten, die Jesus an seine Jünger richtet, spricht auch die eigene Martyriumsbereitschaft: »Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten« (Mk 8,35). Oder: »Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters … Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen« (Mt 10,29.31).
Ich kann Bultmanns Mutmaßungen und seiner Schlußfolgerung nicht folgen.
Ich verstehe aber auch nicht, inwiefern diese ganzen Bibelstellen, die Hünermann da am Ende anführt, belegen sollen, dass Jesus mit seinem Tod gerechnet habe. Schließlich sind diese angeblichen Zitate alle erst Jahrzehnte nach Jesu Kreuzigung niedergeschrieben worden, und es ist völlig unklar, ob sie aus der Lebenswirklichkeit Jesu oder jener der frühchristlichen Gemeinden heraus sprechen.
Unstrittig ist lediglich, dass bereits das NT die Frage nach dem Sinn des Todes Jesu stellt, und darauf eine Antwort aus dem Glauben heraus gibt.
Wenn man das Zeugnis der Evangelien ernst nimmt, ist es wohl sonnenklar, dass Jesus in seinem Tod einen besonderen Sinn gesehen hat. ( z.B.Mk 10.45: Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele).
Wenn man diesen Jesusworten natürlich mangelnde Glaubwürdigkeit attestiert, bleibt nur die Spekulation und das Abtauchen in die endlose und völlig resultatlose „Leben-Jesu-Forschung“ in der immer dasjenige Jesusbild herauskommt, das gefunden werden möchte.
Allerdings kann ich der Argumentation von Hünermann auch nicht wirklich folgen…
@Lars: ob etwas „unstrittig“ ist oder nicht, ist ja kein Kriterium. Aber wenn Deiner Ansicht nach ’nur‘ unstrittig ist, dass die Verfasser des NT die Frage nach dem Sinn des Todes Jesu aus dem Glauben heraus beantworteten – woher willst Du wissen, ob die nicht einem Irrglauben unterlegen sind? (Was auch immer sie Deiner Meinung nach geglaubt haben.) Im übrigen scheint es mir auch so, dass man gerade in den synoptischen Evv bessere Belegtexte dafür findet, dass Jesus mit seinem eigenen Tod rechnete, z.B. die bei allen Synoptikern enthaltene dreimalige Ankündigung seines eigenen Todes (und seiner Auferstehung natürlich). Selbst wenn man ’nur‘ historisch argumentieren würde, ist das eine völlig plausible Selbstaussage. Die Erzählungen schildern eine zunehmend spannungsvolle Konfrontation mit den Pharisäern, Sadduzäern und Schriftgelehrten, die zwangsläufig auf das tödliche Ende hinauslief. Wenn man diese Konfrontation nicht auch noch als historische Phantasmagorie abtun will, dann hatte Jesus eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was ihn allein in ‚menschlicher‘ Perspektive erwartete. Dass… Weiterlesen »
Die Frage, was „Jesus“ darüber dachte, ist doch systematisch-theologisch von gar keiner Relevanz. Wichtig ist doch allein, wie die Kirche darüber denkt, denn alles, was wir von Jesus wissen, ist doch Zeugnis und nicht Psychogramm. Der Glaube kennt nur den Christus des Glaubens, nicht den historischen Jesus. Der ist das Gespenst hinter dem Text – fides historica. Der Geist im Text aber ist der lebendige Christus.
@Roland
Echter Glaube hat also einen imaginären Gegenstand und rühmt sich noch dieser Tatsache?
Die Frage der Verbindung zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens ist alles andere als neu. Diese Unterscheidung setzt jedoch bereits ein Urteil voraus. Es wird davon ausgegagen, es gäbe einerseits eine historische Person Jesus und andererseits einen Messias des Glaubens (Christus). Wie beide miteinander verbunden sind und ob überhaupt wird in der Jesusforschung jedoch recht unterschiedlich beantwortet. Soweit ich es beurteilen kann, ist die aktuelle Jesusforschung (third quest) sehr an dieser Frage interessiert. Ein Konsens ist nicht in Sicht. Nicht mal am Horizont zu erahnen. Die Meinung es komme nicht auf den historischen Jesus an, sondern einzig auf den Christus des Glaubens, ist eine Meinung. Ich glaube jedoch, eine Menge third quester unterschiedlichster theologischer Richtungen, würden sie nicht so ohne weiteres teilen. Ich persönlich denke, dass es gute Gründe gibt, von einem historischen Jesus Christus auszugehen. Der Glaube beruht auf der Geschichte (Historie) und ist ohne sie ohne Grundlage. (Ich glaube es war Luther, der es einmal… Weiterlesen »
Meines Erachtens liegt schon in der Argumentationsweise Bultmanns ein Problem: er sagt, man könne nicht wissen, ob oder wie Jesus in seinem Tod einen Sinn gefunden hat. Aber woher weiß Bultmann es, dass man dies nicht wissen kann? Darunter liegt wohl die Prämisse verborgen, dass die Bibel nicht glaubwürdig sei.
Eine zweite, verborgene Prämisse liegt wohl darin, dass Bultmann eine leibhaftige Auferstehung Jesu leugnet und damit auch automatisch die Möglichkeit ausschließt, dass Jesus selbst seinen Jüngern nach der Auferstehung die Bedeutung seines Todes als Sühnetod erklärt hat – und dann ist es auch kein Wunder, dass Bultmann zu solchen Ergebnissen kommt. Die Prämissen prägen das Ergebnis: Wer von vorneherein ausschließt, dass Jesus vor seinem Tod am Kreuz wusste, dass sein Tod ein Sühnetod sein würde, der wird auch in seinen Forschungen nicht zu dem Ergebnis kommen, ob und was für einen Sinn Jesus in seinem Tod gesehen hat.
Da fühle ich mich jetzt doch etwas missverstanden. Der „historische Jesus“ ist doch ein Konstrukt der historischen Wissenschaften, und von denen sollte sich der glaube doch nicht abhängig machen. Denn dann ist es ja kein Glaube mehr, sondern eine merkwürdige Form von Halbwissen. Der Glaube aber sieht, weil er Glaube ist, die historische Wahrheit vom auferstandenen Christus her: denn nur von daher erschließt sich die Bedeutung des „historischen Jesus“. Der Irrtum vieler Fundamentalisten ist, dass der Glaube wahrer wird, wenn die historische Wahrheit der Erzählungen wahrer wird. Aber das ist epistemischer Unfug. Die Erzählungen selber sind schon Reflex auf die Existenz Jesu und hinter sie können wir nicht zurück. Eine biblizistische-fundmentalistische Sichtweise geht eben genau jener Moderne auf dem Leim, den sie meint ablehnen zu müssen: dem Szientismus. Da ging Bultmann schlicht nicht weit genug, und darauf bezieht sich ja Karl Barths Diktum, die historisch-kritischen müssten kritischer sein: Ihrer eigenen Kritik gegenüber nämlich.
@Roland Kupski Ich muss gestehen, dass ich mir wirklich nicht sicher bin, ob ich Sie richtig verstehe. Vor allem, wenn sie vom Konstrukt des „historischen Jesus“ sprechen. Natürlich gibt es Jesusbilder, die mehr der Vorstellung des jeweiligen Theologen entsprechen, der sich mit Jesus befasst. Auf diesen Fehler hat ja bereits Schweizer hingewiesen, ist ihm ironischerweise dann jedoch selbst erlegen. Aus dieser Sicht könnte man wirklich vom Konstrukt des historischen Jesus sprechen. Mir kommt ihr Kommentar jedoch so vor, als spielten sie Glaube gegen Historizität aus. Sollte dem so sein, könnte ich nicht folgen. Gott wird in der Bibel gerade als ein in der Geschichte wirkender bzw. Geschichte wirkender Gott beschrieben. Meiner Meinung nach kann es keinen Christus des Glaubens geben, der nicht in Kontinuität zum historischen Jesus steht, wie er in den Evangelien dargestellt wird. Wäre es nicht seltsam, wenn jemand in 200 Jahren eine Biographie über den Altkanzler Gerhard Schröder liest und ein Forscher sagt ihm: „Du hast jetzt… Weiterlesen »