Im Buch Die Postmoderne schreibe ich (2007, S. 53–54):
Im postmodernen Denken ist kein Platz für ein für alle Mal feststehende Werte oder eine festgelegte Natur des Menschen. Da der Mensch eine Erfindung von Machtdiskursen ist, orientiert er sich nicht an ewigen Wahrheiten, sondern handelt Normen ständig neu aus. Lyotard weist darauf hin, dass permanente „Institutionen in beruflichen, affektiven, sexuellen, kulturellen, familiären und internationalen Bereichen wie in politischen Angelegenheiten“ durch „zeitweilige Verträge“ ersetzt werden. Folgerichtig ist Sexualität in der Postmoderne keine Frage theologischer Ethik oder des Naturrechts, sondern Verhandlungssache. Die Verträge, die ausgehandelt werden, können immer nur Übergangsverträge sein, da sonst wieder langfristige Bindungen entstehen. Die herkömmliche Sexualmoral wird ersetzt durch Verhandlungsmoral und Lebensabschnittsgefährten. Postmoderne Moral bewertet nicht die Sexualität selbst, sondern nur die Art und Weise, wie sie zustande kommt. „Ob hetero-, homo- oder bisexuell; ehelich oder außerehelich; genital, anal oder oral; zart oder ruppig; bieder oder raffiniert, sadistisch oder masochistisch, zu zweit oder in Gruppen – all das ist moralisch ohne Belang. Von Belang ist, dass es ausgehandelt wird; und selbst Abstinenz kann verhandlungsmoralisch wieder zu Ehren kommen, verkleidet als ‚neue Keuschheit‘. Die Konsequenz ist ebenso radikal wie bemerkenswert: Die ‚normale‘ Sexualität, Heterosexualität, wird zu einem von vielen Lebensstilen, eine von vielen möglichen Arten, sexuell zu sein“ (Gunter Schmidt, „Die andere Seite der Sexualität“).
Mit der Zulassung einer „Homo-Ehe“ ist folglich kein Endpunkt im Ringen um die neue Moral erreicht. Solange ihre Zulassung umstritten war, haben sich politische Kräfte und Lobbygruppen mit weitergehenden Forderungen zurückgehalten. Jetzt, wo in den USA das Etappenziel erreicht ist, beginnen die Diskussionen zugunsten eines deutlich erweiterten Ehe- und Familienbegriffs. Kurz: Was hält uns eigentlich davon ab, auch polyamoren Beziehungsgeflechten den Ehestatus zuzugestehen? Wer will denn wie begründen, dass die Ehe nur eine Beziehung zwischen zwei verschieden- oder gleichgeschlechtlichen Menschen sein kann? William Baude schreibt für die NEW YORK TIMES: „Während Richter Kennedy wiederholt von der Annahme ausging, dass zu einer Ehe zwei Leute gehören, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, dass ein anderer Richter in 20 bis 40 Jahren feststellt: diese Annahme ist unaufgeklärt.“
Welche Argumente momentan noch gegen die „erweiterte Ehe“ sprechen, können Sie hier selbst nachlesen: www.nytimes.com.