Fünf Jahre Neuer Realismus

Unter dem Banner eines „Neuen Realismus“ hat sich eine philosophische Bewegung formiert, die sich gegen postmodernen Konstruktivismus und gegen imperialistischen Naturalismus gleichermassen wendet (vgl. Die Rückkehr des Absoluten). Hauptgegner ist  der postmoderne Konstruktivismus, der in der heutigen Kultur- und Wissenschaftslandschaft und in der (evangelikalen) Theologie in verschiedenen Spielarten sein Unwesen treibt.

Der Erkenntnistheoretiker Markus Gabriel von der Universität Bonn gehört zu den Vätern der Bewegung. Anlässlich ihres fünfjährigen Bestehens hat er 2016 in der NZZ eine Bilanz gezogen. Darin beschreibt er die wesentlichen Stoßrichtungen:

Der Neue Realismus nimmt an, dass es objektive sowie subjektive Tatsachen gibt, die wir erkennen können. Viele dieser Tatsachen sind davon unabhängig, dass wir Überzeugungen dazu haben. Das ist Realismus. Neu ist dabei, dass nicht mehr angenommen wird, diese Tatsachen gehörten insgesamt zu genau einer Wirklichkeit, der Welt im allumfassenden Sinn dessen, was es überhaupt gibt. Vielmehr sind die Tatsachen in sich vielfältig: Es gibt soziale, mathematische, moralische, physikalische, juristische, historische Tatsachen usw. Entsprechend gibt es eine Vielzahl an Wissensformen und Wissenschaften, die jeweils ihre eigenen Tatsachenbereiche erforschen (nicht konstruieren!), die ich als «Sinnfelder» bezeichne.

Damit wendet sich der Neue Realismus gegen zwei grosse Weichenstellungen im gegenwärtigen Zeitgeist: die Postmoderne einerseits und das naturalistische Weltbild andererseits. Anhänger der Postmoderne halten den Realismus für naiv, und Fürsprecher des Naturalismus möchten ihn allenfalls für die Tatsachenerkenntnis der Naturwissenschaften reservieren.

Die Weichenstellungen gehen auf die Eröffnungszüge der neuzeitlichen Philosophie zurück, die unseren Zugang zur Wirklichkeit insgesamt für schwierig erachtet, da zwischen uns und der Wirklichkeit vermittelnde Instanzen stünden wie Sinneseindrücke, das Bewusstsein, die Sprache, die soziokulturellen Bedingungen der Wissensproduktion und anderes mehr. Diese Skepsis kulminiert in der Postmoderne, die uns weiszumachen versucht, dass wir die Wirklichkeit an sich nicht erkennen können bzw. dass es sie womöglich gar nicht gibt, wie die radikalen Konstruktivisten annehmen. Paradigmatisch hat bereits Nietzsche behauptet, dass wir letztlich keine Wahrheiten oder Tatsachen erkennen könnten, sondern stattdessen mit Illusionen bzw. «Lügen im aussermoralischen Sinne» leben müssten. Alles Erkennen sei perspektivisch gefiltert. Dinge an sich seien nutzlose Annahmen, Bewohner einer Hinterwelt, die mit dem Tod Gottes verschwinden solle.

Einer der Gründe dafür ist, dass die Aporien des Konstruktivismus mit dem Auftreten des Neuen Realismus öffentlich sichtbar werden; es wird nun stärker wahrgenommen, dass das konstruktivistische Vorurteil sich als Selbstverständlichkeit im Zeitgeist breitgemacht hat und damit eine soziopolitisch wirksame Macht entfaltete. Man kann auf Dauer nicht verbergen, dass es unsinnig ist, anzunehmen, dass wir das Wirkliche nicht so erkennen können, wie es an sich ist.

Hier: www.nzz.ch.

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5 Jahre zuvor

Markus Gabriels Meinung, es sei unsinnig, anzunehmen, dass wir das Wirkliche nicht so erkennen können, wie es an sich ist, muss ganz entschieden widersprochen werden: http://greiterweb.de/zfo/Realismus.htm#msgnr0-35 Farbe und Materie sind überzeugende Beispiele hierfür: Was wir als unterschiedliche Farben wahrnehmen, ist genau genommen elektromagnetische Strahlung unterschiedlicher Wellenlänge. Erst unser Gehirn setzt unterschiedliche Wellenlänge von Licht um in unterschiedlichen Farbeindruck um. Mit Materie ist es ähnlich: Wie die Quantenphysik uns beweist, ist jedes Stück Materie nichts weiter als Summe von Wellen im Feld der 4 physikalischen Grundkräfte. Eben deswegen hat Hans-Peter Dürr mal geschrieben (Zitat): „Ich habe als Physiker 50 Jahre lang — mein ganzes Forscherleben — damit verbracht zu fragen, was eigentlich hinter der Materie steckt. Des Endergebnis ist ganz einfach: Es gibt keine Materie!“ Steven Hawking schrieb: „Es hat keinen Zweck, sich auf die Wirklichkeit zu berufen, da wir kein modellunabhängiges Konzept der Wirklichkeit besitzen“. Mit anderen Worten: Selbst Physiker kennen die Wirklichkeit nicht. Sie, wie jeder Mensch, kann nur… Weiterlesen »

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