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Brian McLaren: Unterstützung für Rob Bell

Wir leben in aufregenden Zeiten. Das empfehlenswerte Blog „Sex and Culture“ gebraucht im Zusammenhang mit aktuellen ethischen Neuorientierungen das Bild der „Dammbrüche“. Das passt gut. Leider auch im Blick auf die Kirche.

In wenigen Tagen wird die EKD eine Orientierungshilfe zum Familienverständnis herausgeben. Ich rechne damit, dass sich die EKD durch die Verlautbarung ausdrücklich vom jüdisch-christlichen inspirierten Familienbegriff verabschiedet. Schon auf Seite 13 ist zu lesen (Zwischen Autonomie und Angewiesenheit, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2013):

Angesichts der Vielfall biblischer Bilder und der historischen Bedingtheit des familialen Zusammenlebens bleibt entscheidend, wie Kirche und Theologie die Bibel auslegen und damit Orientierung geben. Ein normatives Verständnis der Ehe als „göttliche Stiftung“ und eine Herleitung der traditionellen Geschlechterollen aus der Schöpfungsordnung einsprechen nicht der Breite des biblischen Zeugnisses.

Zeitzeichen fragt in der Buchvorstellung, wie es um die Segnung homosexueller Paare stehe (6/13, S. 17)?

Durch das biblische Zeugnis klinge als ,Grundton‘ vor allem der Ruf nach einem verlässlichen, liebevollen und verantwortlichen Miteinander, nach einer Treue, die der Treue Gottes entspreche. Somit „sind gleichgeschlechtliche Partnerschaften (…) auch in theologischer Sicht als gleichwertig anzuerkennen“.

Diese Entwicklung in der EKD kann kaum überraschen. Doch auch im evangelikalen Raum des Protestantismus tut sich etwas. Steve Chalke wirbt für Anerkennung homosexueller Partnerschaften. Kürzlich hat sich Rob Bell ähnlich geäußert. Unterstützung hat er von Brian McLaren erhalten, der sich im April in einer Videobotschaft dem Votum von Rob Bell anschloss.

Auch dies dürfte Kenner der Szene nicht überraschen. Entscheidend für diese Neuorientierung ist das Bibelverständnis der Verantwortlichen. Sie glauben nicht mehr an die Verbindlichkeit und Kraft des Wortes Gottes und behaupten mit Nachdruck und „gewiss“, dass die Bibel nicht mehr die Norm für theologische und ethische Entscheidungen sein kann. (Ich frage mich dann immer, woher sie in dieser Frage ihre Gewissheit nehmen.) 2007 haben ich in einem factum-Artikel über McLaren dazu geschrieben (nachzulesen auch hier):

Eine konsequente Kontextualisierung des Evangeliums verlange, dass die Heilige Schrift durch die Kultur der heutigen Glaubensgemeinschaft verstanden werde. Die Botschaft der Bibel müsse zusammen mit den Methoden der Verkündigung immer wieder überdacht und modifiziert werden (McLaren, 2003: 210). So kann die Bibel nicht mehr der Maßstab aller Maßstäbe sein, sondern nur noch eine Folie von menschlichen Erfahrungen, durch die Gott sich mehr oder weniger verständlich mitteilt.

Und weiter:

Leider ist zu befürchten, dass genau das eintritt, was McLaren vermeiden will: Die Gegenwartskultur wird die Botschaft des Evangeliums mehr und mehr überdecken. Wenn es nur noch miteinander vergleichbare Kulturen gibt, kann Kultur irgendwann nicht mehr vom Evangelium unterschieden werden. So wird das Christentum mehr und mehr Zeugnis ablegen von der Kultur, die es umgibt. Der Auftrag der Kirche Gottes besteht aber darin, das überzeitliche Evangelium von Jesu Tod und Auferstehung zu bezeugen. Das Evangelium kennt kein Verfallsdatum, sondern „ist den Heiligen ein für allemal überliefert worden“ (Jud 3).

Es ist eingetreten.

Der universelle Heilsoptimismus von Papst Franziskus

Papst Franziskus hat am Mittwoch eine Ansprache über das Gute gehalten (reinhören kann man beim Radio Vatikan hier). Er sagte dort (Quelle:):

Gott hat uns nach seinem Abbild geschaffen, und wir haben deswegen im Herzen dieses Gebot: Tue das Gute und tue nicht das Böse. Alle. ‚Aber Pater, der da ist doch nicht Katholisch, der kann doch gar nicht Gutes tun! Doch, das kann er. Das muss er! Aber Pater, der da ist doch kein Christ, der kann doch gar nichts Gutes tun! Doch, das kann er. Das muss er! Nicht können, sondern müssen! Weil er das Gebot Gottes in sich trägt. Dieses sich Abschließen gegen den Gedanken, das auch andere Gutes tun können, ist eine Mauer, die uns zu Krieg führt und dazu, wie einige in der Geschichte gedacht haben: Töten im Namen Gottes. Das ist Gotteslästerung. Zu sagen, dass man im Namen Gottes töten dürfe, ist Gotteslästerung.

Bis hier hin kann ich ihm völlig zustimmen. Heiden können in einem bestimmten Sinne sogar die besseren Menschen sein. Obwohl in den „himmlischen Dingen“ blind, sind sie in den „irdischen Angelegenheiten“ oft ehrbar. Nicht selten sind sie pflichteifrige Bürger. In einem Bereich, den die Reformatoren justitia civilis genannt haben, können sie sich tugendhafter als Christen benehmen. Der Sünder ist fähig, Einzelsünden, wie z. B. das Stehlen oder Betrügen, zu meiden. Allerdings ist er unfähig, kein Sünder zu sein, also Gott versöhnt mit ganzem Herzen zu lieben.

Deshalb muss ich Papst Franziskus deutlich widersprechen, wenn er weiter sagt (Quelle):

Der Herr hat uns alle erlöst, uns alle, mit dem Blut Christi: alle von uns, nicht nur die Katholiken. Jeden! „Vater, und die Atheisten?“ Auch die Atheisten, jeden, und das Blut macht uns zu Kindern Gottes der ersten Klasse! Wir sind Kinder in dem Bilde Gottes geschaffen und das Blut Christi hat uns alle erlöst! Und wir alle haben die Pflicht, Gutes zu tun.

Hier vermischt nun Papst Franziskus die allgemeine mit der besonderen Gnade. Die letztere schenkt Gott denen, die Jesus Christus vertrauen (siehe dazu hier). Wer aus Gott geboren ist und an den Sohn Gottes glaubt, ist ein Kind Gottes. So heißt es im Johannesevangelium (Joh 1,9–13):

Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen.  Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht.  Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.  Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut noch aus dem Willen des Fleisches noch aus dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.

In den letzten Monate wurde viel darüber gerätselt, wo denn der neue Papst theologisch verortet sei. Ist er ein Befreiungstheologe, ein Charismatiker oder ein evangelikaler Katholik? Am Mittwoch ist er dem Denken Karl Rahners gefolgt. Dieser hat sich in seinem Aufsatz „Die bleibende Bedeutung des Zweiten Vatikanischen Konzils“ (StdZ 12/1979, S. 795–806) ausdrücklich gegen Augustinus gewandt und dem „Zweiten Vatikanischen Konzil“ einen universellen Heilsoptimismus zugeschrieben (S. 804):

Das Konzil aber sagt, daß selbst der, der meint Atheist sein zu sollen, mit dem österlichen Geheimnis Christi verbunden ist, wenn er nur seinem Gewissen folgt, daß jeder Mensch in einer Weise, die nur Gott kennt, mit dessen Offenbarung in Berührung steht und wirklich, im theologischen Sinn einer heilshaften Tat, glauben kann. Da wird gesagt, daß auch die, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, dem wahren Gott nicht fern sind, der will, daß alle Menschen gerettet werden, wenn sie nur ein rechtes Leben zu führen sich bemühen. Da wird betont, daß die Kirche nicht so sehr die Gemeinschaft der allein Geretteten ist, sondern das sakramentale Ur-Zeichen und die Keimzelle des Heils für die ganze Welt.

VD: BS

Sören Kierkegaard vor 200 Jahren geboren

SKierkegaard
Sören Kierkegaard

Gestern wäre der dänische Schriftsteller und Philosoph Sören Kierkegaard 200 Jahre alt geworden. Anbei der Link zu einem kurzen ERF-Interview, das ich heute anlässlich des Jahrestages gegeben habe (beim Gespräch ist leicht zu „erhören“, dass ich gerade mit einer Erkältung und einer Pollenallergie kämpfe).

Zur Vertiefung empfehle ich den Aufsatz „Schaeffers Kierkegaard: Können wir mit ihm leben“ aus dem Buch Wahrheit und Liebe (Bonn: 2006, S. 127–180) oder die gekürzte Version: Ron Kubsch: „Kierkegaards Sprung“, MBS Texte 144 (2010). Der MBS Text kann hier unentgeltlich heruntergeladen werden: mbstexte144.pdf.

ARD Stimmungsmache

Zu den Aufgaben von Journalisten gehört es, den Bürger zu informieren und genau hinzusehen. „Die Mehrzahl der in Deutschland gedruckten und gesendeten Informationen erfüllt diesen Auftrag nicht“, meint Wolf Schneider. Schon 1984 schrieb er (Deutsch für Profis, 1984, S. 11):

Millionen Bürger werden durch den Hochmut oder die Gleichgültigkeit einiger tausend Journalisten vom Gros jener Informationen abgeschnitten, die sie wahrlich brauchen könnten, um ein aufgeklärter Volkssouverän zu sein. Es besteht ein groteskes Missverhältnis zwischen der Flut der auf uns eindringenden Informationen mit ihrer Bedeutung für die Wählerschaft – und dem beschämenden handwerklichen Standard, in dem sie überwiegend dargeboten werden.

Ein aktuelles Beispiel bestätigt leider wieder einmal diese düstere Einschätzung.

Viele werden sich noch an die berüchtigte Amazon-Dokumentation der ARD erinnern. Damals wurde angeblich aufgedeckt, was sich hinter der Fassade von Amazon.de versteckt. Gewerkschaften, Politiker und viele mündige Bürger forderten Sofortmaßnahmen und drohten sogar mit dem Entzug der Lizenz (vgl. hier).

Und was ist nun zu lesen? Das Leipziger Job-Touristikunternehmen CoCo, das aufgrund der Reportage den Vertrag mit Amazon verlor, hat gegen den Hessischen Rundfunk in der Sache eine einstweilige Verfügung erwirkt, da der Bericht der ARD stellenweise fingiert war. Meedia meldet heute:

Schon vor der Gerichtsentscheidung habe die Rechtsabteilung des HR eine Manipulation freiwillig eingeräumt, heißt es in der Kanzlei-Stellungnahme weiter: “Eine im Film als Beweis für die behaupteten Missstände als Screenshot gezeigte E-Mail war fingiert, die angebliche polnische Zeugin frei erfunden. Wörtlich teilte die HR-Rechtsabteilung dazu mit: „Dass eine Frau Agnieszka Lewandowska niemals als Leiharbeiterin bei Amazon beschäftigt war, ist richtig“.

Geschichte und Offenbarung bei Rudolf Bultmann

Rudolf Bultmann PortraitRudolf Bultmanns (1884–1976) Hauptinteresse galt dem Verhältnis von Offenbarung und Geschichte. Also: Können wir die Bibel noch so auslegen, dass sowohl der Bezug zur Geschichte als auch der Bezug zu Gott gleichermaßen zur Geltung kommen?

Auf der einen Seite wurde er mit dem Reduktionsverfahren der liberalen Theologie konfrontiert. Die Exegeten und Ethiker des 19. Jahrhunderts hatten die Botschaft des Neuen Testaments auf bestimmte religiöse und sittliche Grundgedanken reduziert. Bultmann sah darin einen offensichtlichen Mangel des göttlichen Bezugs in der Rede von Gott. Da es hierbei um Religiosität aber nicht um Heil ging, lehnte er diesen Weg mit aller Schärfe ab. Auf der anderen Seite fehlte jedoch dem bekenntnisorientierten Biblizismus der Bezug zur Geschichte. Von dem modernen Menschen könne man nicht mehr erwarten, dass er die Mythologie des Neuen Testaments bejahe. Bultmann: „Kann die christliche Verkündigung dem Menschen heute zumuten, das mythische Weltbild als wahr anzuerkennen?“ Die Antwort ist klar: „Das ist sinnlos und unmöglich.“

Obwohl Bultmann sich seit Jahren mit dem Problem beschäftigte und darüber publizierte, war es ein 1941 gehaltener Vortrag zu dem Thema: „Neues Testament und Mythologie“, der Bultmann berühmt machte. Der Beitrag wurde noch im selben Jahr als kleines Buch gedruckt und nach dem Krieg in großen Mengen verkauft. Bultmann hat darin – so kann man es sehen – sein Lebenswerk zusammengefasst. Hier zeichnet er den gesuchten dritten Weg, der seiner Meinung nach sowohl der Geschichte als auch Gott angemessen ist.

Bultmann möchte das Wort der Bibel wieder so verständlich machen, dass es die aufgeklärten Menschen der Neuzeit als Anrede Gottes verstehen können. Was das Wesen des Wortes der Bibel verdunkelt, ist der tiefe Graben zwischen der mythologischen Vorstellungswelt damals und der aufgeklärten heute. Unser Weltbild wird durch die Wissenschaft bestimmt, das Weltbild des Neuen Testaments dagegen ist durch und durch mythologisch. Das Neue Testament stellt uns einen dreistöckigen Kosmos vor, in dem jeweils Gott, Satan und Mensch zu Hause sind. Für uns ist das nicht mehr akzeptabel. Es ist, so formuliert Bultmann gern, „erledigt“. Erledigt sind die Geschichten von der Höllen- und Himmelfahrt Christi. Erledigt ist die Vorstellung von einer unter kosmischen Katastrophen hereinbrechenden Endzeit. Erledigt ist die Erwartung des auf den Wolken des Himmels kommenden Menschensohnes. Erledigt sind die Wunder als bloße Wunder. Erledigt ist der Geister- und Dämonenglaube.

Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.

Aber nicht nur das naturwissenschaftliche Weltbild fordert Bultmann zur Kritik an den mythologischen Vorstellungen der Bibel heraus. Noch wichtiger ist ihm das Selbstverständnis des modernen Menschen.

Der Mensch versteht sich nicht mehr als ein dualistisches Wesen, das für das Eingreifen Gottes offen und bereit ist. Der Mensch von heute ist ein geschlossenes Wesen, dass sich selbst sein Denken, Fühlen und Wollen zuschreibt. Wieder fährt Bultmann scharfe Geschütze auf: Unverständlich ist für den modernen Menschen die Vorstellung von dem göttlichen Geist als einem übernatürlichen Etwas, das in das Gefüge der natürlichen Kräfte eindringt. Unverständlich ist für ihn die Deutung des Todes als einer Strafe für die Sünde. Unverständlich ist für ihn die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch das Sterben Christi am Kreuz. „Wie kann meine Schuld durch den Tod eines Schuldlosen (wenn man von einem solchen überhaupt reden darf) gesühnt werden? Welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff?“ Unverständlich ist die Auferstehung Christi als ein Ereignis, durch das eine Lebensmacht entbunden ist, die man sich durch Sakramente aneignen kann. Unverständlich ist für ihn die Erwartung, in die himmlische Lichtwelt versetzt und dort mit einem neuen, geistlichen Leib überkleidet zu werden.

Wie nun ist dieser große Widerspruch zwischen der mythologischen Welt der Bibel und dem Weltbild und Selbstverständnis des modernen Menschen aufzulösen? Den Weg des Liberalismus kann Bultmann nicht gehen. Der Weg des Biblizismus ist für ihn ein Gräuel. Seine Antwort lautet: Soll die Verkündigung des Neues Testamentes ihre Gültigkeit behalten, so gibt es gar keinen anderen Weg als sie zu entmythologisieren.

So macht sich es Bultmann zum Programm, das Heilsgeschehen, über das im Neuen Testament berichtet wird, ohne Mythos darzustellen und damit die Wahrheit der biblischen Botschaft so zu vermitteln, dass sie glaubhaft wird. Bultmann will nicht im Sinne des Liberalismus den Mythos eliminieren. Nein. Im Mythos wird der Mensch inne, dass die Welt, in der er lebt, voller Rätsel und Geheimnisse ist, dass er nicht Herr über die Welt und sein Leben ist, sondern vielmehr abhängig von Mächten jenseits des Bekannten. Der Mythos erzählt über die Unkontrollierbarkeit des Lebens jedoch in einer unzureichenden Art und Weise. Er redet vom Unweltlichen weltlich. Er objektiviert das Jenseits zum Diesseits. Die Götter erscheinen als menschliche Wesen. Der Mythos steht sich in der modernen Gesellschaft selbst im Wege. Und so fordert Bultmann in seinem Verfahren nicht die Eliminierung des Mythos, sondern seine existenziale Interpretation. Er will die mythologischen Vorstellungen nicht ausschalten, sondern auf ihr Existenzverständnis befragen. Der tiefere Sinn, die nicht offensichtliche Bedeutung der Texte, soll aufgedeckt und verkündet werden.

Entmythologisierung ist für Bultmann also nicht eine Verkürzung der Botschaft, sondern seine hermeneutische Methode zum Aufschließen der eigentlichen Botschaft der Bibel. Bultmann wörtlich: „Ich nenne eine solche Interpretation existenziale Interpretation, da sie bewegt von der Existenzfrage des Interpreten, nach dem in der Geschichte jeweils wirksamen Existenzverständnis fragt“ (Rudolf Bultmann, „Zum Problem der Entmythologisierung“, in: Hans Werner Bartsch, Herbert Braun u. a., Kerygma und Mythos VI, Hamburg, 1963, S. 20–27, hier S. 21).

Spätestens jetzt, bei der Hermeneutik, können wir seine Nähe zu Heidegger feststellen. Heidegger hatte in seinem Hauptwerk Sein und Zeit versucht, das traditionelle Subjekt-Objekt-Denken, dass die Philosophie von der Antike her bis in die Neuzeit beherrschte, zu überwinden. Er machte das falsche Geschichtsbild dieses Denkschemas für das Scheitern der Philosophie verantwortlich. Das Kennzeichen des Historismus besteht nach Heidegger darin, dass die Werke der Geschichte als Quellen benutzt werden, aus denen man ein Bild der Vergangenheit rekonstruiert. Der Historiker protokolliert und sortiert die Geschichte und produziert damit ein statisches Abbild des einmal Gewesenen. Nach Heidegger ist das ignorant. Die Welt wird zum Gegenstand, den der Mensch zu begreifen sucht. Und damit springt der Mensch geradezu aus seiner Existenz heraus. Er malt sich ein Bild von der Welt ohne die Berücksichtigung der eigenen Existenz.

Genau das sucht Heidegger zu überwinden. Er denkt in seiner Philosophie nicht im klassischen Subjekt-Objekt-Schema, sondern in der Kategorie des Seins. Der Mensch lässt sich von der Geschichte ergreifen, als ein Teil von ihr mit hineinziehen. Verstehen der Geschichte vollzieht sich in der Begegnung mit der Geschichte (der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer sprach von „Horizontverschmelzung“). Diese Begegnung stellt unsere eigene Existenz in Frage, deckt die Geschichtlichkeit des eigenen Daseins auf. Indem der Mensch in den Dialog mit der Geschichte eintritt, tritt er in ein Gespräch mit sich selbst ein. Geschichtsauslegung und Selbstauslegung korrespondieren miteinander.

So geht es auch Bultmann nicht um das Konstatieren historischer Ereignisse, sondern um das, was in der Mythologie das eigentlich Bedeutsame für unsere Existenz ist. Seine Antwort lautet „Kerygma“. Der Begriff Kerygma stammt aus dem Neuen Tetstament und bedeutet so viel wie „Botschaft“, „Proklamation“, „Predigt“. Der Inhalt des Kerygmas ist das Christuszeugnis. Wo das Christusgeschehen gegenwärtig ist, da können Menschen heil werden.

Bultmann wiederholt immer wieder, dass uns Christus im Wort begegnet, und zwar nur im Wort. Ich zitiere: „Im gepredigten Wort und nur in ihm begegnet der Auferstandene.“ Oder: „Jesus Christus begegnet dem Menschen nirgends anders als im Kerygma“. Noch ein klassischer Bultmann-Satz: „Indem Gott Jesus kreuzigen ließ, hat er für uns das Kreuz errichtet: an das Kreuz Christi glauben, heißt nicht, auf einen mythischen Vorgang blicken, der sich außerhalb unser und unserer Welt vollzogen hat, auf ein objektiv anschaubares Ereignis, das Gott als uns zugute geschehen anrechnet; sondern an das Kreuz glauben, heißt, das Kreuz Christi als das eigene übernehmen, heißt, sich mit Christus kreuzigen lassen.“

Kerygma als die Christusbotschaft im Wort korrespondiert bei Bultmann mit dem Selbstverständnis. Das Offenbarungshandeln Gottes, dass uns im Kerygma begegnet, verleiht uns ein neues Selbstverständnis. Es lehrt uns, uns in einem neuen Licht zu sehen. Der Glaube ruft in eine neue Existenz.

Bultmanns Programm der Entmythologisierung wirkt rückblickend ziemlich autoritär. Er weiß ganz genau, was „modern“ und damit annehmbar ist und was nicht. Die Weltanschauung, die er instrumentalisiert um die Offenbarung zu kritisieren, ist heute – nur 60 Jahre später – selbst ein Mythos.

Ein anderer Kritikpunkt wirkt noch schwerer: Da man von Gott nur indirekt reden kann, sind alle theologischen Aussagen nur als existentielle Aussagen wahr. Alle Mitteilungen über Gott müssen in die menschliche Existenz gefasst sein. Darum kommt Bultmann zu einem wichtigen Satz. Wer diesen Satz verstanden hat, hat wahrscheinlich Bultmann verstanden: „Will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.“ Die Rede von Gott wird zur Rede über den Menschen. Das Unendliche ist letztlich das Eigentliche des Endlichen, Theologie ist Anthropologie.

Es war Bultmanns Anliegen, die Spannung zwischen Geschichte und Offenbarung zu überwinden. Er entschied sich gegen die Geschichte für die Offenbarung, redet jedoch nur vom Menschen.

Der Theologieprofessor Matthias Krieger wirbt in dem nachfolgenden DLF-Gespräch für das Programm der Entmythologisierung. Er spricht so, als ob wir von Bultmann noch viel erwarten könnten. Ich rechne eher damit, dass nach 100 Jahren Metaphysik- und Mythoskritik die Freude am Metaphysischem zurückkehrt. Kein Wunder. So viel Anthropozentrismus muss irgendwann langweilig werden.

Die Fratze der „Neuen Toleranz“

In dem Beitrag „Die Schweigespirale“ habe ich auf zwei Ausführungen zur „Neuen Toleranz“ verwiesen. Jene – so die Behauptung – die eine vom Mainstream abweichende Sichtweise vertreten, kann es heute hart treffen. Gewöhnt haben sie sich an soziale Ausgrenzung und mediale Ächtung. Es kann schlimmer kommen: Der australischen Musikwissenschaftler Richard Parncutt, der in Graz lehrt, plädierte vor einigen Monaten dafür, Gegner der These von der globalen Erwärmung mit der Todesstrafe zu belegen. Inzwischen hat Parncutt unter dem Druck des Rektorats seinen Text zurückgezogen (hier ist er noch zu finden), aber der Vorfall bleibt symptomatisch für eine Gesellschaft, die mit dem dümmlichen „Fundamentalismusvorwurf“ Gleichdenkerei rechtlich einfordert.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich das Video „No Pressure“ bewerben soll. Aus zwei Gründen. Erstens bin ich selbst für den realitätsbezogenen Umweltschutz. Mir liegt wenig daran, mich über Leute lustig zu machen, die sich für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen. (Das der Umweltschutz inzwischen so etwas wie ein neuer „Meganarrativ“ geworden ist, ist eine anderes Thema.) Zweitens ist das Video nicht gewaltfrei. Ich kann es nur Leuten mit starken Nerven empfehlen.

Da es insgesamt ungewollt auf eine gesellschaftliche Neigung aufmerksam macht, nehme ich den Protest in Kauf. Warum ungewollt? Nach allem, was ich weiß, handelt es sich um eine Produktion der Umweltorganisation 1010global.org. No pressure!

Also hier das Video in englischer Sprache:

Das Evangelium für die nächste Generation

R.Kubsch_Das_Evangelium_fuer_die_naechste_Generation_(Edition-E21).jpgDer Pietist Philipp Jacob Spener diagnostizierte im 17. Jh. zwei Bedrohungen für die Gemeinde Jesu: außen Verfolgungen und innen Versuchungen. Er entwarf ein Reformprogramm, welches verschiedene Lebensbereiche erfassen sollte. Einen besonderen Stellenwert räumt er dabei der Theologie und der Theologenausbildung ein. Seine Anmerkungen zur Theologie sind bemerkenswert. Was er damals schrieb, klingt immer noch sehr aktuell:

Aber wir können ja nicht in Abrede stellen, dass, ob wir wohl durch Gottes Gnade die reine Lehre aus Gottes Wort noch haben, dass gleichwohl hin und wieder allgemach in die Theologie viel Fremdes, Unnützes und mehr nach Weltweisheit Schmeckendes eingeführt wird.

Das E21-Booklet:

  • Ron Kubsch: Das Evangelium für die nächste Generation, 3L Verlag, 2012, 27 S.

geht auf das Thema ein. Es kann hier gratis heruntergeladen werden: Generation_(Edition-E21).pdf.

Die normative Ethik der „Politischen Korrektheit“

Es ist einige Wochen her, da ging die Meldung von der Insolvenz der Frankfurter Rundschau (FR) durch die Presse. Im Radio – ich meine es war der Deutschlandfunk – hörte ich, wie ein Journalist, der hin und wieder in der FR publiziert hatte, zum Sterben der renommierten Zeitschrift interviewt wurde. Sein Fazit überraschte mich. Es klang ungefähr so: „Eigentlich brauchen wir die FR nicht mehr. Sie hat ihren Zweck erfüllt. Die Autoren, die die Anliegen der 68er verfechten, sitzen heute in den bürgerlich-konservativen Redaktionen.“

Wie kann es sein, dass die Anliegen der anfänglich recht eruptiven 68er-Kulturrevolution heute Mehrheitsmeinung sind? Ja mehr noch: Wie konnte es passieren, dass sich schleichend die Ethik der „Political Correctness“ so fest etablieren konnte, dass sie quasi den Status einer neuen normativen Ethik erhalten hat? Weshalb haben sich „Linke“ wie „Rechte“ so schnell an die Weltanschauung einer Minderheit von postmodernen, postjüdisch-christlichen Intellektuellen gewöhnt?

Natürlich hat das was mit dem intellektuellen Klima an den westlichen Universitäten zu tun. Ob in Deutschland, Frankreich oder in den USA, herausragend waren in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts die Vertreter kritischer Theorien. Gewiss spielen auch die sogenannten „Pressure-Groups“ eine Rolle. Gemeint sind (oft relativ kleine) Interessengruppen, die Druck auf Parteien, Parlamente oder Regierungen ausüben und auf diese Weise ihre Agenden „durchdrücken“, bis diese letztlich in Beschlüssen und Gesetzestexten kanonisiert werden.

Eine noch größere Bedeutung fällt jedoch der Neubesetzung der Sprache zu. Über große Institutionen wie die UNO oder die EU wurde das Paradigma der „Politischen Korrektheit“ in eine globale Sprache „gegossen“. Durch die Einführung neuer Begriffe wie „sexuelle Vielfalt“, „Gleichstellung“ oder „Nichtdiskriminierung“ und die gleichzeitige Ächtung oder Umdeutung von Begriffen wie „Wahrheit“, „Familie“ oder „Sünde“ ist eine neue Denkweise und Ethik erzwungen worden, die längst nicht mehr im Elfenbeinturm einer Elite diskutiert, sondern in den Schulen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Durch die Dekonstruktion der abendländischen Sprache fehlt das Handwerkszeug, um diese schleichende Kulturrevolution überhaupt „wahrnehmen“ zu können. Insofern merken viele Menschen gar nicht, dass die eindimensionale Verabsolutierung von Selbstbestimmung und Gleichheit neue Formen der Unfreiheit herbeiführt. Kurz: Es wird schlichtweg versucht, zu verbieten, anders über dies und das zu denken (siehe z.B. hier).

Dankenswerterweise hat sich die belgische Philosophin Marguerite A. Peeters eingehend mit der säkularen Neuinterpretation der Kultur befasst. Was sie herausgefunden hat, ist bemerkenswert. Die neue Ethik der „Politischen Korrektheit“ stößt durch die Einführung einer neuen Terminologie kaum auf Widerstand. Und: Sie verschließt die Menschen gegenüber der Transzendenz:

Genau an dem, was die neue Ethik beiseite schieben möchte, macht sie deutlich, was sie dekonstruieren möchte: Eine Offenheit für die Transzendenz – wobei besonders die jüdisch-christliche Tradition im Visier ist. Die neue Ethik ist säkularistisch, d.h. ausschließlich innerweltlich ausgerichtet. Sie nimmt eine Neuinterpretation universaler menschlicher Werte und gegenwärtiger menschlicher Hoffnungen und Sehnsüchte auf der Basis eines neuen, säkularistischen Rahmens vor. Sie verabsolutiert vor allem Freiheit und Gleichheit und löst diese von ihrer natürlichen Bindung an das Gesetz, das jedem Menschen ins Herz geschrieben ist. Freiheit wird zu einem Prozess der „Befreiung“ von diesem Gesetz. Freiheit wird zum Recht, tun zu können, was man will, selbst wenn es gegen das eigene Gewissen ist und gegen das, was dieses als wahr und gut erkannt hat. Gleichheit wird zu einem Prozess der „Dekonstruktion“ aller Unterschiede, die doch in die Lebenswirklichkeit eingeschrieben sind. Gleichheit ist zu einem Prinzip geworden, das in der Praxis vor allem für Minderheiten gilt, die den Freiheitsbegriff missbrauchen und „gleiche Rechte“ fordern und dabei den Unterschied zu Rechten, die sich an Wahrheit und Wirklichkeit orientieren, missachten. Diese Radikalisierung von Freiheit und Gleichheit geschah nicht über Nacht. Es war ein langer geschichtlicher Prozess, der bis zur Französischen Revolution zurückreicht.

Die Werte der postmodernen Ethik sind eine Reaktion auf missbräuchliche Strukturen und Haltungen der Neuzeit. Sie sind eine Reaktion auf Machismo (Männlichkeitswahn), Autoritarismus (autoritäres Verhalten, autoritäre Systeme), Kolonialismus, Hartherzigkeit, Ausgrenzung, Vernachlässigung der Umwelt, Ungleichheit. Doch die neuen Werte sind durch die radikale Agenda, die dahinter steht, schon beschädigt. Sie haben sich durchgesetzt, ohne auf Widerstand zu stoßen, und sich still und heimlich im kulturellen und politischen Mainstream etabliert.

Wie wahr ist doch, was Marguerite A. Peeters über die passive Mehrheit schreibt:

Wie die französischen Aristokraten zur Zeit der Revolution, die in ihren Schlössern saßen und Tee tranken und dabei Staatsgeschäfte diskutierten, bis sie unter der Guillotine starben, so beobachtete auch die Mehrheit der westlichen Christen die kulturelle Revolution aus der Ferne. Abgrundtief ist ihre Unkenntnis über die historische Entwicklung, die Inhalte, Strategien und Umsetzungs­mechanismen der kulturellen Revolution.

Ich wünsch mir was: Junge, neugierige und intelligente Christen sollten sich verantwortungsvoll und differenziert mit dieser „Neuen Orthodoxie“ auseinandersetzen und mittelfristig – hier passt dieses Wort – progressive Trends einleiten.

Ich bin dankbar, dass das „Deutsches Institut für Jugend und Gesellschaft“ (DIJG) den Artikel übersetzt und in der Bulletin-Ausgabe 1/2012 (Nr. 21) veröffentlicht hat. Den Aufsatz von Frau Marguerite A. Peeters gibt es auch hier: www.dijg.de.

Abraham Kuyper (Schluß)

 

Abraham Kuyper: Der reformierte Denker 

Denkerischer Ausgangspunkt für Kuyper ist das Bekenntnis zur absoluten Souveränität Gottes. Dieser Glaube an die allumfassende Königsherrschaft von Jesus Christus (engl. Lordship Principle) bedeutete ihm, dass der Calvinismus als eine Lebensanschauung (engl. Life-System) anzusehen ist, die jeden Bereich der Wirklichkeit berührt. Die Herrschaft von Jesus Christus über die gesamte Wirklichkeit konkretisiert sich in drei Ordnungen, die jeweils unmittelbar Gott unterstellt sind, nämlich Staat, Gesellschaft und Kirche (Abraham Kuyper, Lectures on Calvinism, Grand Rapids, MI: Erdmans, Reprint 2002, S. 79). 
 
Einerseits verteidigte Kuyper große (Wieder-)Entdeckungen der Reformatoren wie die tiefe Sündhaftigkeit aller Menschen, die Glaubensgerechtigkeit oder die Erwählung, andererseits gab er dem Calvinismus ein aufgeschlossenes und der Welt zugewandtes Gesicht. Gelingen konnte ihm das durch die gleichzeitige Betonung von Antithese und allgemeiner Gnade.
 
Mit der Antithese hebt Kuyper den Gegensatz von Kirche und Welt heraus. Die Kinder Gottes leben versöhnt nach dem Glauben zur Ehre Gottes. Die Kinder der Welt richten sich nach ihrem eigenen verdorbenen Herzen und rebellieren gegen Gott. Diese vorausgesetzte Antithese führt allerdings nicht in den Kulturpessimismus, dem Kuyper die „allgemeine Gnade“ gegenüberstellt. 
 
Während die spezielle Gnade die erwählten Menschen erleuchtet und mit Gott versöhnt, schenkt uns die allgemeine Gnade, was wir zum Leben benötigen und begrenzt die sündhaften und destruktiven Mächte dieser gefallenen Welt. Von der allgemeinen Gnade profitieren also alle Menschen. Gott versprach im Noahbund, die Erde trotz der Bosheit der Menschen zu erhalten (vgl. Gen 8,21). „Solange die Erde währt, sollen nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“ Gen 8,22). Gott „lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“ (Mt 5,45). Die allgemeine Gnade gibt den Ebenbildern Gottes das Mandat für die Erforschung und Gestaltung dieser Welt. Für die Christen heißt das, dass sie zusammen mit den Heiden kulturschaffend tätig sind. Sie arbeiten, sie engagieren sich für Gerechtigkeit und Wohlfahrt, sie sind künstlerisch tätig oder treiben Sport. All das verbindet sie nicht nur mit den Christen, sondern auch mit ihren ungläubigen Freunden und Nachbarn, deren Leistungen sie wertschätzen. Eine besondere Stellung räumte Kuyper übrigens der Wissenschaft ein, indem er sie in der Schöpfung ansiedelte. „Ohne Sünde“, schrieb Kuyper, „gäbe es weder einen Staat noch die christliche Kirche, aber die Wissenschaft“ (Wisdom & Wonder, Grand Rapids, Michigan, 2011, S. 35). 
 
Im niederländischen Protestantismus erntete der Neo-Calvinismus mitunter scharfe Kritik. Kuyper wurde und wird vorgeworfen, er habe das reformierte Christentum von der überlieferten reformierten Theologie entfremdet. Tatsächlich veränderte sich unter ihm das „reformierte Selbstverständnis“. 
 
Kuyper verlor beispielsweise vertraute Mitstreiter, als er eine Korrektur des Niederländischen Glaubensbekenntnisses (lat. Confessio Belgica) einforderte. Er störte sich am Artikel 36, wo zur Bestimmung des Staates gesagt wird, dass dieser nicht nur für die bürgerliche Verfassung zu sorgen hat, sondern auch darum bemüht sein soll, „dass der Gottesdienst erhalten werde, aller Götzendienst und falscher Gottesdienst entfernt werde, das Reich des Antichrists zerstört, Christi Reich aber ausgebreitet werde. Endlich ist es ihres Amtes zu bewirken, dass das heilige Wort des Evangeliums überall gepredigt werde und dass jeder Gott auf reine Weise nach Vorschrift seines Wortes frei verehren und anbeten könne“. Kuyper sah hier eine unzulässige Verknüpfung von Staat und Kirche und deshalb eine Verletzung der „Souveränität im eigenen Kreis“. Er war überzeugt, dass Familie, Staat und Kirche jeweils eigene Domänen sind, die sich gegenseitig nicht „hineinregieren“ sollten. R. S. de Bruïne (1869–1941) hat diese kuypersche „Sphärensouveränität“ einmal markant formuliert: „Es ist unsere Überzeugung, dass es nicht zur Berufung des Staates gehört, das soziale Leben von oben zu kontrollieren und es in vorgefertigte Bahnen zu pressen … Wir unterscheiden mehrere Kreise: den Staat, die Gesellschaft, die Kirche und die Familie, um nur einige zu nennen. Diese haben alle ihre eigene Natur, ihre eigene Autorität und Verantwortung. (zitiert nach: Joop M. Roebroek, The Imprisoned State, 1993, S. 55). Für Kuyper war es unerträglich, wenn der Staat kirchliche Aufgaben übernahm oder die Institution Kirche versuchte, Politik zu machen. Seine Bemühungen, die Korrektur des Artikels durchzusetzen, traf auf harten Widerstand (vgl. dazu: Peter Heslam, Creating a Christian Worldview: Abraham Kuyper‘s Lectures on Calvanism, 1998, S. 162–164). Schlussendlich wurde die Passage 1905 von den Reformierten Kirchen aber aus dem Bekenntnis gestrichen (Dirk van Keulen, „Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers“, S. 356). 
 
Noch ein Beispiel: Vor Kuyper bestritten die Reformierten zwar nicht, dass Christen den Auftrag haben, Gesellschaft zu gestalten. Betont wurde aber vor allem die Erlösung von Sündern. Die Predigten befasste sich meist mit den großen biblischen Themen wie Buße, Glaube, Wiedergeburt, Rechtfertigung, Heiligung usw. Durch Kuyper verschob sich der Schwerpunkt hin zur Weltverantwortung. Die Frage, was der Heilige Geist in den Herzen der Sünder durch das Wort wirkt, wurde zwar nicht ausgeblendet, aber oft von dem überlagert, was Christen tun sollten, um Gesellschaft und Kultur zu prägen (vgl. Cornelius Pronk, „Neo-Calvinism“, S. 49). 
 
Gern wird Kuyper deshalb heute für die sogenannte „transformative Kulturauffassung“ oder „Gesellschaftstransformation“ in Anspruch genommen. Demnach sind Christen dazu beauftragt, sich in gesellschaftliche Prozesse einzumischen und diese auf Mikro-, Meso- und Makroebene zu verändern. Ist diese Vereinnahmung von Kuyper berechtigt? Ja und nein. Tatsächlich wollte Kuyper den Protestantismus entprivatisieren und entwickelte eine „öffentliche Theologie“, die viele neue Anstöße für die parteiische Einmischung und Weltverantwortung lieferte. 
 
Damit überwand er die von Immanuel Kant (1724–1804) angestoßene und noch heute gefragte Aufspaltung der Vernunft in einen öffentlichen und einen privaten Gebrauch. Es bedürfe der Freiheit, „von seiner eigenen Vernunft in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen“, sagte Kant (Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, 1974, S. 11). Er kontrastiert den öffentlichen Gebrauch der Vernunft mit dem privaten. Unter öffentlichem Gebrauch versteht er „denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht“ (Ibid., S. 9). Der Privatgebrauch der Vernunft könne dagegen eingeschränkt sein (Ibid., S. 11). Kuyper holte den Glauben, der sich auf Offenbarung berief, wieder
in den öffentlichen Diskurs zurück. Sein Ansatz hob dabei entschieden vom liberalen Kulturprotestantismus ab, der Evangelium und Kultur durchmischte. Zugleich unterschied er – wie oben bereits angesprochen –, scharf zwischen allgemeiner und rettender Gnade. Um es anders auszudrücken: Kuyper verwechselte die Erhaltungsethik nicht mit dem Aufbau von Gottes Reich. Darum wissend, dass das geistliche Reich nicht von dieser Welt ist (vgl. Joh 18,36), schrieb er (A. Kuyper, „Common Crace“ zitiert aus: David VanDrunen, Natural Law and The Two Kingdoms, 2010, S. 295):
 
Wir müssen zwischen zwei Dimensionen dieser Manifestation der Gnade unterscheiden. 1.a. eine rettende Gnade, die am Ende Sünde abschafft und ihre Folgen vollständig rückgängig macht; und 2. eine zeitliche zurückhaltende Gnade, die die Wirkung der Sünde abmildert und aufhält. Die erste … ist ihrer Natur nach eine besondere und auf die Auserwählten Gottes begrenzt. Die zweite … erstreckt sich auf das gesamte menschliche Leben.
 
Die Frucht der besonderen Gnade, die Menschen mit Gott durch Jesus Christus versöhnt, war eindeutig das Herzensanliegen von Kuyper (vgl. S.U. Zuidema, Common Grace und Christian Action in Abraham Kuyper, S. 6). Die Kirche als Institution sollte deshalb treu das Evangelium verkündigen. Kulturpräsenz wird erreicht, da die Kirche als Organismus in der Welt wohnt.
 
Kuypers Wirkung ist ambivalent. Er stärkte das nachmoderne Christentum auf dem Weg zu einem kulturpräsenten Christsein und inspirierte herausragene christliche Vordenker, unter ihnen Herman Bavinck (1854–1921), Hermann Dooyeweerd (1894–1977), Hans Rookmaaker (1922–1977) oder Francis Schaeffer (1912–1984). Doch auch Bewegungen wie der „Christian Reconstructionism“ von Rousas J. Rushdoony (1916–2001) und Greg L. Bahnsen (1948–1995) oder der „shalom-Neo-Calvinismus“, wie er von Alvin Plantinga (* 1932) und Nicholas Wolterstorff (* 1932) vertreten wird, sind von Kuyper inspiriert. Interessanterweise ist der „Christian Reconstructionism“ anti-sozialistisch ausgerichtet und hebt die „Antithese“ zwischen christlichem und weltlichem Denken heraus (vgl. dazu: Thomas Schirrmacher, Anfang und Ende von Christian Reconstruction (1959–1995), 2001). Der „shalom-Neo-Calvinismus“ ist demgegenüber sozialistischen Idealen aufgeschlossen und neigt dazu, die Immanenz Gottes und die Kontinuität zwischen der jetzigen und der zukünftigen Welt zu idealisieren (vgl. dazu: Williams Dennison, „Dutch Neo-Calvinism and the Roots for Transformation“, JETS 42 (1999), Nr. 2, S. 271–291). Gelegentlich wird von den „Transformisten“ deshalb eingestanden, dass sie sich mehr mit dem Beispiel als mit den inhaltlichen Anliegen des niederländischen Theologen identifizieren (z.B. Phillip Morgen, „Abraham Kuyper: Christ Transforming Culture, Helwys Society Forum, URL: http://www.helwyssocietyforum.com).
 
Alles in allem leitete Kuyper vor ungefähr einhundert Jahren eine notwendige und begrüßenswerte Renaissance des reformierten Denkens ein. Wir dürfen dankbar sein, dass er die christliche Weltdeutung aus der Defensivhaltung herausführte und zahlreiche Christen ermutigte, den ideologischen Götzendienst des Modernismus zu dekonstruieren und christliches Denken einzuüben. Wer Jesus Christus nachfolgt, sieht die ganze Welt mit anderen Augen. Wir können und sollten viel von ihm lernen.
 

Abraham Kuyper (Teil 3)

 

Abraham Kuyper: Der Wissenschaftler

Zurück in Holland, geht er weder in die Politik noch in den Pfarrdienst, sondern widmet sich zwei anderen immensen Herausforderungen: „Einerseits die Entwicklung des Calvinismus sowohl als Theologie wie als Lebensanschauung in einem System, das in den neuen Kontext des 19. Jahrhunderts paßt, und andererseits die Ausbildung junger Menschen, die dieses Programm theoretisch auszubauen und in die Praxis umzusetzen gewillt sind“ (C. Augustijn, „Abraham Kuyper“, S. 296). Er sah kaum Chancen, diese ambitionierten Pläne an bestehenden Universitäten umzusetzen, da er sich dort hätte mit dem akademischen Establishment arrangieren müssen. Er griff den bereits 1875 geäußerten Gedanken einer Universitätsgründung wieder auf und beabsichtigte die Bildung einer Lehrstätte auf Grundlage einer reformierten Weltanschauung. Kuyper wollte nicht nur das reformierte Bekenntnis gegenüber Liberalismus, Modernismus und Vermittlungstheologie behaupten, sondern offensiv den „christlichen Glauben für alle Fakultäten fruchtbar machen“ (Johannes Schick, Das Denken des Ganzen: Eine vergleichende Studie zu den Wirklichkeitsanschauungen Karl Heims und Herman Dooyeweerds angesichts der Herausforderungen durch Postmoderne und neue Metaphysik, Göttingen: Vandehoeck & Ruprecht, S. 89). 1880 wurde die Freie Universität Amsterdam (holländ. „Vrije Universiteit Amsterdam“, abgekürzt VU) eröffnet. „Frei“ bedeutet in diesem Fall, dass die Hochschule „frei“ von Kirche und Staat arbeitet und ausschließlich von privaten Trägern finanziert wird. Die Hochschule verfolgte das erklärte Ziel, „die reformierten Studenten zur Übernahme verantwortlicher gesellschaftlicher Positionen vorzubereiten“ (D. van Keulen, „Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers“, S. 34). „Hier kommt das Ideal einer Wissenschaft zum Ausdruck, die ‚souverän im eigenen Bereich‘ bleibt und weder unter der Vormundschaft des Staates noch unter kirchlichem Kuratel sich ihrer eigenen Art entfremdet‘. Im Jahre 1880 hatte sie 5 Studenten, 1885 zählte sie 50 und 1900 126, davon studierten 76 Theologie. Sie hat ihrer Aufgabe jedoch erfüllt, zur Entwicklung einer einheitlichen Geistesart der reformierten Volksschicht beigetragen und die nötigen führenden Köpfe geliefert“ (C. Augustijn, „Abraham Kuyper“, S. 296).

Kuyper wird Professor an der VU und lehrt vor allem Dogmatik, Enzyklopädie der Theologie, niederländische Sprachwissenschaft, Linguistik und Ästhetik. In dieser Zeit schreibt er seine größten theologischen Bücher (Eine umfassende Bibliographie ist 2011 erschienen als: Kuipers, Tjitze, Abraham Kuyper: An Annotated Bibliography 1857–2010, Leiden : Brill ; Biggleswade: Extenza Turpin, 2011). Das einzige wissenschaftliche Werk im engeren Sinn bildet seine drei Bände umfassende Enzyklopädie der Theologie. Schon im Vorwort dieser Schrift macht er deutlich, dass er eine Wiederbelebung des reformierten Glaubens beabsichtigt. Kuyper will den kraftlos gewordenen Calvinismus, der teilweise sektiererische Züge mit starken Absonderungstendenzen aufwies, aus seiner Enge herausführen und für einen lebendigen Dialog mit der Gegenwartskultur zurüsten. Er beabsichtigt keine „Repristination des ursprünglichen Calvinismus. Vielmehr gelte es, diesen ‚in Berührung [zu] bringen mit dem menschlichen Bewusstsein, wie sich dieses am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt hat‘“ (D. van Keulen, „Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers“, S. 345–346). Zu seinen anderen bedeutenden Werken gehören seine Pneumatologie (3 Bde.), die Erklärungen zum Heidelberger Katechismus (4 Bde.), eine Ausarbeitung zur Allgemeinen Gnade (3 Bde.) sowie eine Veröffentlichung zur reformierten Liturgie. All diese Publikationen sind Sammlungen von Aufsätzen, die ursprünglich in der Wochenzeitschrift „Der Herold“ erschienen sind.

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