Die FAZ bedenkt heute das päpstliche Schreiben „Amoris Laetitia“ (dt. Freude der Liebe), das bereits in einer deutschen Übersetzung hier eingesehen werden kann, gleich mit drei Beiträgen. Ich habe das nachsynodale Schreiben bisher nur grob überflogen und dabei viel Gutes gefunden. Erkennbar wird – freilich nicht überraschend – eine hohe Sicht von Ehe, Geschlechtlichkeit und Familie. Papst Franziskus warnt völlig zurecht vor dem Druck, den einige westliche Länder und Hilfsorganisationen in den Fragen der Ethik auf ärmeren Staaten ausüben (S. 222–223):
»Was die Pläne betrifft, die Verbindungen zwischen homosexuellen Personen der Ehe gleichzustellen, gibt es keinerlei Fundament dafür, zwischen den homosexuellen Lebensge- meinschaften und dem Plan Gottes über Ehe und Familie Analogien herzustellen, auch nicht in einem weiteren Sinn.« Es ist unannehmbar, » dass auf die Ortskirchen in dieser Frage Druck ausgeübt wird und dass die internationalen Organisationen Finanzhilfen für arme Länder von einer Einführung der „Ehe“ unter Personen des gleichen Geschlechts in ihrer Gesetzgebung abhängig machen«.
Wenn Franziskus jedoch der kalten oder leblosen Lehre bzw. Schreibtisch-Moral die barmherzige Liebe gegenüberstellt, dann handelt es sich um einen rhetorischen Schachzug. Christian Geyer schreibt zurecht: „Ist die Norm erst einmal als „kalt“ diffamiert, kann jede Berufung auf sie schnell als „kleinlich“ gelten. Kalt und kleinlich gehören denn auch zu den Suggestivbegriffen, mit denen das Dokument einen Reformgeist vorspiegelt, den es nicht einlöst“ (FAZ vom 09.04.2016, Nr. 83, S. 13).
Großartig ebenfalls, wie Geyer auf ein Grundsatzproblem einer alles umarmenden Inklusionspastoral hinweist (ebd.):
Mit dem Refrain „unterscheide!, unterscheide!, unterscheide!“ gerät die Unterscheidung der Tatbestandsmerkmale derart zu einem Supergebot …, dass nichts mehr zu urteilen übrig bleibt. Die Materie, die zu beurteilen wäre, hat sich schlichtweg in ihre Atome aufgelöst (ohnehin scheint „urteilen“ im päpstlichen Text mit ‚„verurteilen“ assoziationspsychologisch verbunden zu sein, was ja begrifflich von Haus aus gar nicht geboten ist).
Man mache nur einmal die Gegenprobe: Ist nach Lektüre des Schreibens irgendein „Fall“ denkbar, der nach gebotener pastoraler Unterscheidungsarbeit noch einer kirchlichen Exklusion zur Verfügung steht? Nein, jeder Fall ist eingemeindet. Zugespitzt gesagt: Der Atheist, der darauf Wert legt, Atheist zu sein, hat vor der kirchlichen Inklusionspastoral keine Chance, als Atheist draußen bleiben zu können. Ein Sünder, der sich seiner Verfehlungen wegen nicht imstande sieht, zur Kommunion zu gehen, aber auch die Beichte scheut und darob eine kirchliche Auszeit anpeilt (statt zu sagen: Ich bin okay, Gott ist okay), versteht plötzlich seine Bedenken nicht mehr, gerät er erst einmal unter den exzessiven Unterscheidungsimperativ, mit dem man ihn beinahe schon penetrant zum „differenzierten Blick“ auf „unterschiedliche Situationen“ anhält.
Man möge bitte verstehen, schreibt Franziskus, „dass man von der Synode oder von diesem Schreiben keine neue, auf alle Fälle anzuwendende gesetzliche Regelung kanonischer Art erwarten durfte“. Eben dies hat aber niemand erwartet: weder die Reformer noch die Beharrer. Man hätte einfach nur gerne gewusst, was gelten soll. Um dann selbst entscheiden zu können, ob und unter welchen Bedingungen man sich daran halten möchte oder nicht.