Lectio continua

Die fortlaufende Auslegungspredigt, bei der nacheinander biblische Bücher von ersten bis zum letzten Vers ausgelegt werden, war in der Kirche nicht selbstverständlich. Max Engammare beschreibt in seinem Aufsatz „Predigtkultur in der reformierten Schweiz während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, wie diese Form der Verkündigung in den reformierten Kirchen Einzug hielt (in: Ariane Albisser;  Peter Opitz (Hg.), Die Zürcher Reformation in Europa: Beiträge der Tagung des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte 6.-8. Februar 2019,  Zürich: TVZ, 2020. 548 S., S. 375–388, hier S. 378–379):

Als frühes Modell in der nicht-lutherischen protestantischen Welt funktionierte die Prophezei in Zürich nach dem Prinzip der lectio Continua, welches am besten für eine Neuübersetzung der Bibel, aber auch für die systematische Auslegung jedes biblischen Buches geeignet ist. Zwingli hat seine Wahl der lectio continua jedoch nicht formalisiert oder theoretisiert.

Wer die Zürcher Kirchenordnungen von 1520 bis 1627 konsultiert – mehr als ein Jahrhundert lang, hg. von Emidio Campi und Philipp Wälchli -, entdeckt viele Gebetstage (Bettag) und deren Beschreibung, bemerkt aber das Fehlen einer homiletischen Form im Korpus.7 Um mit Matthäus auf der Kanzel und mit Genesis in der Prophezei zu beginnen, ist die kontinuierliche Form des Predigens und der biblischen Erklärung zu bevorzugen. Bullinger und Gwalther und andere werden später das Gleiche tun.

So nahm beispielsweise am Sonntag, 16.7.1531, Oekolampad in Basel nach seiner Rückkehr aus Ulm (er hatte Basel am 11. Mai verlassen) den Zyklus des Markusevangeliums wieder auf, wie Bonifacius Amerbach in seinem Tagebuch notierte. Dies war die 112. Predigt in der Reihe. In meinem Buch habe ich gezeigt, dass Oekolampad (gestorben Ende 1531) in den 1520er Jahren sowohl Predigten nach dem Prinzip der lectio continua als auch bei einer bestimmten Gelegenheit durch bewusste Auswahl eines biblischen Textes oder einem auf der Kanzel ausgeführten Thema halten konnte, wobei er den brennenden und kontroversen Fragen der Eucharistie Vorrang einräumte.

Es ist jedoch klar, dass Oekolampad am Ende seines Lebens die Predigt nach der lectio continua bevorzugte, auch wenn das nicht seine Praxis während seiner Predigttätigkeit war.

Bei Calvin war das dominante, fast ausschliessliche homiletische Prinzip dasjenige der lectio continua, aber er erklärte seine homiletischen Prinzipien nie direkt. Es ist offensichtlich, dass der Reformator sich selbst als «ministre et prescheur de l’Evangile10» – «Pastor und Prediger des Evangeliums» – betrachtete, aber er spricht in seinen Kommentaren, seinen Predigten oder sogar in der Institutio nie von der lectio continua. Das Predigen des Wortes Gottes ist «Zeichen und Markierung der Kirche», während Gott der Autor des Predigens ist, rückt der Prediger in seinem magnum opus vor, wobei aber die Form des Predigens nicht erklärt wird.

Erasmus sagt in seinen Ecclesiastes nichts darüber, aber es ist anzunehmen, dass Calvin die Kraft der lectio continua während seines Aufenthalts in Straßburg zwischen 1538 und 1541 spürte, wobei er aber bereits früher im brieflichen Austausch mit Martin Bucer stand. Von 1525 an hatte sich Bucer daran gewöhnt, jeden Sonntag ein Kapitel oder eine Perikope des Evangeliums in lectio continua dem Volk zu erklären; im folgenden Jahr betraf die Praxis auch das Alte Testament für die Predigten der Woche. Calvins Praxis in Genf ist dem entsprechend anzunehmen.

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