Bei verschiedenen Medienformaten und in den Feuilletons wird derzeit viel darüber gerätselt, aus welchen Quellen Wladimir Putins imperialistischen Ambitionen gespeist sind. Leute wie Iwan Iljin, Lew Gumiljow oder Alexander Dugin sind im Gespräch. Man könnte allerdings auch meinen, Putin habe Friedrich Nietzsche gelesen. Der hat vor rund 145 Jahren schon von der kulturschaffenden Potenz grausamer Kriege geschwärmt. Er schrieb 1878 in Menschliches, Allzumenschliches (KSA, Bd. 2, Abschnitt 477, S. 311–312):
Es ist eitel Schwärmerei und Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie diess jeder grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter günstigen Umständen die Räderwerke in den Werkstätten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht.
Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren. – Als die kaiserlich gewordenen Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu gewinnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefährlichen Entdeckungsreisen, Durchsdiiffungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege — also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei — bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.
Ob Putin viel liest, weiß ich nicht. Aber ich bezweifle es. Trotzdem: Was man denkt, was man über den Menschen denkt, hat Konsequenzen.
Jene russischen Intellektuellen, von denen Putin beinflusst ist, sind verhängnisvollerweise von ihrer reaktionären Lektüre von Nietzsche, Carl Schmitt, Hegel, Oswald Spengler geprägt. Hab heute ein Interview mit Alexander Dugin aus dem Jahr 2014 gelesen, da wird einem Angst und Bange. Wenn man das damals ernst genommen hätte würde einem nichts von dem überraschen, was gerade geschieht. Diese Kriegsbegeisterung bei manchen einflussreichen Philosophen ist ein dunkler Fleck meines Faches. Hier Nietzsche, noch ärger als von Ron zitiert: „Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: Der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt… So will ich Mann und Weib: kriegstüchtig den einen, gebärtüchtig das andere.“ Es fällt mir auch schwer, es nicht als zynisch zu sehen, wenn Augustinus fragt was überhaupt falsch an Krieg sei, Quid enim culpatur in bello? und dann als Antwort gibt, die Menschen sterben doch eh alle irgendwann. Das blieb leider nicht Theorie, Augustinus missbrauchte compelle intrare (Nötigt sie… Weiterlesen »