Rudolf Bultmann

Die scheinbare Überlegenheit des modernen Menschen

Die Physikerin und Philosophin Sibylle Anderl nimmt die Leser der ZEIT mit hinein in ihre Suche nach dem richtigen Glauben. Ihre Fragen sind klug und hilfreich. Leider setzt sie aber wie Rudolf Bultmann selbstverständlich voraus, dass wir heute klüger sind als die Menschen in der Antike und unser Wissensstand und „Weltbild“ darüber entscheidet, was wir uns aus der Bibel herauspicken. Ich wäre ja zurückhaltender: In mancherlei Hinsicht sind wir heute reicher und klüger, und in mancherlei Hinsicht ärmer und dümmer. Vielleicht ist ja das Weltbild, das Wunder oder ein Letztes Gericht kategorisch ausschließt, das eigentlich mythologische. Spätestens am Tag des Herrn wird das offenbar werden: „Vor Jesus müssen einmal alle auf die Knie fallen: alle im Himmel, auf der Erde und im Totenreich“ (Phil 2,10).

Hier das Zitat (DIE ZEIT, 05.06.2025, Nr. 24, S. 30):

Unser menschliches Wissen verändert sich mit der Zeit. Einst Rätselhaftes wird verstanden. Manches Verstandene wird wieder vergessen. Fest steht, dass sich unser heutiges Wissen grundlegend von dem der Menschen unterscheidet, die zur Entstehungszeit der Bibel lebten.

Der evangelische Theologe Rudolf Bultmann sah darin vor achtzig Jahren den Grund, warum sogar viele Christen sich damit schwertun, das Neue Testament wörtlich zu nehmen: Die objektive Welt, wie wir sie erleben, existierte für die Menschen damals nicht. Sie besaßen keinen wissenschaftlichen Zugang zur Realität, es gab für sie keine Atome, keine chemischen Reaktionen und keine fernen Galaxien. Sie lebten in einer mythischen Wirklichkeit, in der ganz selbstverständlich übernatürliche Mächte wirkten, Gott, die Engel, Satan und dessen Dämonen. Tote konnten auferstehen, und das Jüngste Gericht wurde jederzeit erwartet. Dieses Weltbild sei das einer vergangenen Zeit, schreibt Bultmann, zu unserem wissenschaftlichen Denken passe es nicht mehr.

Laut Bultmann ist es eine Zumutung, als Christ das vergangene mythische Weltbild als wahr anerkennen zu müssen, obwohl es im krassen Widerspruch zu unserem modernen Wissen steht.

Ich stimme Bultmann zu: Es ist eine Zumutung. Und ich finde die Lösung sinnvoll, die er vorschlägt. Die biblischen Texte so zu interpretieren, dass sie auch in unserer Zeit funktionieren. Sich zu fragen, welche Inhalte wir wörtlich nehmen müssen und was auf die mythische Denkweise von damals zurückzuführen sein mag. Wahrscheinlich bin ich dabei teils sogar toleranter als Bultmann, weil ich weiß, dass die Grenzen unseres naturwissenschaftlichen Wissens weniger starr sind, als wir gemeinhin glauben.

Flächenland

440px-Flatland (second edition) cover.
E. A. Abbot, Public domain, via Wikimedia Commons.

Ericht Lubahn schreibt über die „Gott-ist-tot-Theologie“ von John A. T. Robinson (Das Wort sie sollen lassen stahn!, 1968, S. 31–32):

Die Entmythologisierung (Mythos =Göttersage) des Neuen Testaments ist durch R. Bultmann ein Begriff geworden. Ihm geht es darum, den existentiellen Gehalt des Neuen Testaments von der „zeitbedingten Form mythologischer Anschauungen“ zu befreien. Bultmann möchte dem „modernen Menschen“ das Evangelium „glaubhaft machen“. Er stellt die Anstößigkeit des Neuen Testaments heraus, die nach seiner Meinung mit dem dreistöckigen Weltbild beginnt (Himmel – Erde – Hölle) und vor allem darin besteht, daß überweltliche Mächte (Satan, Dämonen, Engel, Gott) in die Geschichte des Menschen eingreifen. Auch das Heilsgeschehen selbst, die Menschwerdung des Sohnes Gottes, sein stellvertretendes Sterben für die Sünde der Welt, seine Auferstehung und Himmelfahrt, wie auch die Wiederkehr des Gottessohnes vom Himmel ist nach Bultmann Mythologie. Der Glaube dürfe nicht auf die mythologischen Aussagen verpflichtet, sondern im Gegenteil müsse er von ihnen gelöst werden.

Nach Bultmann wird nichts „vom Einwirken übernatürlicher Kräfte durchbrochen.“ Wer das dennoch annehme, lebe im Aberglauben. Jedoch seien das „Ausnahmen oder gar Abnormitäten.“ Und weiter behauptet Bultmann: „Für den Menschen von heute sind das mythologische Weltbild, die Vorstellung vom Ende, vom Erlöser und der Erlösung vergangen und erledigt.“ Freilich sagt Bultmann auch, daß er die mythologischen Aussagen der Bibel nicht einfach streichen will, er will sie lediglich deuten.

Darum gehe es bei der Entmythologisierung. Bultmann ist mit der Entmythologisierung dessen, was das Neue Testament von Gott aussagt, zurückhaltend. Besonders deutlich wird in diesem Stück Bischof Robinson, der vor den letzten Konsequenzen der bultmannschen Entmythologisierung nicht zurückscheut, wenn er behauptet, daß es keinen Gott „als ein für sich seiendes Wesen“ gebe. Durch das Wissen um die Lichtgeschwindigkeit und die Einsteinsche Relativitätstheorie sei einem persönlichen Gott der Boden entzogen worden. Nach Robinson haben wir es „nur mit der einen raum-zeitlichen Geschichtswelt zu tun.“ Dabei gebe es nichts außerhalb unserer zweidimensionalen Welt. „Die Vorstellung von einem Gott außerhalb der Welt“ sei „von einem naiv räumlichen Denken geprägt“. Das klingt im Rückblick alles so naiv. Ob Robinson das Buch Flatland von Edwin Abbott Abbott gekannt hat. Es ist ja schon 1884 veröffentlich worden.

Die Auferstehung Jesu Christi – das Streitgespräch zwischen Ernst Fuchs und Walter Künneth

Einleitung

Am 12. Oktober 1964 ereignete sich in Sittensen bei Hamburg eine bemerkenswerte Disputation über das richtige Verständnis der Auferstehung Jesu Christi von den Toten. Mehr als 2000 Zuhörer, unter ihnen Lehrer, Pfarrer, Ärzte, Bischöfe und Studenten, verfolgten den ganzen Tag lang in der Kirche das Streitgespräch zwischen zwei renommierten Theologen und die sich anschließende Plenumsdiskussion.

Der Neutestamentler Ernst Fuchs (1903–1983) vertrat die sogenannte „hermeneutische Theologie“ des 20. Jahrhunderts. In Marburg hatte er Vorlesungen von Martin Heidegger und Rudolf Bultmann gehört und wurde schließlich mit einer von Bultmann begleiteten Dissertation über Das Verhältnis des Glaubens zur Tat im Hermasbuch von der Theologischen Fakultät 1929 promoviert. (Über die Hintergründe informiert detailliert: Konrad Hammann, Rudolf Bultmann: Eine Biographie, 2012, S. 232–233. Bultmann hielt Fuchs für sehr begabt, beklagte sich aber darüber, dass er sich sprachlich und stilistisch zu sehr von der existentialanalytischen Begrifflichkeit Heideggers abhängig gemacht habe.) Fuchs plädierte für eine existenzialistische Interpretation des Auferstehungsgeschehens.

Der Systematiker Walter Künneth (1901–1997) verteidigte in der Diskussion um das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns eine wortlautorientierte Bibelauslegung und hielt mit Nachdruck an einer leibhaftigen Auferstehung Jesu fest. Künneth vertrat in der Debatte die Anliegen einer „bekenntnisorientierte Theologie“ (Künneth war 1966 neben Peter Beyerhaus, Paul Deitenbeck, Rudolf Bäumer, Gerhard Bergmann und Wilhelm Busch Mitbegründer der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“).

Die Debatte wurde damals als Tonbandaufzeichnung mitgeschnitten. Der Mittschnitt ist Grundlage für die im Jahr 1973 erschienene Dokumentation Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten (Dokumentation eines Streitgesprächs. Nach einer Tonbandaufzeichnung hrsg. von Christian Möller, 1973). Im Vorwort dieser Dokumentation schrieb der Herausgeber Christian Möller Folgendes:

So genau und umfassend die Disputation von Sittensen auch dokumentiert sein mag, so wenig darf doch verschwiegen werden, wieviel Unmittelbarkeit, Bewegung und Farbigkeit gerade diesem Streitgespräch durch die Übertragung aus der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit verloren gegangen ist. Das gilt zuerst für die Argumentation von Ernst Fuchs, die ganz auf Mündlichkeit, auf die konkrete Situation, auf das Gegenüber und auf die Gegenwart der Teilnehmer bezogen ist. Das gilt aber auch für das Engagement von Walter Künneth und das lebendige Mitgehen der Zuhörer während des ganzen Tages. Immerhin hat die Tonbandniederschrift einige besonders auffällige Reaktionen der Zuhörer mit knappen Angaben wie etwa „Lachen in der Gemeinde“ oder „Zischen in der Gemeinde“ wiederzugeben versucht … Eine Bewegung der Teilnehmer ist in der Disputation von Sittensen besonders an den Stellen zu bemerken, an denen die Frage nach der Auferstehung Jesu Christi nicht nur im Horizont richtiger Formeln, sondern im Blick auf lebendige Erfahrung und konkrete Wahrheit vorangetrieben wird. Da entdeckt der Zuhörer, daß er mit seiner eigenen Erfahrung in die Frage nach der Auferstehung Jesu Christi einbezogen wird und von der Wahrheit der Auferstehung selbst betroffen ist. (S. 6)

Die Tonbandaufzeichnungen gelangten über Johann Martens aus Sittensen an Pastor Peter Heinrich. Dieser hat die Aufnahmen digitalisiert und tontechnisch so bearbeitet, dass sie angenehm hörbar sind.

Ich habe bei Peter Heinrich angefragt, ob er einer Veröffentlichung der Aufnahmen im Internet zustimmen kann. Erfreulicherweise hat er dies bejaht, insofern keine Rechte anderer verletzt werden. Johann Martens konnte ich nicht mehr fragen, da er am 10. März 2019 heimgegangen ist. Andreas Späth, der den Nachlass von Walter Künneth verwaltet, hat einer Veröffentlichung zugestimmt. Sollte trotz bestmöglicher Prüfung dennoch Rechte anderer verletzt werden, bitte ich darum, sich mit mir in Verbindung zu setzen, um eine Lösung zu finden. 

Ich glaube, diese Disputation sollte als theologiegeschichtliches Ereignis interessierten Laien und Theologen zugänglich gemacht werden. Die Aufnahmen nehmen den Hörer mit hinein in die damals leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung um die Entmythologisierung der biblischen Botschaft. Ich danke allen, die das möglich gemacht haben, besonders Peter Heinrich für die aufwendige Bearbeitung. 

Die vorgelegten Thesen

Die zur Disputation vorgelegten Thesen werden hier anhand der schriftlichen Dokumentation wiedergeben (S. 12–13):

Professor D. Dr. Walter Künneth

  1. Die apostolische Botschaft bezeugt die „Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1. Kor. 15, 3-7) als die Erscheinung der neuen pneumatisch-leibhaften Wirklichkeit des gekreuzigten und begrabenen Jesus von Nazareth (1. Kor. 15,8; 1. Kor. 9, 1; Gal. 1,16; 1. Kor. 15, 42–53), in welcher eine neue Schöpfungswelt ihren Anfang genommen hat (2. Kor. 5,17; Röm. 8,1; Gal. 6,15; 1. Petr. 1, 3).
  2. Die Auferstehung Jesu Christi stellt das grundlegende Heilsereignis dar (1. Kor. 3,11; 1. Petr. 2,4.7–8; Röm. 9,33), so dass sowohl die christliche Verkündigung zentral durch dieses vorausgegebene Geschehen bestimmt wird (1. Kor. 15,2.14) als auch christlicher Glaube sich wesensmäßig als „Osterglaube“ versteht (1. Kor. 15,17; Röm. 10,9).
  3. Die Auferstehung Jesu Christi ist Ermöglichungsgrund und Realgrund der christlichen Gemeinde und damit der einzelnen christlichen Existenz als einer Gemeinschaft mit dem erhöhten lebendigen Herrn (Gal. 2,22; Phil. 1,21; 3,20; Kol. 3,1-3), die konsekutiv sich in „Glaube, Liebe, Hoffnung“ (1. Kor. 13,13) manifestiert.

Professor Dr. Ernst Fuchs

  1. Die paulinischen Aussagen in 1. Kor. 15 sind die im Neuen Testament ältesten authentischen Aussagen über das Thema „Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ und von Paulus selbst durch 1. Kor. 13 ausgelegt: Wer von Auferstehung spricht, der muß sich an die Einheit von Leben und Tod in der Liebe halten.
  2. Die Einheit von Leben und Tod in der Liebe ist der Welt in der Liebe Jesu erschienen und wird vom Glauben an Jesus als Gottes Herrschaft erfahren und erwartet (Röm. 4,25).
  3. Gottes Herrschaft bedient sich des Todes, der Leiden und der Schwachheit als ihrer Mittel und des Glaubens als Arznei und Teilgabe an einem Dasein vor Gott, in Gott und aus Gott (Röm. 8).

Leo Scheffczyks Bewertung des Disputs

Sowohl Fuchs als auch Künneth erhielten erwartungsgemäß während und nach dem Gespräch Zuspruch und Kritik. Ich schließe mich dem Urteil von Prof. Dr. Leo Scheffczyks an, der in der Münchner Theologische Zeitschrift sagte (Nr. 24/4 (1973), S. 372–374, hier S. 373):

Gegenüber den eindeutigen Aussagen Künneths muten die Ausführungen von E. Fuchs merkwürdig fließend und schwebend an. Die einleitenden Hinweiseauf die zwischen den theologischen Disziplinen obwaltenden Sprachschwierigkeiten, die Ablehnung der Rede von einer „apostolischen Botschaft“ (wo es sich beim ältesten Zeugnis angeblich nur um „paulinische Aussagen“ handele) und die Unzuständigkeitserklärungan die Adresse der Versammlung, die die Rede von der Auferstehung nicht erfassen könne, weil sie nicht in der Situation des Todes stehe: das alles ist mehr der fromme Ausdruck einer unbestimmten „Gläubigkeit“ als die denkerische Auslegung eines kernhaften „Glaubens“. So kommt es dann auch nicht zu einer genaueren Erklärungder vorangestellten These, sondernes wird nur wiederholt, daß die Rede von der Auferstehung die „Einheitvon Leben und Tod in der Liebe“ meine. Die Behauptung, daß das 15. Kapitel von 1 Kor nach dem Maßstab von 1 Kor 13 (das Hohelied der Liebe) erklärt werden müsse, kann auch exegetisch nicht anders denn als gewaltsam angesehen werden.

In der Diskussion stellte Künneth u.a. die Frage, ob das von Fuchs Gesagte nicht auch Goethe oder Jaspers hättensagen können. Auf diese mehr vorbereitende Frage gibt Fuchs genausowenig eine Antwort wie auf die zentralere,ob die Auferstehung als eigene Wirklichkeit dem Glauben und der Liebe vorausgehe oder ob sie eine Folgedes Glaubens sei. Fuchs hält die Feststellung einer solchen „Reihenfolge“ für „juristisch“, „philosophisch“ und dogmatisch. Er gibt zwar zu, daß er keine Schwierigkeit hätte, diese vorausgehende Wirklichkeit anzuerkennen. Aber als wirklich Glaubender könne er nicht nach ihr fragen, sondern eben nur in der „Selbstvergessenheit des Kindes“ glauben und lieben. Die Frage nach der dahinterliegenden Wirklichkeit ginge den Glauben nichts an, denn „was braucht der Glaube noch von Kreuzund Auferstehung zu reden“, wenn er ohnehin, „voll davon“ sei (95). Demgegenüber repliziert Künneth zu recht,daß das ganze Neue Testament geradeso rede, d.h. daß es den Glauben auf diese anderen Wirklichkeiten des Kreuzes und der Auferstehung gründe.

Die Audiodateien

Nachfolgend die Aufnahmen im mp3-Format: 

Teil 1: Morgenandacht und Begrüßung durch Pastor Hartig. Eröffnung durch Landessuperintendent Hoyer. Prof. Dr. W. Künneth und Prof. D.E. Fuchs erläutern jeweils ihre Thesen:

Teil 2: Disputation Teil 1:

Teil 3: Disputation Teil 2 und Diskussion im Plenum:

Teil 4: Disputation im Plenum sowie Schlusswort von Prof. D.E. Fuchs:

Teil 5: Schlusswort von Prof. Dr. W. Künneth und Fazit durch Landesbischof D. Dr. H. Lilje:

Zwei Arten des „Theologischen Liberalismus“

Dan Doriani (Covenant Theological Seminary, Missouri, USA) unterscheidet in seinem Beitrag über den Theologischen Liberalismus zwischen einem feindlichen und einem freundlichen Liberalismus. Der freundliche möchte den Glauben an Gott „retten“, zahlt dafür aber einen hohen Preis.

Jahrhundertelang sind liberale Theologen davon ausgegangen, es sei ihre Aufgabe, das Christentum dem „modernen Menschen“ schmackhaft zu machen. In den meisten Fällen teilt dieser moderne Mensch mit dem Theologen einen sehr ähnlichen Hintergrund und sozialen Status. Das Ziel des liberalen Theologen ist die Rettung des Christentums, die durch das Entfernen der jeweils anstößigsten Lehrsätze bewerkstelligt wird. 

Einmal ist es die Lehre der Sünde, die unakzeptabel ist; ein anderes Mal sind es Wunder; und noch ein anderes Mal ist es die Jungfrauengeburt, die stellvertretende Sühne oder die biblische Sexualmoral. Der Tenor allerdings ist immer derselbe: Um das Christentum glaubwürdig zu machen, müssen gewisse Lehrsätze weichen. 

Die erste Variante, der feindliche Liberalismus, hasst das Christentum und möchte es durch eine bessere Religion ersetzen. Die zweite – um die es in diesem Artikel geht – ist freundlicher. Sie möchte den Glauben retten und seine „kulturellen Verächter“ zurückgewinnen. Leider wird das Christentum in dem Rettungsversuch des freundlichen Liberalen zerstört, da seine Loyalität nicht der Schrift, sondern der Kultur gilt. 

Mehr bei Evangelium21: www.evangelium21.net.

G. Machens Paulusbuch aus der Sicht von R. Bultmann

Bei Recherchen zur Paulusexegese bin ich auf die Wiederveröffentlichung einer interessanten Buchbesprechung gestoßen. Rudolf Bultmann rezensierte 1924 das Buch The Origin of Paul’s Religion (1921) von Gresham Machen in der Theologischen Literaturzeitung 49, Nr. 1 (1924), S. 14–14. William Dennison hat den Text 2009 neu herausgegeben (Rudolf Karl Bultmann, „Rudolf Bultmann’s Review of J. Gresham Machen’s, The Origin of Paul’s Religion“, Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 16, Nr. 2 (2009): S. 236–240).

Obwohl sich Bultmanns Würdigung des Buches in Grenzen hält und er echte Innovationen vermisst, konnte er der Lektüre durchaus etwas abgewinnen:

„Der Hauptwert des Buches besteht m. E. in der übersichtlichen und ruhigen Darstellung der Entwicklung der Forschung, in der klaren Herausarbeitung von Für und Wider bei den einzelnen kritischen Fragen. Und in dieser Hinsicht hat das klare und durch geschickte Formulierungen ausgezeichnete Buch Anspruch auf Dank.“ (S. 237–238)

Wirklich aufschlussreich finde ich allerdings etwas anderes. Gresham Machen lag viel an dem Nachweis, dass die liberale Theologie mit ihrem Ausschluss des Übernatürlichen auf einem Holzweg war (vgl. Christentum und Liberalismus: Wie die liberale Theologie den Glauben zerstört). In seinem Paulusbuch zeigt er, dass die Religion des Apostels Paulus nicht rein innerweltlich erklärt werden kann. Er behauptet das Paradox, die einzige natürliche Erklärung für Religion des Paulus sei es, zu akzeptieren, dass es – anders als die Naturalisten es annehmen – in ihr übernatürliche Faktoren gebe.

Nachdem Bultmann Machens Sicht kurz skizziert hat, legt er in einer unverhüllten Weise seine eigenen Denkvoraussetzungen offen, die freilich Konsequenzen für die methodische Herangehensweise haben. Bemerkenswert deutlich wird dabei der Grundkonflikt einer Bibelexegese auf den Punkt gebracht, die selbstverständlich davon ausgeht, dass unsere Welt für Gottes Wirken verschlossen bleibt. Die eigenen Denkvoraussetzungen, der Naturalismus also, verbietet es, das, was in den Bibeltexten gesagt wird, zu glauben. Bultmann oder seine Schüler sind gezwungen, Wunder natürlich zu erklären.

Bultmann schreibt:

„Ich kann diese Anschauung [gemeint ist die Anschauung G. Machens; R.K.] nicht teilen, die zum Verständnis der Geschichte des supranaturalen Faktors als eines Faktors neben anderen bedarf, und die das supranaturale Geschehen so gut wie das natürliche der methodischen geschichtlichen Betrachtung unterwirft. Als ‚Naturalist‘ im Sinne des Verf. bin ich der Meinung, daß in der Fragestellung des Historikers schon der Verzicht auf die Annahme supranaturaler Faktoren vorausgesetzt ist; und ich glaube, daß der Konflikt zwischen dem ‚naturalistischen‘ Verständnis der Geschichte und ihrer ‚supranaturalistischen‘ Deutung auf anderem Boden ausgetragen werden muß als dem der methodischen, historischen Erforschung der Quellen und der darauf gegründeten Rekonstruktion des Geschichtsverlaufs.“

Als Einführung in G. Machens Denken empfehle ich den Vortrag von Stephen Nichols (gehalten auf der E21-Konferenz 2016):

 

Skizzen zu Rudolf Bultmann

Ich habe gestern einige Audio-Schnipsel aus einem Seminar zu Rudolf Bultmann entdeckt. Da ich darin unter anderem auf Eta Linnemanns Verhältnis zu ihrem Lehrer eingehe und die Krise der liberalen Theologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts umreiße, stelle ich die Aufnahmen zusammengeflickt in das Blog. Es könnte ja sein, dass das jemanden interessiert. Der Teil über die eigentliche Theologie Bultmanns ist nicht aufgenommen worden.

Bultmann und das Reich Gottes

Der Theologe Rudolf Bultmann ist mit  einer liberalen Theologie aufgewachsen, die die Geschichtlichkeit der Heiligen Schrift und die christliche Nächstenliebe in den Mittelpunkt stellte (vgl. hier). Bei dem großen Albrecht Ritschl (1822–1889) kulminierte dieser Ansatz in dem Anspruch, durch ein sittlich an Jesus Christus orientiertes Leben das Reich Gottes im Hier und Jetzt zu bauen.

Bultmann erkannte, dass diese Theologie vom Menschen und nicht von Gott handelt. In seinem Vortrag „Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung“ beschreibt er die Tragik der liberalen Theologie und fordert deren Überwindung (Glauben und Verstehen, Bd. 1, 1961, S. 3):

Wohin führte der Weg der historisch-kritischen Theologie? War er anfangs geleitet von dem Vertrauen, daß die Kritik von der Last der Dogmatik befreit und dahin führt, das echte Jesusbild, auf das der Glaube sich gründen kann, zu erfassen, so ward diese Meinung schnell als Wahn offenbar. Die Geschichtswissenschaft kann überhaupt nicht zu irgendeinem Ergebnis führen, das für den Glauben als Fundament dienen könnte, denn alle ihre Ergebnisse haben nur relative Geltung. Wie verschieden sind die Jesusbilder der liberalen Theologie, wie unsicher das Bild des historischen Jesus: Ist er überhaupt noch für uns erkennbar? Mit einer großen Frage endigt hier die Forschung – und soll sie endigen!

Mit der „jüngsten theologischen Bewegung“ bezeichnet Bultmann die „Wort Gottes-Theologie“, die in den 20-er Jahren maßgeblich von Barth, Thurneysen Gogarten und mit Einschränkungen auch von Brunner vorangetrieben wurde. Zaghaft solidarisierte sich der Marburger Professor mit der neu aufkommenden „Offenbarungstheologie“.

Karl Barth war sehr neugierig und wollte möglichst aus erster Hand hören, was Bultmann über die neue Strömung, die damals großen Widerstand ertragen musste, denkt. Deshalb besuchte er am 6. März 1924 – damals in Göttingen lehrend – zusammen mit zwölf Studenten incognito Marburg. Er lauschte Bultmanns Vortrag und war sehr beeindruckt. Seinem Freund Eduard Thurneysen erklärte er, dass Marburg „wieder zu einem der Punkte auf der mitteleuropäischen Karte geworden“ sei.

Bultmanns Vortrag ist heute noch erhellend. Über die Reich Gottes-Theologie der Ritschlianer sagte er (Glauben und Verstehen, Bd. 1, 1961, S. 15):

Wenn man meint, daß soziale Arbeit als solche, d. h. Arbeit, die sich — ob sozialistisch orientiert oder nicht — um die Schaffung menschenwürdiger sozialer Zustände müht, als solche Reichsgottes arbeit, christliches Tun sei, so kennt man das σκάνδαλον des Wortes Gottes nicht. Und das σκάνδαλον ist um so größer, um so deutlicher, als hier gegenüber solchem Tun, das an sich pflichtmäßig, ehrenwert, bitter notwendig ist, hart gesagt wird: es ist kein christliches Tun. Denn es gibt kein Tun, das sich direkt auf Gott und sein Reich beziehen könnte. Jede Form menschlichen Gemeinschaftslebens, die schlimmste wie die idealste, steht in gleicher Weise unter dem göttlichen Gericht.

Leider konnten uns weder Bultmann noch Barth nachhaltig aus der Krise führen.

Geschichte und Offenbarung bei Rudolf Bultmann

Rudolf Bultmann PortraitRudolf Bultmanns (1884–1976) Hauptinteresse galt dem Verhältnis von Offenbarung und Geschichte. Also: Können wir die Bibel noch so auslegen, dass sowohl der Bezug zur Geschichte als auch der Bezug zu Gott gleichermaßen zur Geltung kommen?

Auf der einen Seite wurde er mit dem Reduktionsverfahren der liberalen Theologie konfrontiert. Die Exegeten und Ethiker des 19. Jahrhunderts hatten die Botschaft des Neuen Testaments auf bestimmte religiöse und sittliche Grundgedanken reduziert. Bultmann sah darin einen offensichtlichen Mangel des göttlichen Bezugs in der Rede von Gott. Da es hierbei um Religiosität aber nicht um Heil ging, lehnte er diesen Weg mit aller Schärfe ab. Auf der anderen Seite fehlte jedoch dem bekenntnisorientierten Biblizismus der Bezug zur Geschichte. Von dem modernen Menschen könne man nicht mehr erwarten, dass er die Mythologie des Neuen Testaments bejahe. Bultmann: „Kann die christliche Verkündigung dem Menschen heute zumuten, das mythische Weltbild als wahr anzuerkennen?“ Die Antwort ist klar: „Das ist sinnlos und unmöglich.“

Obwohl Bultmann sich seit Jahren mit dem Problem beschäftigte und darüber publizierte, war es ein 1941 gehaltener Vortrag zu dem Thema: „Neues Testament und Mythologie“, der Bultmann berühmt machte. Der Beitrag wurde noch im selben Jahr als kleines Buch gedruckt und nach dem Krieg in großen Mengen verkauft. Bultmann hat darin – so kann man es sehen – sein Lebenswerk zusammengefasst. Hier zeichnet er den gesuchten dritten Weg, der seiner Meinung nach sowohl der Geschichte als auch Gott angemessen ist.

Bultmann möchte das Wort der Bibel wieder so verständlich machen, dass es die aufgeklärten Menschen der Neuzeit als Anrede Gottes verstehen können. Was das Wesen des Wortes der Bibel verdunkelt, ist der tiefe Graben zwischen der mythologischen Vorstellungswelt damals und der aufgeklärten heute. Unser Weltbild wird durch die Wissenschaft bestimmt, das Weltbild des Neuen Testaments dagegen ist durch und durch mythologisch. Das Neue Testament stellt uns einen dreistöckigen Kosmos vor, in dem jeweils Gott, Satan und Mensch zu Hause sind. Für uns ist das nicht mehr akzeptabel. Es ist, so formuliert Bultmann gern, „erledigt“. Erledigt sind die Geschichten von der Höllen- und Himmelfahrt Christi. Erledigt ist die Vorstellung von einer unter kosmischen Katastrophen hereinbrechenden Endzeit. Erledigt ist die Erwartung des auf den Wolken des Himmels kommenden Menschensohnes. Erledigt sind die Wunder als bloße Wunder. Erledigt ist der Geister- und Dämonenglaube.

Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.

Aber nicht nur das naturwissenschaftliche Weltbild fordert Bultmann zur Kritik an den mythologischen Vorstellungen der Bibel heraus. Noch wichtiger ist ihm das Selbstverständnis des modernen Menschen.

Der Mensch versteht sich nicht mehr als ein dualistisches Wesen, das für das Eingreifen Gottes offen und bereit ist. Der Mensch von heute ist ein geschlossenes Wesen, dass sich selbst sein Denken, Fühlen und Wollen zuschreibt. Wieder fährt Bultmann scharfe Geschütze auf: Unverständlich ist für den modernen Menschen die Vorstellung von dem göttlichen Geist als einem übernatürlichen Etwas, das in das Gefüge der natürlichen Kräfte eindringt. Unverständlich ist für ihn die Deutung des Todes als einer Strafe für die Sünde. Unverständlich ist für ihn die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch das Sterben Christi am Kreuz. „Wie kann meine Schuld durch den Tod eines Schuldlosen (wenn man von einem solchen überhaupt reden darf) gesühnt werden? Welche primitiven Begriffe von Schuld und Gerechtigkeit liegen solcher Vorstellung zugrunde? Welch primitiver Gottesbegriff?“ Unverständlich ist die Auferstehung Christi als ein Ereignis, durch das eine Lebensmacht entbunden ist, die man sich durch Sakramente aneignen kann. Unverständlich ist für ihn die Erwartung, in die himmlische Lichtwelt versetzt und dort mit einem neuen, geistlichen Leib überkleidet zu werden.

Wie nun ist dieser große Widerspruch zwischen der mythologischen Welt der Bibel und dem Weltbild und Selbstverständnis des modernen Menschen aufzulösen? Den Weg des Liberalismus kann Bultmann nicht gehen. Der Weg des Biblizismus ist für ihn ein Gräuel. Seine Antwort lautet: Soll die Verkündigung des Neues Testamentes ihre Gültigkeit behalten, so gibt es gar keinen anderen Weg als sie zu entmythologisieren.

So macht sich es Bultmann zum Programm, das Heilsgeschehen, über das im Neuen Testament berichtet wird, ohne Mythos darzustellen und damit die Wahrheit der biblischen Botschaft so zu vermitteln, dass sie glaubhaft wird. Bultmann will nicht im Sinne des Liberalismus den Mythos eliminieren. Nein. Im Mythos wird der Mensch inne, dass die Welt, in der er lebt, voller Rätsel und Geheimnisse ist, dass er nicht Herr über die Welt und sein Leben ist, sondern vielmehr abhängig von Mächten jenseits des Bekannten. Der Mythos erzählt über die Unkontrollierbarkeit des Lebens jedoch in einer unzureichenden Art und Weise. Er redet vom Unweltlichen weltlich. Er objektiviert das Jenseits zum Diesseits. Die Götter erscheinen als menschliche Wesen. Der Mythos steht sich in der modernen Gesellschaft selbst im Wege. Und so fordert Bultmann in seinem Verfahren nicht die Eliminierung des Mythos, sondern seine existenziale Interpretation. Er will die mythologischen Vorstellungen nicht ausschalten, sondern auf ihr Existenzverständnis befragen. Der tiefere Sinn, die nicht offensichtliche Bedeutung der Texte, soll aufgedeckt und verkündet werden.

Entmythologisierung ist für Bultmann also nicht eine Verkürzung der Botschaft, sondern seine hermeneutische Methode zum Aufschließen der eigentlichen Botschaft der Bibel. Bultmann wörtlich: „Ich nenne eine solche Interpretation existenziale Interpretation, da sie bewegt von der Existenzfrage des Interpreten, nach dem in der Geschichte jeweils wirksamen Existenzverständnis fragt“ (Rudolf Bultmann, „Zum Problem der Entmythologisierung“, in: Hans Werner Bartsch, Herbert Braun u. a., Kerygma und Mythos VI, Hamburg, 1963, S. 20–27, hier S. 21).

Spätestens jetzt, bei der Hermeneutik, können wir seine Nähe zu Heidegger feststellen. Heidegger hatte in seinem Hauptwerk Sein und Zeit versucht, das traditionelle Subjekt-Objekt-Denken, dass die Philosophie von der Antike her bis in die Neuzeit beherrschte, zu überwinden. Er machte das falsche Geschichtsbild dieses Denkschemas für das Scheitern der Philosophie verantwortlich. Das Kennzeichen des Historismus besteht nach Heidegger darin, dass die Werke der Geschichte als Quellen benutzt werden, aus denen man ein Bild der Vergangenheit rekonstruiert. Der Historiker protokolliert und sortiert die Geschichte und produziert damit ein statisches Abbild des einmal Gewesenen. Nach Heidegger ist das ignorant. Die Welt wird zum Gegenstand, den der Mensch zu begreifen sucht. Und damit springt der Mensch geradezu aus seiner Existenz heraus. Er malt sich ein Bild von der Welt ohne die Berücksichtigung der eigenen Existenz.

Genau das sucht Heidegger zu überwinden. Er denkt in seiner Philosophie nicht im klassischen Subjekt-Objekt-Schema, sondern in der Kategorie des Seins. Der Mensch lässt sich von der Geschichte ergreifen, als ein Teil von ihr mit hineinziehen. Verstehen der Geschichte vollzieht sich in der Begegnung mit der Geschichte (der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer sprach von „Horizontverschmelzung“). Diese Begegnung stellt unsere eigene Existenz in Frage, deckt die Geschichtlichkeit des eigenen Daseins auf. Indem der Mensch in den Dialog mit der Geschichte eintritt, tritt er in ein Gespräch mit sich selbst ein. Geschichtsauslegung und Selbstauslegung korrespondieren miteinander.

So geht es auch Bultmann nicht um das Konstatieren historischer Ereignisse, sondern um das, was in der Mythologie das eigentlich Bedeutsame für unsere Existenz ist. Seine Antwort lautet „Kerygma“. Der Begriff Kerygma stammt aus dem Neuen Tetstament und bedeutet so viel wie „Botschaft“, „Proklamation“, „Predigt“. Der Inhalt des Kerygmas ist das Christuszeugnis. Wo das Christusgeschehen gegenwärtig ist, da können Menschen heil werden.

Bultmann wiederholt immer wieder, dass uns Christus im Wort begegnet, und zwar nur im Wort. Ich zitiere: „Im gepredigten Wort und nur in ihm begegnet der Auferstandene.“ Oder: „Jesus Christus begegnet dem Menschen nirgends anders als im Kerygma“. Noch ein klassischer Bultmann-Satz: „Indem Gott Jesus kreuzigen ließ, hat er für uns das Kreuz errichtet: an das Kreuz Christi glauben, heißt nicht, auf einen mythischen Vorgang blicken, der sich außerhalb unser und unserer Welt vollzogen hat, auf ein objektiv anschaubares Ereignis, das Gott als uns zugute geschehen anrechnet; sondern an das Kreuz glauben, heißt, das Kreuz Christi als das eigene übernehmen, heißt, sich mit Christus kreuzigen lassen.“

Kerygma als die Christusbotschaft im Wort korrespondiert bei Bultmann mit dem Selbstverständnis. Das Offenbarungshandeln Gottes, dass uns im Kerygma begegnet, verleiht uns ein neues Selbstverständnis. Es lehrt uns, uns in einem neuen Licht zu sehen. Der Glaube ruft in eine neue Existenz.

Bultmanns Programm der Entmythologisierung wirkt rückblickend ziemlich autoritär. Er weiß ganz genau, was „modern“ und damit annehmbar ist und was nicht. Die Weltanschauung, die er instrumentalisiert um die Offenbarung zu kritisieren, ist heute – nur 60 Jahre später – selbst ein Mythos.

Ein anderer Kritikpunkt wirkt noch schwerer: Da man von Gott nur indirekt reden kann, sind alle theologischen Aussagen nur als existentielle Aussagen wahr. Alle Mitteilungen über Gott müssen in die menschliche Existenz gefasst sein. Darum kommt Bultmann zu einem wichtigen Satz. Wer diesen Satz verstanden hat, hat wahrscheinlich Bultmann verstanden: „Will man von Gott reden, so muß man offenbar von sich selbst reden.“ Die Rede von Gott wird zur Rede über den Menschen. Das Unendliche ist letztlich das Eigentliche des Endlichen, Theologie ist Anthropologie.

Es war Bultmanns Anliegen, die Spannung zwischen Geschichte und Offenbarung zu überwinden. Er entschied sich gegen die Geschichte für die Offenbarung, redet jedoch nur vom Menschen.

Der Theologieprofessor Matthias Krieger wirbt in dem nachfolgenden DLF-Gespräch für das Programm der Entmythologisierung. Er spricht so, als ob wir von Bultmann noch viel erwarten könnten. Ich rechne eher damit, dass nach 100 Jahren Metaphysik- und Mythoskritik die Freude am Metaphysischem zurückkehrt. Kein Wunder. So viel Anthropozentrismus muss irgendwann langweilig werden.

Metaxas Bonhoeffer

Immer wieder gehen Anfragen zum Bonhoeffer-Buch von Metaxas bei mir ein. Das erneute Auftreten des Biografen auf dem Willow Creek Deutschland-Kongress in Stuttgart beflügelt das Interesse. Idea meldet:

Bei Bonhoeffer könnten Gemeindeleiter lernen, im Vertrauen auf Gottes Wegweisung ihrer Berufung bis zum bitteren Ende treu zu bleiben, sagte Hybels. Er führte ein Podiumsgespräch mit dem Autor der Biografie „Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet“, Eric Metaxas (New York). Dieser wandte sich dagegen, Bonhoeffer als liberalen Theologen darzustellen: „Je mehr ich nachforschte, desto mehr kam ich zu dem Ergebnis, dass diese Annahme Nonsens ist.“ Bonhoeffer habe die Bibel schon während seines Studiums anders verstanden als viele seiner Kommilitonen: „Für ihn war sie lebendig, sie spricht zu den Menschen. Er war einer der wenigen an der Fakultät, die ihre Stimme gegen die liberale Theologie erhoben haben.“ Hybels nannte Metaxas’ Bonhoeffer-Biografie eine unverzichtbare Ermutigung für Gemeindeleiter, die ihrer Berufung konsequent folgen wollen.

Ich möchte deshalb auf den älteren Beitrag „Der andere Bonhoeffer“ verweisen und kurz aus meiner Buchbesprechung zitieren, die im Magazin factum 8/2011 erschienen ist (S. 47):

Dass es gute Gründe dafür gibt, in Bonhoeffer einen unbequem orthodoxen Theologen zu sehen, haben z.B. Rainer Mayer oder Georg Huntemann mit ihren Veröffentlichungen zu Bonhoeffer gezeigt. Metaxas selbst erörtert Bonhoeffers Ringen um feste theologische Positionen angesichts der „mündig gewordenen Welt“ jedoch nur oberflächlich. Hier hätte ich mir eine gründlichere Auseinandersetzung mit dem Mann, „der doch noch das Erbe der liberalen Theologie in sich trägt“ (so B. am 3.8.1944 in einem Brief an Bethge), gewünscht. Auch evangelikale Autoren sollten die Gefahr eines „kreativen Missbrauchs“ Bonhoeffers nicht unterschätzen. Allerdings will Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet keine theologische Abhandlung, sondern spannend geschilderte Lebensgeschichte sein. Diese Aufgabe hat Metaxas gemeistert. Hoffentlich werden viele Leser durch das Buch angeregt, sich gründlich mit Bonhoeffer auseinanderzusetzen.

Der Name Rudolf Bultmann taucht übrigens im Personenregister von Bonhoeffer: Pastor, Agent, Märtyrer und Prophet nicht auf. Auch daran zeigt sich, dass die theologische Auseindersetzung mit Bonhoeffer vordergründig geblieben ist. Ferdinand Schlingensiepen schreibt in seiner Biografie kurz und präzise (Dietrich Bonhoeffer, 2010, S. 292–293):

Bonhoeffer hat sich, während er in Kieckow mit derart radikalen Gedanken beschäftigt war, die Zeit genommen, einen Vortrag zu lesen, den der Marburger Neutestamentier Rudolt Bultmann vor der neu gegründeten «Gesellschaft für Evangelische Theologie» gehalten hatte, und der seine Sprengkraft erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltet hat … Bultmanns Vortrag trug den Titel „Neues Testament und Mythologie“ und enthielt sein später von Theologen in der ganzen Welt diskutiertes Programm der „Entmythologisierung des Neuen Testaments“.

Bultmann vertrat die These, daß viele Berichte des Neuen Testaments, etwa die Himmelfahrt Christi, Mythen seien. Deren bis heute gültige Wahrheiten gelte es durch eine „existentiale Interpretation“ zu erschließen, nachdem man zuerst den unter der mythischen Einkleidung verborgenen überzeitlichen Wahrheitsgehalt aufgedeckt habe.

Während in Deutschland schon bald eine erste Welle heftiger Kritik einsetzte vor allem Hans Asmussen zeigte sich alarmiert –, urteilte Bonhoeffer zwar nicht unkritisch über Bultmanns faszinierendes Programm, aber er äußerte zuallererst Zustimmung. Öffentlich konnte er des Schreibverbotes wegen keine Stellung beziehen, indessen schrieb er an einen Schüler, der in Marburg im Lazarett lag:

„Ich gehöre zu denen, die [Bultmanns] Schrift begrüßt haben, … Grob gesagt: Bultmann hat die Katze aus dem Sack gelassen, nicht nur für sich, sondern für sehr viele (die liberale Katze aus dem Bekenntnissack), und darüber freue ich mich. Er hat gewagt zu sagen, was viele in sich verdrängen (ich schließe mich ein), ohne es überwunden zu haben. Er hat damit der intellektuellen Sauberkeit und Redlichkeit einen Dienst geleistet. Der Glaubenspharisäismus, der nun dagegen von vielen Brüdern aufgeboten wird, ist mir fatal. Nun muß Rede und Antwort gestanden werden. Ich spräche gern mit Bultmann darüber und möchte mich der Zugluft, die von ihm kommt, gern aussetzen. Aber das Fenster muß dann wieder geschlossen werden. Sonst erkälten sich die Anfälligen zu leicht.“

Jesu Sendung und sein Tod

Bei den Vorbereitungen für einen Vorlesungstag zum Thema »Sühneopfer« bin ich auf ein interessantes Zitat von Bultmann und dessen angemessene Kommentierung durch den katholischen Dogmatiker Peter Hünermann gestoßen (Hünermann, Peter, Jesus Christus, Gottes Wort in der Zeit, Aschendorff Verlag, 1997, S. 88–89):

1960 hatte Rudolf Bultmann festgestellt: »Schwerlich kann diese Hinrichtung [Jesu; d. Vf. ] als die innerlich notwendige Konsequenz seines Wirkens verstanden werden; sie geschah vielmehr aufgrund eines Mißverständnisses seines Wirkens als eines politischen. Sie wäre dann – historisch gesprochen – ein sinnloses Schicksal. Ob oder wie Jesus in ihm einen Sinn gefunden hat, können wir nicht wissen. Die Möglichkeit, daß er zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschleiern.« Von dieser These Bultmanns ausgehend, resümiert Hans Kessler zehn Jahre später seine Detailuntersuchungen: »Wir wissen nicht sicher, ob oder wie Jesus in seinem Tod einen besonderen Sinn gesehen hat … Es ist wenig wahrscheinlich, daß Jesus mit seinem bevor stehenden Tod Opfer- und Sühnegedanken verband und daß es in seiner Absicht lag, durch seinen Tod die Welt zu erlösen.«

Urteile wie dieses rechnen unbefangen mit denselben Wertprioritäten und Kriterien, wie sie im tagtäglichen Selbstverständnis der Menschen vorkommen, ohne zu berücksichtigen, daß bereits ernsthaftes Denken und Philosophieren die Zugehörigkeit des Todes zum Leben aufdecken und jede Verdrängung des Todes als eine entfremdete Bewußtseinslage denunzieren. Es wurde bereits oben in der Erörterung von Sinn und Sendung Jesu Christi die Präsenz des Todes in seinem Leben thematisiert. Man kann dafür eine Fülle von neutestamentlichen Stellen anführen.

Hinsichtlich der Frage, wie Jesus seinen Tod gesehen hat, spielen folgende Momente eine zentrale Rolle: Jesus konnte mit der Möglichkeit, ja er mußte mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Todes rechnen. Das ergibt sich aus der Anknüpfung Jesu an die Botschaft des Täufers und dem engen Zusammenhang, in dem er mit dem Täufer steht (vgl. Mk 6,14), ebenso aber auch aus dem sehr früh in seinem öffentlichen Leben auftauchenden Widerstand gegen seine Auslegung des Willen Gottes im Gegenüber zur pharisäischen Gesetzesauslegung und zur sadduzäischen Kultfrömmigkeit.

Jesus konnte nicht nur mit seinem Tode rechnen, er tat es auch. Aus zahlreichen Worten, die Jesus an seine Jünger richtet, spricht auch die eigene Martyriumsbereitschaft: »Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen und um des Evangeliums willen verliert, wird es retten« (Mk 8,35). Oder: »Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures Vaters … Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen« (Mt 10,29.31).

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner