Heinrich Bullinger über die Menschwerdung von Jesus Christus (Schriften IV, 2006, S 412):
Die allerdeutlichste und vorzüglichste Art der Gotteserkenntnis bietet sich uns in seinem Sohn Jesus Christus, der Mensch geworden ist. So haben wir gerade gehört, dass sich auch dem Mose der Schatten Christi gezeigt hat, als sich Gott selbst in höchst vertraulicher Weise offenbaren wollte. Auch der Apostel Paulus bemerkt, dass wir »durch die Erkenntnis von der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Christi« erleuchtet werden (2 Kor 4,6). Und an anderer Stelle nennt er ihn (Hebr 1,3) »Abglanz der Herrlichkeit des Vaters und Ebenbild seines Wesens«. Deutlich sagt er selbst im Evangelium (Mt 11,27): »Niemand erkennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.« Denn er selbst ist der Weg zum Vater, in ihm zeigt sich der Vater (vgl. Joh 14,6). Weiter lesen wir nämlich im Evangelium (Joh 1,18): »Niemand hat Gott jemals gesehen; der einzige Sohn, der im Schoße des Vaters ist, der hat Kunde von ihm gebracht.« Auch der Apostel sagt (1Kor 1,21): »Denn weil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Predigt die zu retten, die glauben.« Die Weisheit Gottes nennt er die Schöpfung selbst oder die Erschaffung der Welt und die wunderbaren Werke Gottes, durch die sich Gott der Welt kundtun wollte und mit deren Untersuchung und Erforschung sich die gesamte Weisheit aller Weisen bisher beschäftigt hat. Da aber hierbei die weltliche Weisheit nichts erreicht hat, da sie die Ursachen aller Dinge einem anderen zuschrieb als Gott, dem alleinigen und wahren Ziel, wurden sie, wie der Lehrer der Heiden sagt, in ihrem eigenen Denken zu Narren, während sie doch glaubten, weise zu sein (vgl. Röm 1,22). Und so gefiel es Gott, der Welt auf eine andere Weise bekannt zu werden, nämlich durch die törichte Predigt des Evangeliums, die in Wirklichkeit die höchste Wahrheit ist, der menschlichen Weisheit aber töricht scheint. Den Menschen dieser Welt scheint es eine Torheit zu sein, dass der wahre Gott Fleisch angenommen, mit uns auf Erden geweilt, Entbehrung und Hunger erduldet, gelitten haben und gestorben sein soll. Aber gerade auf diese Weise wird Gott und seine Weisheit, Güte, Wahrheit, Gerechtigkeit und Macht der Welt auf das Herrlichste bekannt. Denn die unaussprechliche Weisheit Gottes leuchtet aus dem ganzen Wirken Christi und dem wunderbaren Erlösungsvorgang einzigartig auf, insbesondere wenn wir die Gründe dafür untersuchen – davon soll an anderer Stelle die Rede sein –und auch die Lehre Christi betrachten. Darin, dass der Sohn Mensch geworden ist, wird deutlich, wie wohlgesinnt Gott der in Sünden verstrickten Welt ist, da er sich ihr ja mit einem unauflöslichen Bund verbindet und die Söhne des Todes und des Satans durch Christus zu seinen Kindern und zu Erben des ewigen Lebens annimmt [vgl. Tit 3,7]. Dass Christus aber alles, was die Propheten kraft der Offenbarung durch Gott von ihm vorausgesagt haben, im Einzelnen so genau erfüllt, dass er auch das, was Gott der Vater in ihm verheißen hatte, so freigebig gewährt, beweist, wie unverrückbar und wahrhaftig der ewige Gott ist [vgl. Joh 3,33; Röm 3,4]. In den Taten und Wundem Christi, unseres Herrn, in seiner Auferstehung, in seiner herrlichen Himmelfahrt, in der überreichen Ausgießung des Heiligen Geistes auf die Jünger und insbesondere in der Bekehrung des ganzen Erdkreises vom Heidentum und Judentum zur evangelischen Wahrheit eröffnet sich die Macht Gottes, seine Langmut, Erhabenheit und unaussprechliche Wohltätigkeit. Im Tode seines Sohnes leuchtet die übergroße Gerechtigkeit Gottes auf, die ja durch unsere Sünden verletzt wurde und sich daher auf keine andere Weise besänftigen ließ als durch ein derartiges Sühneopfer. Dadurch aber, dass er seinen eingeborenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn für uns seinen Feinden und den Gottlosen hingegeben hat [vgl. Röm 8,32], erstrahlt die Barmherzigkeit, welche zu Recht höher als alle Werke Gottes gepriesen wird. In seinem Sohn und durch ihn zeigt sich somit Gott der Welt auf deutlichste Weise, derart, dass alles, was man über Gott und seinen Willen wissen soll und was es an himmlischer, heilsamer Weisheit gibt, durch den Sohn gänzlich offenbar und sichtbar wird.