James I. Packer schreibt über die Menschwerdung Gottes (Gott erkennen, 3. Aufl., Leun: Herold 2019, S. 60–61):
Aber das eigentliche Problem, das alles überragende Geheimnis, mit dem uns das Evangelium konfrontiert, ist hier noch gar nicht angesprochen. Es findet sich nicht in der Karfreitagsbotschaft vom Sühnopfer, auch nicht in der Osterbotschaft von der Auferstehung, sondern in der Weihnachtsbotschaft von der Menschwerdung. Die atemberaubendste Botschaft des christlichen Glaubens ist, dass Gott in Jesus von Nazareth Mensch wurde. Die zweite Person der Gottheit wird zum „zweiten Adam“ (1Kor 15,47), der das menschliche Schicksal bestimmt und der Stellvertreter des Menschengeschlechts ist. Und Er wurde Mensch, ohne seine Göttlichkeit zu verlieren, so dass Jesus von Nazareth in seinem Menschsein wahrhaftiger und vollkommener Gott war.
Hier haben wir zwei Geheimnisse in einem – die Pluralität der göttlichen Personen innerhalb der Einheit Gottes und die Einheit der Gottheit und Menschheit in der Person von Jesus. Wir blicken bei dem, was zur ersten Weihnacht geschah, in das tiefgründigste und unergründlichste Geschehen der christlichen Offenbarung: „Das Wort wurde Fleisch“ (Joh 1,14). Gott wurde Mensch, der göttliche Sohn wurde ein jüdischer Junge. Der Allmächtige erschien auf der Erde als ein hilfloses menschliches Baby, das in Windeln gewickelt in einer Futterkrippe lag, das gestillt und trockengelegt wurde, heranwuchs und sprechen lernen musste, wie jedes andere Kind. Und das war keine Vorspiegelung falscher Tatsachen: Der Säugling Jesus war tatsächlich Gottes Sohn. Je mehr wir darüber nachdenken, desto unbegreiflicher erscheint es uns. Keine Fiktion ist so fantastisch, wie diese Wahrheit der Inkarnation.
Dies ist der wirkliche Stein des Anstoßes des Christentums. Hier haben Juden, Muslime, Unitarier, Zeugen Jehovas und viele andere im Blick auf die Jungfrauengeburt, die Wunder, das Sühnopfer und die Auferstehung ihre Not. Durch Unglaube oder zumindest durch einen unzulänglichen Glauben in Bezug auf die Menschwerdung entstehen gewöhnlich Probleme an anderen Stellen der Evangeliumsberichte. Aber wenn die Inkarnation als Realität anerkannt wird, lösen sich diese anderen Schwierigkeiten auf.
Wäre Jesus bloß ein bemerkenswerter, gottesfürchtiger Mensch gewesen, dann wären die Schwierigkeiten, das zu glauben, was das Neue Testament uns über sein Leben und Werk berichtet, wirklich riesig. Doch wenn Jesus dieselbe Person wie das ewige Wort ist, der Schöpfungsmittler des Vaters, „durch den er auch die ganze Welt erschuf“ (Hebr 1,2), ist es kein Wunder, wenn neue Schöpfungstaten sein Kommen in diese Welt, sein Leben in ihr und sein Verlassen dieser Welt begleiten. So ist es nicht erstaunlich, dass Er, der Urheber des Lebens, von den Toten aufersteht. Wenn Er wahrhaftig Gott, der Sohn, war, ist es dagegen viel überraschender, dass erst Er sterben musste, bevor Er wieder auferstand.
„Welch ein unfassbares Geheimnis! Der Unsterbliche stirbt“, schreibt Wesley. Doch die Auferstehung des Unsterblichen ist mit diesem Geheimnis nicht gleichzusetzen. Und wenn der unsterbliche Sohn Gottes freiwillig den Tod auf sich nahm, ist es nicht verwunderlich, dass dieser Tod für ein verlorenes Menschengeschlecht Heilsbedeutung hat. Sobald wir erkennen, dass Jesus Gott ist, können uns diese Fragen unmöglich Probleme bereiten. Dann stellen wir fest, dass alles aus einem Guss ist und vollständig zusammenhängt. Die Inkarnation ist an sich ein unergründliches Geheimnis, aber dadurch bekommt alles andere, was das Neue Testament bezeugt, erst seinen Sinn.