Freuden und Herausforderungen eines Pastors

Was macht ein Brite als Pastor in Leipzig? Und wie kann Gemeindebau im Osten Deutschlands gelingen? Darüber (und über einige andere Fragen) haben Samuel Wiebe und ich mit Larry Norman für Evangelium21 gesprochen.

Hier der Mitschnitt (der E21-Podcast kann auch auf Spotify oder iTunes abonniert werden.):

Die Postmoderne verfängt sich in ihren eigenen Logiken

Anna Mayr beschreibt in dem Artikel „Warum sich die postmoderne Linke soschwertut, den Terror gegen Israel zuverurteilen“, wie sich die Postmodernen angesichts der Krise im Nahen Osten selbst zerlegen. Die Theoretiker der Postmoderne von gestern haben den Diktatoren von heute einen roten Teppich ausgelegt. Wenn sich Probleme nicht mit vernünftigen Argumenten lösen lassen, werden die Säbel gezogen. 

Mayr schreibt: 

Es gibt ein Video im Internet, das ganz gut erklärt, warum diese Positionierung vielen nicht gelang. Darin sitzt die Sängerin Achan Malonda neben dem Autor Fabian Wolff, der sich jahrelang als Jude ausgegeben hatte, auch als jüdischer Autor bei ZEIT ONLINE Texte veröffentlichte, ohne wirklich Jude zu sein. Die beiden sprechen über die Solidarität zwischen People of Color und Juden. Malonda fragt darin Wolff, den sie zu dem Zeitpunkt wohl für einen Juden hält: „Denkst du, dass sie euch im Prinzip whiteness ge-offered haben?“ Übersetzung: Denkst du, Juden können sich aktiv dafür entscheiden, Weiße zu sein? Er stimmt ihr zu. Juden hätten die Wahl, ob sie zu den Diskriminierten gehören wollten oder nicht.

Wenn man das weiterdenkt, können Juden alles nur falsch machen: Werden sie zu Weißen, sind sie Teil der Mehrheitsgesellschaft. Lassen sie sich unterdrücken, sind sie selber schuld, denn sie hätten sich anders entscheiden können.

Judith Butler, postmoderne Vordenkerin, hat vor einigen Tagen einen Essay veröffentlicht, in dem nichts drinsteht. Eigentlich hat Butler die Hamas einst unterstützt, als Freiheitskämpfer für die Palästinenser. Doch in ihrem neuen Essay steht zig Absätze lang immer wieder das Gleiche: Die Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen, und man muss dennoch die Gewalt der Besatzungsmacht Israel sehen. Es wird deutlich, dass sie(nachvollziehbarerweise) nicht weiß, wohin sie noch denken soll. Von radikalen angloamerikanischen Postmodernen wird sie bereits geächtet; sie sei wohlauch nur eine reaktionäre, weiße Progressive, schreibt einer auf Twitter. Butler ist jüdisch.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.zeit.de.

VD: JL

Der Westen und die Religion

Es ist höchste Zeit, dass sich ein religionslos gewordener Westen wieder der Religion zuwendet, intellektuell und lebenspraktisch. Sonst versteht er bald die Welt nicht mehr, meint Martin Grichting in einem ziemlich schonungsfreien Beitrag für die NZZ. Seiner Meinung nach unterschätzen die Politiker die Wirkmächtigkeit religiöser Lehren, da sie nicht mehr davon verstehen. 

Grichting schreibt: 

Wenn es heute um die Frage nach der Ursache von islamisch motivierter Gewalt und Parallelgesellschaften geht, begegnet man immer wieder Deutungen, die den religiösen Hintergrund ausblenden. Die Weigerung muslimischer Migranten, sich in die westlichen Gesellschaften zu integrieren, sei das Erbe des Kolonialismus sowie die Folge rassistischer, wirtschaftlicher und sozialer Diskriminierung. Das führe zu Abschottung und in der Folge zu Gewalt.

Akte der Entmenschlichung, wie die Welt sie beim Überfall der Hamas auf Israel gesehen hat, werden mit der Psychologie frustrierter und perspektivloser Männer oder mit dem Einsatz von Drogen «erklärt». Sosehr das alles auch eine Rolle spielt: Der Elefant im Raum ist die Religion. Man ist offenbar nicht in der Lage, ihn zu sehen.

Nicht nur Gewaltaufrufe gehören zum Bestand islamischer Lehre. Vielmehr segregiert diese Religion die Menschen: «Nehmt euch die Juden und Christen nicht zu Freunden! Sie sind einander Freunde. Wer von euch sich ihnen anschliesst, der gehört zu ihnen.» So lautet die Ansage des Koran [Sure 5,51]. Sie bedeutet im heutigen Kontext: Wer sich im Westen integriert, ist ein Verräter. Nur wer sich in einer Parallelgesellschaft auf Distanz hält, ist ein guter Gläubiger.

Mehr: www.nzz.ch.

Antisemitismus als „Dekolonisierungstool“

Politiker, Medien sowie gewöhnliche Bürger sind darüber überrascht, dass Linke sich in den letzten Tagen eindeutig auf die Seite der Palästinenser oder gar der Hamas gestellt haben. Wie ist es möglich, dass genau jene Gruppen, die seit Jahren nachdrücklich vor einem rechten Antisemitimus warnen, jetzt auf der Seite derer stehen, die Israel mit unvorstellbarer Brutalität überfallen haben? 

Das kommt nicht aus dem Nichts. Viele Linke hegen schon lange gewisse Sympathien mit dem palästinensischen Befreiungskampf. Der Siegeszug gegen „den Westen“ wird in den Zusammenhang einer größeren Revolution gestellt. Die Adorno-Preisträgerin Judith Butler, die übrigens selbst Jüdin und zudem Pazifistin ist, hat bekanntlich einmal gesagt, dass Hamas und Hisbollah als Teil der globalen linken Bewegung zu sehen seien.

Der Historiker Vojin Saša Vukadinović erklärt erfreulicherweise in einem Beitrag für die linke Wochenzeitung JUNGLE WORLD, dass für Teile der Linken dieser Kampf gegen Israel eine konsequente Umsetzung der sogenannten „Dekolonisierung“ ist. Er schreibt: 

Was der Imperativ „decolonize!“, der seit einigen Jahren nicht nur den identitätspolitischen Aktivismus befeuert, sondern in Windeseile von den hiesigen Geistes- und Sozialwissenschaften adaptiert worden ist, in Bezug auf Israel meint, hat die Hamas am 7. Oktober demonstriert. Die universitäre Anhängerschaft dieses Kampfbegriffs bemüht sich nun um Schadensbegrenzung. Zwar dürfte sie in den kommenden Monaten versuchen, sich aus der Affäre zu winden, doch daran, was dieser neumodische wie gesellschaftlich akzeptierte antisemitische Code meint, gibt es keinen Zweifel mehr. Wer ihn verwendet, bezieht Position.

Wenige sind dabei so ehrlich wie Najma Sharif, eine US-amerikanische Influencerin, die für die TeenVogue und In Style schreibt. Noch am Tag des Pogroms setzte sie einen Tweet ab, in dem es hieß: „Was dachtet Ihr alle denn, was Dekolonisierung bedeutet? Vibes? Seminararbeiten? Essays? Loser.“ Der Zuspruch für diese unverhohlene Bejahung des Massenmords lag in kürzester Zeit im sechsstelligen Bereich. Höhnend legte Sharif noch nach: „Wenn ‚nicht so‘, wie denn sonst. Zeigt’s uns lol.“

Statt darüber nachzudenken, in welchem Verhältnis ihr Weltbild und ihr Jargon zum Massaker stehen könnten, sind die Verfechterinnen und Verfechter des Dekolonisierungsgedankens nun bestrebt, diesen zu retten. So behauptete Vanessa Thompson, die vor einigen Jahren an der Goethe-Universität Frankfurt am Main lehrte, nun Professorin an der Queen’s University in Kanada ist und einen deutschsprachigen Reader zu Abolitionismus herausgegeben hat, auf Twitter, dass „das, was passiert“, das „unmittelbare Resultat von Besatzung und Landraub“ sei. Während diese Umschreibung des palästinensischen Überfalls zeigt, dass Thompson ein objektiver Begriff für den Terror nicht über die Tastatur geht, integriert sie ihn umgekehrt sehr flott: Es sei „abstoßend“, dass Menschen die israelischen Opfer betrauern, nicht aber den „Massenmord an den Palästinensern“. 

Auch Frédéric Schwilden hat für DIE WELT diesen Zusammenhang beobachtet, wenn er schreibt: 

Dass es diese Menschen gibt und gab, das wusste ich. Aber dass es so viele sind, macht mich ratlos. Und noch ratloser sollte uns machen, dass diese Menschen in ihrem Sein sogar systemisch unterstützt worden sind und noch werden. Die Bundesregierung fördert stolz jedes Projekt, dass irgendwas mit „Intersektionalität“ und „Postkolonialismus“ im Namen trägt. Und da sind nicht die jungen Männer, die auf der Straße rauchen, oder die Muttis am Gemüsestand. Das sind die akademischen Weißbrote. Aber sie sind der intellektuelle Nährboden, der diese Leute ermutigt, der denen, wie es dann so oft heißt, „eine Stimme“ gibt.

Höhepunkt dieser Haltung war eine Documenta, bei der ein indonesisches Kollektiv aus post-kolonialer Perspektive Karikaturen in Kassel auf- und erst nach großen Protesten wieder abhängte, auf der Juden unter anderem mit SS-Runen im Gesicht oder mit Schweinenasen gezeigt wurden. Die Hamburger Kunsthochschule fand das so überzeugend, dass sie zwei Männern des indonesischen Kuratoren-Kollektivs der Documenta eine Gastprofessur gab.

Die beiden Professoren wiederum likten nach dem Terror dieser Woche einen Beitrag auf Instagram, in dem Jugendliche in Neukölln die Hamas bejubeln.

Und weiter sagt er:

Der Philosoph und Historiker Konstantin Sakkas veröffentlichte vor einiger Zeit den Text mit dem allessagenden Titel: „Die Geburt des Postkolonialismus aus dem Geist des Faschismus“. Er beschreibt das alles sehr gut. Da ist ein Diversity-besoffenes Milieu, das außer ein bisschen Judith Butler wenig gelesen und oft gar nichts verstanden hat. Und dieses Milieu hält es seit einiger Zeit für besonders progressiv, alles zu dekolonialisieren. Besonders Israel natürlich. Es sind Harvard-Absolventinnen, Menschen, die feministische Außenpolitik gut finden, die Gender- oder Postcolonial Studies studieren und sich für queeres Leben und Black Lives Matter einsetzen.

VD: JL

Carl Trueman: Fremde neue Welt

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Für viele Menschen ist die Identitätspolitik unserer Zeit mehr als ein Reizthema. Sie können nicht nachvollziehen, weshalb Bedürfnisse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, die sich über kulturelle, ethnische, soziale oder sexuelle Merkmale definieren, so stark in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen gerückt sind und teilweise sogar die Redefreiheit gefährden. Warum beschäftigt sich die Politik etwa engagiert mit Fragen der Sexualität, die doch eigentlich zutiefst persönliche und diskrete Angelegenheiten sein sollten?

Der Historiker Carl R. Trueman zeichnet in Fremde neue Welt nach, wie sich identitätspolitische Ansätze entwickelt haben. Seiner Meinung wurden die Ursprünge dieser Art zu denken und zu fühlen bereits in der Epoche der Romantik angelegt. Über Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud, Wilhelm Reich und Herbert Marcuse – übrigens allesamt deutschsprachige Gelehrte – entstand eine neue Sichtweise auf das Selbst, die zusammen mit technologischen Errungenschaften den expressiven Individualismus und die sexuelle Revolution erst ermöglichte. Dieses Buch beschäftigt sich auf kürzere und zugänglichere Weise mit gleichen Themen wie das preisgekrönte Werk Der Siegeszug des modernen Selbst (2020/2022). Im letzten Kapitel wird ausführlich erörtert, wie Christen als Fremde in dieser neuen Welt auf die Entwicklungen reagieren sollten.

»Wir können«, so schreibt Trueman, »im aktuellen kulturellen Umfeld nur dann bestehen und die spezifischen Herausforderungen vor uns angehen, wenn wir tief und breit in Gottes Wahrheit gegründet sind.« Außerdem enthält der »kleine Trueman« Fragen zur Vertiefung, die das Selbststudium sowie Gruppengespräche anregen können.

Ulrich Parzany schreibt in seinem Geleitwort zu Fremde neue Welt: »Trueman macht klar, dass Sexualität heute keine moralische Frage ist. Es geht um die Identität des Menschen, also um die Frage: Wer bin ich? Das haben viele Christen heute noch nicht verstanden.«

Das Buch erscheint voraussichtlich am 10. November und kann derzeit zu einem Vorzugspreis vorbestellt werden. Mehr Informationen und eine Bestellmöglichkeit gibt es hier: verbum-medien.de.

Calvin und die Vorsehung

Die Josephsgeschichte gehört für mich zu den anrührendsten Erzählungen der Bibel (vgl. 1Mose 37–50). Josephs Brüder wollen den jungen Mann eigentlich töten. Schließlich  verkaufen sie ihn – aufgrund der Intervention von Juda – an einige Händler, die auf dem Weg nach Ägypten sind. Dort arbeitet Joseph als Diener im Haus des Potifar. Gott schenkt ihm Gelingen in allem, was er tut. So kann er seiner Familie in einer großen Hungersnot helfen. Schließlich kommt es im Finale zu einer Versöhnung. Jospeh vergibt seinen Brüder und kann sogar seinen Vater Jakob noch sehen. Die Gesichte zeigt uns, dass Gott die Bosheit der Menschen nutzt, um etwas Gutes zu schaffen. Was für ein Josephsbekenntnis: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen“ (1Mose 50,20).

Der Reformator Johannes Calvin hat in seiner Auslegung der dramatischen Erzählung die Gelegenheit ergriffen, einen Exkurs über die „Vorsehung“ einzubauen. Bevor ich seine Auslegung von 1Mose 45,3–8 wiedergebe, drei kurze Hinweise.

Erstens ist hier ein den Menschen zugewandter, mitfühlender und gütiger Prediger zu hören. Calvin wird ja nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen, sehr streng und fordernd gewesen zu sein. In den Ausführungen zu V. 4 betont er dieweil, wie wichtig es ist, einem Sünder, der wegen seiner Sündenerkenntnis verzweifelt am Boden liegt, mit herzlicher Liebe aufzuhelfen und darin zu bestärken, auf Verzeihung zu hoffen.

Zweitens grenzt Calvin sich betont von der Sichtweise jener Glaubensbrüder ab, die davon sprechen, dass Gott das Böse nicht aktiv wirke, sondern nur zulasse. Er wird hier vermutlich Leute wie Heinrich Bullinger im Blick gehabt haben, der bezüglich Vorsehung und Erwählung sanfter formulierte und den großen Genfer gelegentlich darum bat, es ebenso zu tun. Immerhin nennt Calvin diese Leute „tüchtige Männer“.

Drittens hält Calvin mit Nachdruck daran fest, dass Gott niemals Autor der Sünde ist und der Mensch vollumfänglich für sein Handeln verantwortlich bleibt. Calvin liefert keine hinreichende Erklärung für diese zwei Sichtweisen, die scheinbar nicht gut zueinander passen. Es bleibt für ihn „eine geheimnisvolle Handlungsweise“, die „unsern Gesichtskreis weit übersteigt“. Jedenfalls gibt er sich hier als Vertreter des „Kompatibilismus“ zu erkennen, nachdem die absolute Souveränität Gottes die Verantwortung des Menschen nicht aufhebt (vgl. auch hier).

Nun aber seine Auslegung zu 1Mose 45,3–8 (Auslegung der Genesis, 1956, S. 424–427, leicht modernisiert):

V. 3. Ich bin Joseph. Obwohl Joseph ein so herrliches Zeichen seiner zärtlichen Liebe gegeben hat, stehen seine Brüder doch erschreckt wie von einem Blitzschlag, als er seinen Namen nennt. Denn während sie sich überlegen, was sie wohl verdient haben, ist ihnen Josephs Macht so furchtbar, daß sie nichts als den Tod vor Augen sehen. Wie er sie aber so von Furcht versteinert sieht, macht er ihnen weiter gar keinen Vorwurf, sondern müht sich nur, sie in ihrer Verwirrung zu beruhigen, ja er liebkost sie so lange zärtlich, bis er sie ruhig und heiter sieht. An diesem Beispiel lernen wir, wie wir uns davor hüten müssen, Menschen in Trauer versinken zu lassen, die wirklich in bitterer Scham sich demütigen. Solange ein Sünder taub ist gegen Vorwürfe, sich in Sicherheit wiegt, ruchlos und hartnäckig Ermahnungen zurückweist oder heuchlerisch sich entschuldigt, solange ist nur größere Strenge zu gebrauchen, aber ein Ende muss es mit der Härte haben, sobald er niedergeworfen am Boden liegt und in Erkenntnis seiner Sünde zittert; Mäßigung wenigstens muss folgen, die den Niedergeworfenen zur Hoffnung auf Verzeihung aufrichtet. Damit also die Strenge recht und wohlgestaltet sei, gilt es, die herzliche Liebe anzuziehen, die jetzt bei Joseph zu rechter Zeit sich zeigt.

V. 4. Tretet doch her zu mir! Mehr als irgendwelche Worte wirkt diese freundliche Einladung zur Umarmung. Doch nimmt er ihnen zugleich auch mit Worten, so süß sie ihm nur zu Gebote stehen, ihre angstvolle Sorge. So führt er weise das Gespräch, indem er sie bescheiden anklagt und dann wieder tröstet; doch bei weitem überwiegt der Trost, da er sie ja der Verzweiflung nahe sah, wenn er ihnen nicht rasch zu Hilfe käme. Wenn er ferner daran erinnert, wie er verkauft worden ist, so reißt er da nicht die Wunde des alten Verbrechens mit rachedurstigem Sinn auf, sondern er tut es, weil es immer gut ist, wenn das Bewusstsein der Sünde fest haftet, sofern nur nicht maßloser Schrecken den armen Menschen nach der Erkenntnis seiner Schuld verschlingt. Weil aber Josephs Brüder mehr als genug geängstigt waren, müht er sich dann um so mehr, die Wunde zu heilen. Dazu dient der zweimalige Hinweis (V. 5, V. 7): Gott hat mich vor euch hergesandt. Zu ihrem Heil sandte ihn Gottes Ratschluss voraus nach Ägypten, um sie am Leben zu erhalten. Nicht sie waren es eigentlich, die ihn verbannten, sondern Gottes Hand leitete ihn.

V. 8. Ihr habt mich nicht her gesandt, sondern Gott. Das ist eine Hauptstelle dafür, dass die gegebene Ordnung sich gar nie durch der Menschen Verkehrtheit und Bosheit völlig verwirren lässt: Gott führt noch immer ihre wirren, unruhigen Anschläge zu einem guten Ende. Wir werden hier auch gemahnt, wie und zu welchen Zweck wir über Gottes Vorsehung nachdenken sollen. Wenn neugierige Menschen darüber reden, so ist es nicht nur so, dass sie unter Hintansetzung des Zieles alles durcheinanderbringen und verkehren, sondern sie ersinnen auch das ungereimteste Zeug, um Gottes Gerechtigkeit zu verhöhnen. So hat es diese Frechheit dahin gebracht, dass manche frommen und bescheidenen Leute am liebsten diesen Teil der Lehre begraben wissen möchten. Denn sobald man von Gottes allumfassendem Weltregiment spricht, kraft dessen nichts ohne seinen Wink und Willen geschieht, sprudeln Leute, die ohne genügende Ehrfurcht sich über Gottes Geheimnisse ihre Gedanken machen, eine Unsumme von nicht nur vorwitzigen, sondern auch schändlichen Fragen heraus. Wie aber diese unfromme Maßlosigkeit fernzuhalten ist, so gilt auf der andern Seite die Regel, dass wir nicht einer faden Unwissenheit bezüglich solcher Dinge zustreben sollen, die uns nicht nur durch Gottes Wort geoffenbart sind, sondern deren Kenntnis auch gar sehr nützlich ist. Es scheuen sich tüchtige Männer, zu bekennen, dass nichts, was die Menschen nur immer unternehmen, ohne Gottes Willen geschieht, damit nicht sofort zügellose Zungen schreien, Gott sei auch Urheber der Sünde, oder man dürfe ruchlose Menschen nicht von ihrer Sünde bekehren, da sie doch Gottes Ratschluss durchführten. Aber wenn auch dieser gotteslästerliche Wahnwitz nicht widerlegt werden könnte, so müsste es uns genügen, ihn zu verabscheuen. Inzwischen dürfen wir daran festhalten, was klare Zeugnisse der Schrift lehren, dass nämlich Gott vom Himmel her trotz alles Tobens der Menschen ihre Anschläge und Unternehmungen lenkt, mögen sie betreiben, was sie wollen; ferner dass er durch ihre Hand vollbringt, was er bei sich beschlossen hat. Tüchtige Männer, die sich scheuen, Gottes gerechtes Walten den Schmähungen gottloser Leute auszusetzen, haben ihre Zuflucht zu der Unterscheidung genommen, dass Gott bei dem einen wolle, dass es geschieht, dass er anderes dagegen nur zulasse, – gleich als ob die Menschen, wenn er weggeht, tun und lassen könnten, was sie wollten. Wenn Gott nur zugelassen hätte, dass Joseph nach Ägypten geschleppt wurde, hätte er ihn ja nicht dazu verordnet, seinem Vater Jakob und seinen Söhnen zum Heil zu dienen, – und das wird ihm doch hier mit klaren Worten zugeschrieben. Hinweg also mit jener leeren Erfindung, als ob das Böse, das Gott selbst dann zu einem guten Ende wendet, nur mit seiner Erlaubnis, nicht aber durch seinen Rat und Willen geschehe! Vom Bösen spreche ich im Hinblick auf die Menschen, die kein anderes Vorhaben kennen, als verkehrt zu handeln. Gleichwie aber die Sünde in ihnen sitzt, so muss ihnen auch die ganze Schuld zugeschoben werden. Gott dagegen wirkt wunderbar durch sie, indem er aus unreinem Kot strahlend hell seine Gerechtigkeit erstehen lässt. Eine geheimnisvolle Handlungsweise ist das, die unsern Gesichtskreis weit übersteigt. Daher braucht es uns nicht wunderzunehmen, wenn fleischlicher Mutwille sich dagegen erhebt. Um so mehr aber müssen wir uns vor dem Versuch hüten, jene unermessliche Erhabenheit Gottes in die engen Schranken unseres Denkens zu zwängen. Fest bleibe daher der Satz, dass Gott der Herr ist, mag auch menschliche Willkür über die Stränge schlagen und bald da, bald dort sich brüsten! Mit geheimem Zügel lenkt er die Regungen, wohin er will. Anderseits müssen wir auch daran festhalten, dass Gott mit deutlicher Unterscheidung handelt, so dass an seiner Vorsehung nichts Sündiges haftet, dass seine Ratschlüsse keine Verwandtschaft haben mit menschlicher Sünde. Ein herrliches Bild davon stellt uns diese Geschichte vor Augen: Joseph wird von seinen Brüdern verkauft, einzig deshalb, weil sie ihn verderben, auf irgendeine Weise vernichten wollen. Das nämliche Werk wird Gott zugeschrieben, doch mit einem weltweit verschiedenen Zweck, nämlich dazu, dass das Haus Jakobs in Hungersnot wider Erwartung noch Nahrung bekomme. So wollte er für eine Zeit Joseph gleichsam ermordet haben, um ihn plötzlich als Urheber des Lebens aus dem Grabe herauszuführen. Daraus erhellt der gewaltige Unterschied, der zwischen jener Freveltat und seinem wunderbaren Ratschluss besteht, wie sehr er auch anfangs mit Frevlern zusammenzuarbeiten schien.

Jetzt wollen wir Josephs Worte auslegen. Er scheint, um seine Brüder zu trösten, sie ihre Schuld vergessen zu machen. Aber doch wissen wir, dass Menschen nicht von der Anklagebank genommen werden, wenn Gott auch noch so gewiss zu einem guten und glücklichen Ende führt, was sie in böser Absicht begonnen haben. Denn was nützt es dem Judas, dass aus seiner frevelhaften Treulosigkeit die Erlösung der Welt hervorging? Nun lenkt aber Joseph den Blick seiner Brüder nur auf eine Weile von ihrem Verbrechen ab, bis sie sich von ihrer maßlosen Angst erholt haben. Dadurch wälzt er nicht die Schuld auf Gott, noch spricht er sie ganz ledig, wie wir im letzten Kapitel noch deutlicher sehen werden. Ganz gewiss ist es so zu halten: die Taten der Menschen dürfen nicht nach dem schließlicher Erfolg beurteilt werden, sondern nur danach, ob jemand säumig war in der Erfüllung seiner Pflicht, oder ob er etwas gegen Gottes Gebot unternommen oder die seinem Beruf gesteckten Grenzen überschritten hat. Da vernachlässigt etwa ein Mann seine Frau und seine Kinder und sorgt nicht fleißig für ihre Lebensbedürfnisse; obgleich sie nicht sterben, sofern es nicht Gott will, so kann er das doch nicht als entschuldigenden Vorwand für seine Unmenschlichkeit als Gatte und Vater benützen, mit der er sie lieblos im Stiche ließ, wo er ihnen hätte helfen sollen. Die Vorsehung Gottes nützt also solchen Leuten gar nichts, die sie mit bösem Gewissen ihren Missetaten als Deckmantel überziehen wollen. Auf der anderen Seite ist festzustellen, dass Gott, sooft er der Bosheit derer, die uns schaden wollen, begegnet, ja nicht nur das, sondern auch die bösen Anschläge zu unserem Besten umkehrt, – auf diese Weise unsere natürlichen Leidenschaften dämpft und uns immer gleichmütiger und versöhnlicher macht. So wird uns Joseph zum Dolmetsch des rechten Verständnisses von Gottes Vorsehung, wenn er sie als Ausgangspunkt nimmt, seinen Brüdern zu verzeihen. Die Empörung über das an ihm begangene Verbrechen hätte ihn so entflammen können, dass er am ganzen Leibe lohte vor Rachgier; aber er vergisst im Blick darauf, dass Gottes wunderbare und außerordentliche Güte ihre Bosheit wunden hat, das Unrecht und umarmt freundlich die Leute, deren Schande Gott mit seiner Gnade verhüllt hat. Gewiss ist die Liebe erfindungsreich, wenn es gilt, die Sünden der Brüder zu begraben, und so passt sie gerne alles diesem Zwecke an, was dazu dienen kann, den Zorn zu stillen und den Hass zu besänftigen. Auch Joseph wurde zu einer andern Gesinnung hingerissen, weil er von Gott erwählt war, seinen Brüdern zu helfen. So kommt es, dass er ihnen nicht nur die ihm angetane Beleidigung verzeiht, sondern in glühendem Eifer, alle ihm auferlegten Aufgaben zu erfüllen, sie ebenso von Angst und Furcht wie von ihrer Not befreit. Das ist der Sinn, wenn er sagt, er sei von Gott verordnet, dass er sie übrig behalte, das heißt, ihnen Nachkommenschaft bewahre oder besser: sie selbst am Leben behalte, und zwar durch eine herrliche, wunderbare Errettung. Wenn er sich „Vater“ des Pharao nennt, so überhebt er sich nicht in leerer Prahlerei, wie eitle Menschen pflegen, auch prunkt er nicht hoffärtig mit seinen Schätzen, sondern er will aus dem unglaublich prächtigen Ausgang beweisen, dass er nicht zufällig oder mit Menschenkraft in diese Stellung gelangte, sondern dass ihm vielmehr durch Gottes wunderbaren Ratschluss diese erhabene Gewalt verliehen wurde, damit er mit ihr seinem Vater und seiner ganzen Familie helfe.

Roman Jakobson: Hinter dem generischen Maskulinum steckt ein Strukturprinzip

Vertreter einer gendergerechten Sprache mögen die die strukturalistische Grammatik nicht, da sie wissenschaftliche Argumente gegen ihre gefühlten Wahrheiten liefert. Begründer des Strukturalismus war Roman Ossipowitsch Jakobson, der in New York auf Claude Lévi-Strauss traf und ihn nachhaltig beeinflusste. Jakobson hatte bereits Anfang der Dreißigerjahre herausgefunden, „dass zwischen dem Maskulinum eines Wortes wie Bürger und der femininen Bürgerin eine semantische und grammatische Asymmetrie besteht: Der Bürger ist nicht nur kürzer als die Bürgerin, er hat im Gegensatz zu ihr auch eine sexusneutrale Grundbedeutung“.

Wolfgang Krischke schreibt in seinem Artikel für DIE WELT: 

Der Kampf für eine „geschlechtergerechte Sprache“ ist ein Kampf gegen das generische Maskulinum. Es wird verwendet, wenn es auf die Geschlechtszugehörigkeit nicht ankommt. Werden alle Wähler zur Stimmabgabe aufgefordert, gilt das für die Gesamtheit der Wahlberechtigten, nicht nur die Männer unter ihnen. Doch die Genderer leugnen diese Geschlechtsneutralität. In Ausdrücke wie Wähler oder Einwohner ist nach ihrer Überzeugung die Männlichkeit tief eingeschrieben. Im generischen Maskulinum sehen sie einen Trick des Patriarchats, mit dem willkürlich ein Teil für die Gesamtheit der Geschlechter gesetzt wird.

Was die Genderverfechter nicht wahrhaben wollen: Hinter dem generischen Maskulinum steckt ein grundlegendes Strukturprinzip, das sich in vielen Sprachen nicht nur in der Grammatik, sondern auch im Lautsystem und im Wortschatz findet. Es ist die Opposition zwischen „markierten“ und „unmarkierten“ Formen. Entdeckt hat sie der russische Linguist Roman Jakobson (1896–1982), einer der bedeutendsten und brillantesten Vertreter seines Fachs.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Salman Rushdie: Meinungsfreiheit wird von allen Seiten bedroht

Der Schriftsteller Salman Rushdie bekam am 22. Oktober in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis 2023 überreicht. Seine Dankesrede enthielt einen aufschlussreichen Passus über die Notwendigkeit, die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Ich zitiere: 

Wir leben in einer Zeit, von der ich nicht geglaubt habe, sie erleben zu müssen, eine Zeit, in der die Freiheit – insbesondere die Meinungsfreiheit, ohne die es die Welt der Bücher nicht gäbe – auf allen Seiten von reaktionären, autoritären, populistischen, demagogischen, halb­gebildeten, narzisstischen und achtlosen Stimmen angegriffen wird, eine Zeit, in der sich Bildungseinrichtungen und Bi­bliotheken Zensur und Feindseligkeit ausgesetzt sehen; in der extremistische Religionen und bigotte Ideologien beginnen, in Lebensbereiche vorzudringen, in denen sie nichts zu suchen haben. Und es gibt sogar progressive Stimmen, die sich für eine neue Art von bien-pensant Zensur aussprechen, eine Zensur, die sich den Anschein des Tugendhaften gibt und die viele, vor allem junge Menschen, auch für eine Tugend halten.

Von links wie rechts gerät die Freiheit also unter Druck, von den Jungen wie den Alten. Das hat es so bislang noch nicht gegeben und wird durch neue Kommunikationsformen wie das Internet noch komplizierter, da gut gemachte Webpages mitsamt ihren böswilligen Lügen gleich neben der Wahrheit stehen, weshalb es vielen Menschen schwerfällt, das eine vom anderen zu unterscheiden. Außerdem wird in unseren sozialen Medien Tag für Tag die Idee der Freiheit missbraucht, um dem Mob online das Feld zu überlassen, wovon die milliardenschweren Besitzer dieser Plattformen profitieren und was sie zunehmend in Kauf zu nehmen scheinen.

Was aber tun wir in Sachen Meinungsfreiheit, wenn sie auf derart vielfältige Weise missbraucht wird? Wir sollten weiterhin und mit frischem Elan machen, was wir schon immer tun mussten: schlechte Rede mit besserer Rede kontern, falschen Narrativen bessere entgegensetzen, auf Hass mit Liebe antworten und nicht die Hoffnung aufgeben, dass sich die Wahrheit selbst in einer Zeit der Lügen durchsetzen kann. Wir müssen sie erbittert verteidigen und sie so um­fassend wie möglich definieren, was natürlich heißt, dass wir die freie Rede auch dann verteidigen, wenn sie uns beleidigt, da wir die Meinungsfreiheit sonst überhaupt nicht verteidigen würden.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Kein Gott, nirgends

Die Stellungnahmen von EKD und Diakonie für eine Legalisierung der Abtreibung bis zur 22. Woche sind frei vom Anspruch einer an theologisch-ethische Diskurse anknüpfenden Pragmatik. Nicht einmal das Wort Gott braucht es noch, meint Daniel Deckers:

Dass sich die Repräsentanten der verfassten katholischen Kirche über dem Umgang mit sexueller Gewalt als Anwälte des Lebensschutzes selbst diskreditiert haben, ist wohl nicht mehr zu ändern. Die Stellungnahmen von EKD und Diakonie zugunsten einer Legalisierung der Abtreibung bis zur 22. Woche sind dagegen vollkommen frei vom Anspruch einer originären, an religiöse Überzeugungen und theologisch-ethische Diskurse anknüpfenden Pragmatik. Nicht einmal das Wort Gott braucht es noch.

Mehr: www.faz.net.

Dietrich Bonhoeffer: Von der christlichen Gemeinschaft

Dietrich Bonhoeffer sagt über die brüderliche Gemeinschaft, die durch Christus gestiftet wird (Gemeinsames Leben, DBW, Bd. 5, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2015, S. 21–22):

„Brüder im Herrn“ nennt Paulus seine Gemeinde (Phil. 1,14). Bruder ist einer dem andern allein durch Jesus Christus. Ich bin dem andern ein Bruder durch das, was Jesus Christus für mich und an mir getan hat; der | andere ist mir zum Bruder geworden durch das, was Jesus Christus für ihn und an ihm getan hat. Daß wir allein durch Jesus Christus Brüder sind, das ist eine Tatsache von unermeßlicher Bedeutung. Also nicht der ernste, nach Bruderschaft verlangende, fromme Andere, der mir gegenübertritt, ist der Bruder, mit dem ich es in der Gemeinschaft zu tun bekomme; sondern Bruder ist der von Christus erlöste, von seiner Sünde freigesprochene, zum Glauben und zum ewigen Leben berufene Andere. Was einer als Christ in sich ist, in aller Innerlichkeit und Frömmigkeit, vermag unsere Gemeinschaft nicht zu begründen, sondern was einer von Christus her ist, ist für unsere Bruderschaft bestimmend. Unsere Gemeinschaft besteht allein in dem, was Christus an uns beiden getan hat, und das ist nicht nur im Anfang so, so daß im Laufe der Zeit noch etwas anderes zu dieser unserer Gemeinschaft hinzukäme, sondern es bleibt so in alle Zukunft und in alle Ewigkeit. Gemeinschaft mit dem Andern habe ich und werde ich haben allein durch Jesus Christus. Je echter und tiefer unsere Gemeinschaft wird, desto mehr wird alles andere zwischen uns zurücktreten, desto klarer und reiner wird zwischen uns einzig und allein Jesus Christus und sein Werk lebendig werden. Wir haben einander nur durch Christus, aber durch Christus haben wir einander auch wirklich, haben wir uns ganz für alle Ewigkeit.

David Wells: Von der Faszination weltlicher Weisheit

David F. Wells schreibt über die Faszination der weltlichen Weisheit (God in the Wasteland: The Reality of Truth in a World of Fading Dreams, 1994, S. 54–55):

An dieser Stelle sollte klar sein, dass Weltlichkeit nicht einfach eine unschuldige kulturelle Eskapade ist, und schon gar nicht eine Angelegenheit, bei der es sich nur um unbedeutende Verhaltensverstöße oder das Übertreten trivialer Regeln der Kirche oder der erwarteten Frömmigkeit handelt. Weltlichkeit ist eine religiöse Angelegenheit. Die Welt, wie die Autoren des Neuen Testaments sie beschreiben, ist eine Alternative zu Gott. Sie bietet sich selbst als ein alternatives Zentrum der Treue an. Sie bietet einen gefälschten Sinn. Sie ist das Mittel, das Satan in seinem Kampf gegen Gott einsetzt. Teil dieser „Welt“ zu sein, bedeutet, Teil der satanischen Feindschaft gegen Gott zu sein. Deshalb ist die Weltlichkeit so oft götzendienerisch, und deshalb sind die biblischen Sanktionen gegen sie so streng. „Wisst ihr nicht“, fragt Jakobus, „dass die Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer also ein Freund der Welt sein will, macht sich zum Feind Gottes“ (Jakobus 4,4).

In der heutigen evangelikalen Bewegung ist die Weltlichkeit zu spüren. Auf den ersten Blick erscheint diese Weltlichkeit keineswegs hässlich. Ganz im Gegenteil. Sie hat eine warme und freundliche Ausstrahlung und präsentiert sich als erfolgreiches Unternehmertum, als organisatorische Meisterleistung und als ein Paket ausgeklügelter PR-Kenntnisse, die für die Förderung evangelikaler Angelegenheiten unerlässlich sind.

Nun ist an sich nichts falsch an Unternehmertum oder organisatorischer Meisterleistung oder Öffentlichkeitsarbeit oder Fernsehbildern und Hochglanzmagazinen. Das Problem liegt in der gegenwärtigen Unfähigkeit der Evangelikalen zu erkennen, dass diese Dinge Werte in sich tragen, die dem christlichen Glauben feindlich gegenüberstehen. Das Problem liegt außerdem in der mangelnden Bereitschaft der Evangelikalen, auf die unmittelbaren und überwältigenden Vorteile der Moderne zu verzichten, selbst wenn korrumpierte Werte ein wesentlicher Bestandteil dieser Nutzeffekte sind. Was also ganz offensichtlich fehlt, ist Unterscheidungsvermögen, und das hat viel mit der Verdrängung der biblischen Wahrheit aus dem Leben der Kirche heute und viel mit dem Sterben ihrer theologischen Seele zu tun.

Unterscheidungsvermögen ist eine geistliche Fähigkeit. Es ist die Einsicht, die mit christlicher Weisheit einhergeht. Es ist die Fähigkeit, das Leben zu „durchschauen“, es so zu sehen, wie es wirklich ist. Manche Menschen sind von Natur aus klüger als andere, manche kritischer als andere, und Gott mag diese Art von Gabe durch seine Gnade verstärken, aber es ist nicht diese natürliche Fähigkeit, auf die ich mich hier beziehe. Der Kern der Fähigkeit, in den konkreten Lebensumständen zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, ist die reiche Entfaltung, die Gott aus dem Zusammenspiel der Wahrheit seines Wortes, dem Nachdenken darüber und dem daraus erwachsenden moralischen Charakter beabsichtigt. Es ist diese Kultur der Weisheit, mit der sich die Bibel in beiden Testamenten intensiv beschäftigt und für die die evangelikale Welt das Interesse verloren zu haben scheint.

Die alternative Weisheit, die die Moderne heute vorschlägt, hat eindeutig ihre Faszination, um nicht zu sagen ihre Vorteile. Die westliche Gesellschaft akzeptiert sie als normal und besteht in ihren frechen Momenten lautstark darauf, dass sie normativ ist. Sie ist populär, weil sie funktioniert. Aber in vielerlei Hinsicht bietet sie der Kirche eine gefälschte Realität, die die Macht hat, das zu zerstören, was die Kirche ist. Sie beraubt die Kirche gewiss ihrer Einsicht in den wahren Sinn des Lebens, einer grundlegenden moralischen Einsicht, weil sie die Kirche ihrer Fähigkeit beraubt, sich an Gott zu orientieren, der im Zentrum der Heiligkeit steht.

Mehr mehr über David Wells wissen möchte, kann den Artikel von Sarah Eekhoff Zylstra lesen.

Das neue Credo: Fünf säkulare Glaubenssätze im Test

Mein Kollege in der Redaktion von Evangelium21, Samuel Wiebe, hat das Buch Das neue Credo: Fünf säkulare Glaubenssätze im Test (Dillenburg: CV, 2023) von  Rebecca McLaughlin gelesen. Ich zitiere:

Mit ihrem Buch Das neue Credo gibt Rebecca McLaughlin dem christlichen Leser, der im Dialog mit der umgebenden säkularen Kultur steht, ein wertvolles Hilfsmittel an die Hand. Ihre Analyse der säkularen Glaubenssätze zu Rassismus, Sexualität und Geschlechtlichkeit sowie ihre Einordnung in das biblisch-christliche Narrativ helfen – trotz kleinerer Mängel in der Struktur – sprachfähig zu sein und den christlichen Glauben und christliche Werte in einer post-christlichen Welt plausibel und schmackhaft zu machen. Insofern ist das Buch nicht nur für den Christen geschrieben, der auf der Suche nach apologetisch überzeugenden Argumenten ist, sondern auch für den säkularen Skeptiker, der das Christentum als rückständig oder gar gefährlich ansieht. McLaughlin lädt beide ein, sich auf einen Dialog über das christliche Weltbild einzulassen.

Vor allem aber lädt sie dazu ein, die christlichen Tugenden von Wahrheit und Liebe, von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit wieder in Einklang miteinander zu bringen. Die Gemeinde Jesu ist dazu aufgefordert, den Mitmenschen, die unter den Sünden anderer oder der eigenen Sünde leiden, die in einem realen Kampf mit der eigenen Sexualität und Geschlechtlichkeit stehen, mit Liebe auf Grundlage von befreiender Wahrheit zu begegnen.

Mehr: www.evangelium21.net.

Bonhoeffer: „Eine Theologie gibt es hier nicht“

Als Dietrich Bonhoeffer 1930 Vorlesungen am Union Theological Seminary in New York besuchte, war er von der schlechte Qualität der Lehre an dieser liberalen Hochburg erschüttert. An seinen Superintendenten, Max Diestel, schrieb er am 19. Dezember 1930 (Barcelona, Berlin, Amerika 1928–1931, DBW (Logos-Ausgabe), Bd. 10, S. 220–221):

Zunächst, das Leben im Seminar ist sehr anregend und lehrreich, soweit der persönliche Verkehr in Betracht kommt, der auch mit den Professoren sehr freundschaftlich ist. Auch der Professor muß eben ein good fellow sein. Man muß sich fast hüten, daß das viele gegenseitige Sichbesuchen und schwatzen nicht zuviel von der Zeit nimmt. Denn – sachlich kommt so gut wie nie etwas aus diesen Gesprächen heraus. Und damit komme ich auf den tristen Punkt der Sache. Eine Theologie gibt es hier nicht. Ich habe im wesentlichen dogmatische und religionsphilosophische Seminare und Kollegs, aber der Eindruck bleibt vernichtend. Es wird das Blaue vom Himmel heruntergeschwatzt ohne die geringste sachliche Begründung und ohne daß irgendwelche Kriterien sichtbar werden. Die Studenten – durchschnittlich 25–30 Jahre alt – sind restlos ahnungslos, worum es eigentlich in der Dogmatik geht. Sie kennen nicht die einfachsten Fragestellungen. Man berauscht [sich] an liberalen und humanistischen Redensarten, belächelt die Fundamentalisten und ist ihnen im Grund nicht einmal gewachsen. Man interessiert sich für Barth und macht ab und zu auch ein wenig ‚in Pessimismus‘. Das ist dann ganz schlimm. Im Gegensatz zu unserem Liberalismus, der doch ganz zweifellos eine durchaus kräftige Erscheinung in seinen guten Vertretern war, ist hier drüben das alles so schauerlich sentimentalisiert und dabei mit einer geradezu naiven Rechthaberei. Es geht mir oft innerlich durch und durch, wenn man hier im Kolleg Christus erledigt und unverfroren lacht, wenn ein Zitat von Luther über Sündenbewußtsein gegeben wird. Die James’sche Weisheit vom endlichen Gott steckt tief in den meisten Theologen und Pastorenköpfen drin. Sie finden das tiefsinnig und modern und spüren garnicht den frechen Leichtsinn in all diesem Gerede.

Die Sünder in den Händen eines zornigen Gottes

In Jonathan Edwards bekanntester Predigt heißt es: 

Alle Bemühungen und Maßnahmen, welche die Sünder sich ausdenken, um der Hölle zu entrinnen, helfen ihnen in keinem Augenblick, solange sie Christus ablehnen und damit Sünder bleiben. Fast jeder natürliche Mensch, der etwas von der Hölle vernimmt, bildet sich ein, dass er ihr entrinnen werde; er vertraut auf sich selbst zu seiner Sicherheit; erschmeichelt sich in seinen Gedanken an das, was er schon geleistet hat, jetzt noch leistet und in Zukunft noch leisten wird; jeder überlegt sich nach seinem eigenen Sinn, wie er der Verdammnis entgehen könne; er verlässt sich darauf, dass es ihm wohl gelinge und dass seine Pläne nicht scheitern können. Zwar hat er schon gehört, dass nur wenige der bis jetzt verstorbenen Menschen errettet wurden, dass also der weitaus größere Teil in die Hölle gelangt sei; aber jeder stellt sich vor, dass seine Pläne und Maßnahmen eben besser seien als diejenigen der schon verlorenen Seelen. 

Die Predigt Die Sünder in den Händen eines zornigen Gottes kann hier heruntergeladen werden: mbstexte074_2.pdf.

Briten haben die Kirche aufgegeben

Laut einer in der Zeitung The Times zitierten Umfrage sind rund 75 Prozent der Geistlichen der Anglikanischen Kirche der Ansicht, dass das Vereinigte Königreich nicht mehr als christliches Land bezeichnet werden dürfe. Die jüngsten Volkszählungsdaten bestätigen dies. Im Jahr 2011 lag die Zahl der Menschen, die sich als Christen bezeichneten, bei 60 Prozent, doch bis 2021 war dieser Anteil auf 46 Prozent geschrumpft.

Celia Walden kommentiert die Säkularisierung für The Telegraph mit den Worten: „Ich musste gestern an einen Pfarrer denken, als ich las, dass in einer Umfrage unter fast 1.200 aktiven Geistlichen der Kirche von England die meisten von ihnen die Transformation von Kirchen in ‚Orte, an denen Menschen für nicht-religiöse Veranstaltungen, Aktivitäten und Annehmlichkeiten zusammenkommen‘ unterstützen würden. Offenbar würden mehr als 70 Prozent der Geistlichen ihre Gebäude gerne für die Nutzung durch Gemeindegruppen wie Spielgruppen und Yogakurse, für Veranstaltungen wie Ausstellungen und Konzerte und für Einrichtungen wie Cafés und Postämter außerhalb der Gottesdienstzeiten zur Verfügung stellen.“ 

Weiter schreibt Walden: 

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass wir uns als säkulare Gesellschaft in den Kult des Selbst gestürzt haben, gerade weil wir ins Taumeln geraten sind und kein geistiges Grundgerüst mehr haben, das uns Halt gibt. Die Vorstellung, dass uns Nahrung in Form von „Blut und Leib Christi“ gereicht wird, wird belächelt, aber wir schlucken unsere grünen Säfte und „Superfoods“  in der Hoffnung, dass sie uns das geben, was unseren leeren Seelen fehlt – und uns ein ewiges, wenn auch geistig entleertes Leben sichern.

Wie funktioniert das für uns? Nun, wir erleben die größte Krise der psychischen Gesundheit in der Geschichte unseres Landes: Die Zahl der psychischen Probleme bei Kindern ist in den letzten fünf Jahren um 49 Prozent gestiegen, einer von vier 17- bis 19-Jährigen leidet an einer wahrscheinlichen psychischen Störung und die Zahl der „psychischen Erkrankungen und Nervenstörungen“ bei Erwachsenen ist um 22 Prozent gestiegen. 

Wissen Sie, was nachweislich die psychische Gesundheit verbessert, die Isolation verringert und uns das Gefühl von Zugehörigkeit und Gemeinschaft gibt, nach dem wir uns sehnen? Altruismus, Nächstenliebe, Spiritualität – die echte Art, bei der man mit etwas Größerem konfrontiert wird als dem erstickenden „Du“. Ich würde vorschlagen, dass Sie in Ihrer örtlichen Kirche vorbeischauen, aber die Kirchenbänke wurden wahrscheinlich herausgerissen, um Platz für einen Kurs für Beine, Hintern und Bäuche zu schaffen.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.telegraph.co.uk.

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