Klassische Bildung ist wichtig

Obbie Tyler Todd schreibt über die Bedeutung der klassischen Bildung in den Augen des Kirchengeschichtlers Samuel Miller („American Christianity and The Classics (1776–1861)“, JETS, Ausgabe 65, Nr. 4, S. 773–792, hier S. 773–774):

Als der Princetoner Theologe Samuel Miller in den frühen 1840er Jahren eine Reihe von Briefen an seine Söhne schrieb, die noch auf dem College waren, gab er ihnen eine Fülle von väterlichen Ratschlägen zu Themen wie Patriotismus, Kleiderordnung und Freundschaft. Miller brachte seinen Söhnen sogar bei, wie sie Geld ausgeben und ihre Zimmer sauber halten sollten. Wie viele seiner aufgeklärten Generation ermutigte auch er seine Kinder, oft und viel zu lesen.

Doch Miller empfahl ein Studienfach mehr als alle anderen. „Was auch immer du im Leben vorhast, du solltest dir so viel klassische Literatur wie möglich aneignen“, riet er. „Es wird eine Zierde und eine Befriedigung für euch sein, solange ihr lebt. Sie wird eure Ansichten erweitern, den Geist disziplinieren, die moralische und intellektuelle Kraft steigern und euch auf eine umfassendere und höhere Brauchbarkeit vorbereiten.“

Als Presbyterianer und Professor für Kirchengeschichte erkannte Miller die Bedeutung historischer Texte und der Beherrschung alter Sprachen. Schließlich wurde die Bibel selbst sowohl auf Hebräisch (Altes Testament) als auch auf Griechisch (Neues Testament) verfasst. Nach dem *Westminster-Bekenntnis* ist die Heilige Schrift „unmittelbar von Gott inspiriert und durch seine einzigartige Fürsorge und Vorsehung in allen Zeitaltern rein bewahrt worden; sie ist daher authentisch“. Als Protestant war sich Miller darüber im Klaren, dass viele theologische Disputationen seit der Reformation ausschließlich auf Latein und nicht auf Deutsch, Französisch oder Englisch geführt worden waren. Seiner Meinung nach war das Studium der griechischen und römischen Literatur jedoch nicht nur eine akademische oder intellektuelle Übung. Es trug dazu bei, einen ganzen Christen zu formen und die „moralische und intellektuelle Kraft“ des Studenten zu fördern.

Der spätmoderne Sündenbegriff

Der Soziologe Heinz Bude interessiert sich nicht für die Morallehre seiner Katholischen Kirche, versteht sich aber als Christ. In einem Interview mit der Zeitschift DIE WELT offenbart er ein Verständnis von Sünde, das heutzutage sehr verbreitet, zugleich aber unchristlich ist:

Wenn ich keine Idee meiner Sündenfähigkeit habe, habe ich auch keine Idee meines Scheiterns an mir selber. Dann weiß ich umgekehrt auch gar nicht, was ein gelungenes Leben sein könnte. Die Idee der Sünde ist ja immer ein Vergehen an sich selber und an seinen eigenen Vorstellungen von dem, wie richtiges und gutes Leben aussehen könnte. Deshalb ist „Sünde“ nach wie vor eine wahnsinnig wichtige Kategorie. Dass man sich an seinen eigenen Prinzipien versündigt, aber natürlich auch an allgemeinen Prinzipien, das begegnet jedem Menschen, andauernd.

Sünde als selbstschädigendes Verhalten. So defizitär kann über Sünde nur jemand denken, der von sich groß und von Gott klein denkt.

Hier mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Süchtig nach Sinn

Die transzendentale Obdachlosigkeit, mit welcher der postmoderne Mensch zu leben gelernt hat, bleibt nicht ohne Konsequenz. Der Verlust von objektivem Sinn und das religiöse Vakuum treiben ein neues Suchtverhalten hervor. Und das birgt – so meint Peter Strasser – politischen Sprengstoff:

Die zweite Konsequenz der rabiaten Abwehr des aufgeklärten westlichen Denkens: Allerorten regen sich mit grosser Vehemenz Kollektivismen, die hart religiös unterbaut sind. Das Individuum, das eben noch alle möglichen Spielarten der gewaltlosen Spiritualität und Esoterik durchspielte, ohne sich innerlich selbst befrieden zu können, sucht sein Heil in politreligiösen Strömungen, die manifest faschistoiden Mustern folgen … Worauf also in Zukunft – und es wird eine Zukunft mannigfacher, weltumspannender Krisen sein – besonders geachtet werden sollte, ist der Umstand, dass, neben den bekannten Süchten, der Verlust von objektivem Sinn und das damit einhergehende existenzielle Vakuum in unseren postmodernen Gesellschaften ein neues Suchtverhalten hervortreibt. Jenes Vakuum wird zusehends durch irrationale Lehren und Aktivitäten überdeckt, deren Entzug zu suizidalem, hyperaggressivem und amokläuferischem Verhalten führen kann.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.nzz.ch.

„Was passiert zum Schluss mit der Bibel?“

In manchen Verlagen, Redaktionen und Behörden wird daran gearbeitet, alte literarische Texte umzuarbeiten, um sie an die Woke-Kultur anzupassen. Die Texte werden also engagiert darauf gescannt, ob sie rassistische, sexistische oder soziale Diskriminierung stimulieren könnten (vgl. hier und hier). Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann von der Partei Bündnis90/Grüne stellt dazu die richtige Frage:  

Man müsse Texte wie den Roman „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen, der zur Abiturienten-Pflichtlektüre im Südwesten zählt, geschichtlich einordnen, sagte Kretschmann in Stuttgart. Wenn man sich nicht mehr mit Texten aus Zeiten befasse, in denen andere Maßstäbe gegolten haben, hätte das weitreichende Konsequenzen. „Was passiert zum Schluss mit der Bibel? Mit dem populärsten, meistgelesenen Buch?“, fragte der Grünen-Politiker.

Nachtrag: Sollte übrigens die Bibel eines Tages durch „tugendhafte“ Sensitivity-Redakteure umgeschrieben werden, jubeln die Postevangelikalen wahrscheinlich mit. Da ja die Heilige Schrift aus ihrer Sicht nur verschriftlichte Gefühle besonders religiöser Menschen enthält, sollten sie kein theologisches Problem damit haben, die biblischen Texte an die Empfindungen der „Generation Woke“ anzupassen. Ganz im Gegenteil: die sprachlichen Entschärfungen machen – so die Progressiven – den christlichen Glauben attraktiver. 

Mehr: www.deutschlandfunkkultur.de.

Bullinger: So groß ist die Liebe Gottes zum Menschen

Heinrich Bullinger über Christus, der sein eigenes Kreuz trägt (Schriften I, 2006, S. 159): 

Über all dies hinaus nimmt er auch noch sein eigenes Kreuz auf die Schultern und trägt es hinaus zur Richtstätte. Hier wird er unter größten Schmerzen ans Kreuz genagelt, aufgerichtet und, während seine Kräfte schwinden, den schwersten Todesqualen überlassen. Nackt und bloß hängt er etwa drei Stunden bei lebendigem Leib unter den heftigsten Schmerzen da [vgl. Joh 19,17–29]. Dies soll sich der Kranke in seinen Nöten und Schmerzen vor Augen halten. Und weil der Sohn Gottes diese Folter um des Menschen willen erlitten hat, soll der Kranke auch daran denken, dass die Liebe Gottes zum Menschen groß und dieses Opfer, die Wiedergutmachung unserer Sünden, vollkommen ist.

Das Geschäft mit der neuen Lust

Was Silke Weber in ihrem Artikel „Das Geschäft mit der neuen Lust“ über die neue Sex-Ordnung schreibt, macht deutlich, wie bedeutsam die Kulturanalyse von Carl Truemann zum „neuen Selbst“ ist. 

Zitat: 

„Sexualität und Gender sind keine politischen Nebenschauplätze“, hat die britische Feministin Laurie Penny postuliert: In den vergangenen Jahren sei eine sexuelle Revolution angestoßen worden, die unser Verständnis von Sex, Macht und Widerstand neu bestimme. Und gleichzeitig stellen Frauen, Männer und LGBTQ überall die gewohnte Geschlechterbinarität infrage.

Einvernehmlichkeit, Gemeinschaft und Offenheit bilden eine neue Ordnung. Clubnächte werden zu sexpositiven Partys, bei denen Gäste, wenn sie wollen, einfach nackt tanzen können. Wenn sie Begehren verspüren, dürfen sie dieses auch ausleben. Auf einer Schaukel, einer Liege, im Darkroom. Die Großstädte werden zu Spielwiesen, in denen Shibari-Workshops angeboten werden, um die erotische Kunst des Fesselns zu erlernen.

Die Sicht auf Sexualität und der Umgang mit ihr haben sich in weiten Teilen der Gesellschaft über die vergangenen Jahre radikal verändert.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Die menschliche Vernunft bei Calvin

Günter Frank schreibt über die natürliche Gotteserkenntnis bei Johannes Calvin („Gläubige Vernunft – vernünftige Glaube“, in: Herman J. Selderhuis, Calvinus clarissimus theologus, RHT 18, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, S. 141–157, hier S. 155):

Zu Anfang seines dritten Kapitels des 1. Buches der „Institutio“ untersucht Calvin genauer die Struktur der von Natur aus eingestifteten Gotteserkenntnis. Dass dem menschlichen Geist ein natürlicher Instinkt (instinctus naturalis) und ein Samen der Religion (semen religionis) innewohnt, steht danach – wie Calvin betont – außer jedem Zweifel. Dies beinhaltet das Wissen, dass Gott existiert und er der Schöpfer der Welt ist. Und dieses Wissen ist nach Calvin auch durch den Sündenfall nicht zerstört worden. Es ist, als von Gott dem Geist des Menschen eingestiftet, unzerstörbar. Gerade auch der Widerspruch der Gotdosen ist – wie Calvin fortführt – ein Beweis dafür, dass diese Überzeugung auf natürliche Weise allen eingestiftet ist. Das heißt aber auch: eine Vernunft, die sich nicht auch in Ihrer Offenheit gegenüber der Transzendenz begreift, verfehlt sich prinzipiell. Die menschliche Vernunft wird auch nach Calvin erst dann richtig begriffen, wenn sie zugleich jene Offenheit mit bedenkt, welche die Grenze der „ratio“ übersteigt.

Natürlich war Calvin insgesamt weniger an einer philosophischen Argumentation interessiert ist. Dennoch hatte Van Houten m.E. zu Recht seine Untersuchung insgesamt darin zusammengefasst, dass die intellektuelle oder konzeptuelle Erkenntnis der Existenz Gottes auch nach dem Sündenfall im menschlichen Geist bleibe, auch wenn es sich – wie Calvin hervorhebt – nur um ein verworrenes und kein vollständiges Wissen von Gott in Form der Idolatrie handelt. Diese Gotteserkenntnis ist Kern einer bleibenden und unverlierbaren strukturellen Gottebenbildlichkeit des menschlichen Geistes. Was ihm in dieser Erkenntnis mangele, ist die Erkenntnis von Gottes wahrer Natur und die dieser korrespondierenden Antwort des Glaubens und der Frömmigkeit.

Gott hat sich sprachlich offenbart

Francis Schaeffer sagte über die Kommunikation Gottes (Gott ist keine Illusion, 1974, S. 106):

Was Gott dem Menschen mitgeteilt hat, ist wahr, aber nicht erschöpfend — diese wichtige Unterscheidung müssen wir stets beachten. Für ein erschöpfendes Wissen müßten wir unendlich sein wie Gott. Das werden wir aber nicht einmal im Himmel sein.

Gott hat zum Menschen gesprochen — nicht nur über den Kosmos und die Geschichte, sondern auch über sich selbst. Die auf diese Weise mitgeteilten Wesenszüge Gottes sind für Gott selbst, den »Sender« dieser Kommunikation, wie für den Menschen, den »Empfänger« dieser Kommunikation, sinnvoll. Was Gott von seinen Wesenszügen offenbart hat, hat nicht nur unterhalb der Linie des Menschen Gültigkeit (als werde Gott ins Bild des Menschen hineingepreßt). Die anthropologische Linie verläuft nicht wie ein eherner Himmel undurchdringlich über unseren Köpfen, und der Gott, der gesprochen hat, ist nicht das unerkennbare Unendliche oberhalb dieser Linie. Der Gott, der den Menschen in seinem eigenen Bilde geschaffen hat, teilt ihm wahre Wahrheit über sich selbst mit — und zwar nicht lediglich im Rahmen existentieller Erfahrungen oder inhaltsloser »religiöser Ideen«. Wir haben Zugang zu wahrer Erkenntnis — das zeigt die Heilige Schrift an einfachen, aber überzeugenden Beispielen: Als Gott die Gebote auf Steintafeln schrieb oder als Jesus den Paulus auf der Straße nach Damaskus in hebräischer Sprache anredete8, bedienten sie sich dazu einer wirklichen, grammatikalisch und lexikalisch gefaßten Sprache, einer Sprache, die der Angeredete, der »Empfänger«, verstehen konnte.

Gemeinsam unterm Regenbogen

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Da die Verlagsgruppe SCM inzwischen Regenbogenliteratur für die Kinder- und Jugendarbeit verkauft (siehe hier), möchte ich einen Beitrag, den ich erstmals 2022 veröffentlicht habe, hier nochmals – leicht überarbeitet – posten. Denn es gibt auch gute Regenbogenliteratur!

Wenn wir einen Regenbogen oder eine Regenbogenfahne sehen, denken wir heute so gut wie selbstverständlich an die LGBTQ+-Community. Der amerikanische Aktivist Gilbert Baker kam 1978 nämlich auf die geniale Idee, ein Symbol, das eigentlich für die Bundestreue Gottes oder den Frieden steht, leicht abzuwandeln und daraus ein Symbol der sexuellen Vielfalt zu machen (seine Regenbogenfahne hat nur sechs Streifen).

Wiebke Klassen hat ein Buch geschrieben, dass sich sehr gut dafür eignet, mit Kindern im Alter von 4 bis 10 Jahren über die eigentliche Bedeutung des Regenbogens zu sprechen. Geschildert wird der Dialog zwischen einem großen und einem kleinen Regenbogen. Der kleine Regenbogen ist unglücklich und weiß gar nicht so richtig, wofür er da ist. Doch nach und nach wird ihm klar, was für eine Aufgabe er hat. Er zeigt den Menschen, dass Gott seiner Schöpfung eine gute Ordnung eingestiftet hat und es wunderbar ist, sein konkretes Geschöpfsein zu bejahen.

Wir sollten uns den Regenbogen nicht kapern lassen, sondern mit unseren Kindern darüber reden, welche Bedeutung er aus biblischer Sicht für uns Menschen hat.

USA: Abkehr von Gott verunsichert

In den USA wird über eine Umfrage diskutiert, aus der hervorgeht, dass sich die Amerikaner im Eiltempo von den traditionellen Werten abkehren. Das Design der Umfrage ist umstritten. Dennoch erhitzt das Ergebnis die Gemüter. Die NZZ schreibt: 

Vor allem in konservativen Kreisen erhitzte die Umfrage die Gemüter. Viele Politiker sahen sich in ihren Warnungen vor einer gesellschaftlichen Zersetzung durch linke Ideologien bestätigt: «Der Selbsthass, den wir im ganzen Land sehen, ist schlimmer als jede Pandemie», twitterte die republikanische Präsidentschaftsbewerberin Nikki Haley. «Amerika ist die grossartigste Nation der Welt, und wir müssen das unseren Kindern weiterhin vermitteln.»

Das Land befinde sich in einer Identitätskrise, schrieb auch der konservative Unternehmer und Präsidentschaftsbewerber Vivek Ramaswamy: «Glaube, Patriotismus, Familie und harte Arbeit sind verschwunden. Wokeness, Gender-Ideologie und der Klimakult haben ihren Platz eingenommen.» Der republikanische Kongressführer Kevin McCarthy versprach seinerseits: «Deshalb werde ich nie aufgeben. Wir können diese Entwicklung rückgängig machen.»

Der konservative Meinungsforscher Patrick Ruffini hingegen zog die Ergebnisse der Umfrage auf seinem Blog in Zweifel. Zwar habe das «Wall Street Journal» die Umfrage von Norc, dem führenden Unternehmen für Datenerhebungen in den USA, durchführen lassen. Meinungen in der Gesellschaft würden sich gewöhnlich aber nicht so abrupt verändern. «Wenn diese Zahlen von meiner Firma produziert worden wären, hätte ich sofort einen Fehler vermutet.»

Mehr: www.nzz.ch.

„Sensitivity Reader“ stürzen sich auf Miss Marple

Jetzt fallen die „Sensitivity Reader“ der Verlage, also Leute, die Texte auf Diskriminierungen prüfen, auch noch über Miss Marple her. Welche Folgen aber hat der Eingriff? 

Natürlich ist das alles hochbedenklich. Warum kann man Lesern nicht die Originaltexte zumuten, im Vertrauen darauf, dass die sich ihre eigenen Gedanken über die Beschränktheiten einer vor 47 Jahren mit 85 gestorbenen Kriminalschriftstellerin machen? Ist es nicht Verfälschung, wenn Romanfiguren, durch deren innere Monologe Wahrnehmungen puckern, die sich heute niemand mehr gestatten würde, nun auftreten, als hätten sie ein Antidiskriminierungs-Training hinter sich?

Und wo soll das noch hinführen – wird man irgendwann nicht mehr feststellen können, dass Autoren wie Agatha Christie, Roald Dahl oder Ian Fleming rassistisch, antisemitisch oder sexistisch gedacht haben, weil man es nicht mehr mit ihrem um alle Irritationen bereinigten Werk belegen kann?

Das Ansinnen grenzt an Gehirnwäsche. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn es irgendwann auch bereinigte Ausgaben der Bibel gibt. 

Mehr: www.welt.de.

Das entleibte Geschlecht

Bei Genderfragen soll die Biologie des menschlichen Körpers einerseits keine Rolle mehr spielen. Das, was ich fühle, entscheidet angeblich über mein Geschlecht. Andererseits erleben wir einen Hype um den natürlichen Umgang mit dem Körper – egal, ob es die Ernährung, Empfängnisverhütung oder die Menstruation betrifft. Natur ist „in“. Wie passt das zusammen?

Judith Blage geht genau dieser Frage nach und zeigt, dass wir nur dort nach Natürlichkeit streben, wo es uns in den Kram passt:

Wie unlogisch … diese entleibte Sicht auf Geschlecht ist, lässt sich gut am Beispiel Gendermedizin demonstrieren. Nirgendwo sonst wird so deutlich, wie wichtig es für die Gleichbehandlung ist, Geschlechter sehr wohl biologisch zu unterscheiden: Frauen und Männer erkranken nicht nur anders, sie reagieren auch unterschiedlich auf Medikamente.

Weil medizinische Forschung hauptsächlich an Männern stattfindet, sterben Frauen noch immer häufiger an Herzinfarkten und anderen Erkrankungen. Ihre Symptome werden schlicht nicht so gut erkannt wie die von Männern. Deshalb fordern Experten eine bessere Erforschung der Geschlechtsunterschiede in der Medizin – und stossen damit absurderweise unter anderem auf Proteste von Feministinnen.

Warum also streben wir in so vielen alltäglichen Bereichen und in fast aberwitzig unwichtigen Details nach dem grossen Ziel der vermeintlichen Natürlichkeit, während wir in anderen grossen Fragen das Vorhandensein von Körperlichkeit und Biologie so vehement verneinen?

Mehr: www.nzz.ch.

Devi, die nette Hexe von nebenan

Gilbert Keith Chesterton hatte bekanntlich mal behauptet, dass Menschen, die aufhören, an Gott zu glauben, nicht an nichts – sondern irgendetwas glauben. Das gilt inzwischen auch für den Raum der Kirche. Alles ist möglich. Dort, wo das Evangelium von Jesus Christus nicht mehr geglaubt wird, nisten sich allerlei andere Glaubereien ein. Ein jüngstes Beispiel zeigt, dass die Kirche auch offen dafür ist, die angeblichen Schnittstellen von evangelischem Glauben und Hexerei anzuerkennen.

Um was geht es?

Das digitale Projekt Basis:Kirche soll eine Alternative zu den klassisch-analogen Angeboten der Kirche liefern. Zielgruppe des kirchlichen YouTube-Kanals sind junge Menschen, die viel im Internet surfen. Produziert wird laut Selbstauskunft der Kanal vom Evangelischen Kirchenfunk Niedersachsen-Bremen (ekn) im Auftrag der verschiedenen Landeskirchen in Niedersachsen sowie dem Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden (also BEFG, der Baptistenbund). Das ist der Kanal, auf dem schon mal der Auftritt einer Drag-Queen oder die Qualitätsarbeit des Sexarbeiters André gefeiert wird (vgl. hier).

Im neusten Beitrag trifft die Pastorin der Basis:Kirche die modernde Hexe Devi in ihrer Wohnung in Berlin. Devi zeigt das Tarot-Kartenlegen, führt Rituale durch und erklärt dem Team der Basis:Kirche, wie Magie funktioniert und wann man sie einsetzt. In jedem ihrer Zimmer steht ein Schrein, auf dem sie beispielsweise ihren verstorbenen Mops verehrt.

Pastorin Juli findet das alles total spannend. Da überschneide sich so viel. Der evangelische Glaube sei ja gar nicht so verschieden vom Hexenglauben. Hexi Devi meint, in der Kirche gäbe es halt andere Namen.  Kurz: Hier wie dort glaubt man an etwas, ist offen und bleibt optimistisch.

Es ist – soweit ich das sehen kann – keine Parodie. Es soll bewusst einladend und locker wirken. Dennoch ist die Sache in einer gewissen Weise bitterernst und offenbart unfreiwillig sehr viel über das kirchliche Leben in Deutschland. Ob die Macher die Sendschreiben an die Gemeinden in Thyatira und Sardes kennen?

Hier:

Walter Brueggemann: Wie lesen wir die Bibel?

Walter Brueggemanns Aufsatz zum Thema „Bibel und Homosexualität“ hat weite Verbreitung gefunden. Der auf einer katholischen pro LGBGT+-Plattform erschienene Text ist in mancherlei Hinsicht aufschlussreich. Brueggemann, der als Bibelausleger von vielen konservativen Christen geschätzt wird, erklärt einerseits, dass die biblischen Texte, die sich speziell mit homosexuellen Praktiken befassen, diese bedingungslos verurteilen. Gleichzeitig beruft er sich auf die Vielstimmigkeit der Heiligen Schrift und fordert, dass die Verbote durch das Evangelium überboten werden. Für aufrichtige Christen heißt das: Sie müssen die eindeutigen biblischen Gebote ablehnen, um das Evangelium zur Geltung zu bringen. Das klingt etwa so:

Die exegetische Situation ist klar: Wir wissen, was der Text sagt. Aber was sollen wir mit dem tun, was der Text sagt? Ich halte es für wichtig, klar zu sagen, dass wir die eindeutigen Gebote der Heiligen Schrift ablehnen und uns stattdessen auf eine andere Autorität berufen, wenn wir erklären, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften heilig und gut sein können.

Ian Paul hat diesen Aufsatz gründlich analysiert und kommt zu dem Ergebnis:

Und es lässt sich nicht leugnen, dass verschiedene biblische Texte beim ersten Lesen in Bezug auf zentrale Themen wie Gewalt, Sklaverei, die Rolle der Frau – und natürlich den Gehorsam gegenüber der Tora – in Spannung zueinander zu stehen scheinen. Die Frage ist: Worin besteht diese Spannung? Hat das mit unterschiedlichen kulturellen und kontextuellen Aspekten zu tun, oder sind diese Spannungen auf unüberbrückbare Widersprüche zurückzuführen? Bei jedem dieser strittigen Themen scheinen verschiedene Texte zunächst in ihrem direkten Bezug auf das jeweilige Thema in Spannung zueinander zu stehen. Wir sollten nicht zu Texten greifen, die nichts miteinander zu tun haben, um das Gesamtbild, das die Heilige Schrift bietet, zu widerlegen.

Aber hier liegt die Ironie: Während Brueggemann behauptet, dass „die Bibel zu keinem Thema mit einer einzigen Stimme spricht“, ist die gleichgeschlechtliche sexuelle Aktivität das eine Thema, zu dem die Bibel tatsächlich „mit einer einzigen Stimme“ zu sprechen scheint. Die Menschheit ist nach dem Bilde Gottes erschaffen als Mann und Frau und die sexuelle Vereinigung von Mann und Frau wird als Ausdruck dieses Schöpfungsmusters dargestellt. Die levitische Ablehnung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen scheint sich auf diesen Bericht zu stützen und sowohl Paulus als auch Jesus beziehen sich ausdrücklich darauf: Jesus in seinem Verständnis der Ehe und Paulus speziell in seiner Ablehnung gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehrs, wobei er sich in Römer 1 auf die Schöpfung und in 1. Korinther 6,9 und 1. Timotheus 1,9 auf den levitischen Kodex beruft.

Das vielleicht Hilfreichste, was Brueggemann in seinem Artikel für uns tut, ist hervorzuheben, dass die heutige Debatte über Sexualität in der Kirche im Kern eine Debatte über die Bibel ist. Können wir der Schrift vertrauen, dass sie die Wahrheit Gottes zu uns spricht? Ist die Schrift „Gottes geschriebenes Wort“, das eine wesentliche theologische Kohärenz aufweist (vgl. Artikel XX in den XXXIX Articles of Religion), oder ist sie ein Gemisch aus Gottes guter Nachricht an uns, in das sich sündige und sogar abstoßende menschliche Ideen gemischt haben und wir somit das eine vom anderen trennen müssen, um das Gold des Evangeliums aus der biblischen Schlacke zu retten?

Die Analyse von Ian Paul ist bei Evangelium21 erschienen: www.evangelium21.net.

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