Im Rundbrief eines pietistischen Werkes las ich kürzlich folgende Worte:
„Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31). Am Ende der Woche blickt Gott zufrieden auf sein Werk. Alles, was er geschaffen hat, befindet er als sehr gut. In der Zeit der babylonischen Gefangenschaft hat dieser Text dem Volk Israel Hoffnung und Halt gegeben. Die Welt mag chaotisch erscheinen. Aber Gott hat alles in der Hand. Er hat alles geschaffen. Und Gott befindet seine Schöpfung für sehr gut. Das gilt auch für uns heute: „Du bist Gottes Geschöpf. Und er befindet dich sehr gut. Mit dieser Perspektive lässt sich anders leben. Aus der Pädagogik wissen wir, dass Zuspruch und Wertschätzung Menschen zum Aufblühen befähigen. Und so dürfen wir zuversichtlich mit dem Rückenwind unseres dreieinigen Gottes in das neue Jahr gehen und uns auf das freuen, was Gott an uns und durch uns bewegt.
Das ist ein in mancherlei Hinsicht bemerkenswerter Text. Einmal wird in Schleiermachscher Manier nicht mehr zwischen der Lage vor und nach dem Sündenfall unterschieden. Die traditionelle Theologie sprach von einem status integritatis vor und einem status corruptionis nach dem Sündenfall. Demnach ist die Welt seit dem Sündenfall verdorben. Schleiermacher hat sich von dieser zeitlichen und kausalen Abfolge verabschiedet und verortet die Sünde im religiösen Bewusstsein des Menschen. Aber immerhin ist für Schleiermacher nicht alles sehr gut. Die Sünde ist wirklich und hemmt das höhere Selbstbewusstsein. Für den Vater der neuzeitlichen Theologie war das Böse von Anfang an in der Welt gegenwärtig und bremst bis auf den heutigen Tag möglichen Geschichtsfortschritt auf dem Weg zum Guten. Eine defizitäre und unbiblische Sichtweise – ohne Zweifel. Aber doch erkennt Schleiermacher an, dass sich Gutes mit Bösem verschränkt. Von einem Mangel an Gutem wird in dem obigen Zitat gar nicht mehr gesprochen. Die Welt mag chaotisch erscheinen, aber eigentlich ist alles sehr gut. Vor allem bist du als Mensch und Christ einfach wunderbar!
Zudem wird das Evangelium durch „Wertschätzungspsychologie“ ersetzt. Das kommt nicht ganz überraschend. Da, wo keine Sünde ist, braucht es ja auch keine Erlösung. Menschliches Lob und Anerkennung reichen aus und lassen den Menschen aufblühen.
Das ist nicht nur tragisch, weil es mit der Welt der Tatsachen nichts zu tun hat. Jeder, der mit offenen Augen durchs Leben geht, sieht, dass die Welt nicht in Ordnung ist. Die Schönheit der Schöpfung ist gebrochen durch Leid, Krankheit, Gewalt, Sünde und Tod. „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt“ (Röm 8,22). Und wer sein eigenes Herz kennt, weiß ebenfalls, dass nicht alles gut ist und wir zurecht täglich um Vergebung unserer Schuld bitten.
Fatal ist so ein Impuls eben auch, weil an unserem Sündenverständnis das ganze Gewicht der Evangeliumsverkündigung hängt. Wer meint, die Sünde, die uns von Gott trennt, sei nicht real, sondern nur dafür da, Menschen Schuldgefühle einzureden, wird Mühe haben, die Botschaft von der durch Christus ermöglichten Vergebung und Rettung weiterzugeben. Da reicht es aus, den Menschen zu spiegeln, wie wunderbar sie sind.
Der lutherische Theologe Gerhard Ebeling wusste noch sehr genau, wie viel davon abhängt, über Sünde in biblischen Kategorien zu denken und zu predigen. Er schreibt in seiner Dogmatik (Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, S. 362-363):
An dem Thema Sünde hängt das ganze Gewicht dessen, was die Sache des Glaubens von allem unterscheidet, was den Menschen sonst erfüllt und bewegt. Ist es mit der Sünde nichts, so ist es mit allem nichts, wovon die Dogmatik handelt. Und zwar muss man mit aller Entschiedenheit sagen: Dann ist nicht etwa nur alles überflüssig, was im zweiten und dritten Teil der Dogmatik soteriologisch auf die Überwindung der Sünde und ihrer Folgen abzielt. Dann ist vielmehr auch alles hinfällig, was im ersten Teil der Dogmatik über Gott und über die Schöpfung gesagt war. Denn wenn der Mensch nicht Sünder ist –wohlgemerkt: dieser Mensch, der wir selbst sind –, dann ist Gott nicht Gott und die Welt nicht seine Schöpfung. Das klingt überspitzt, ist aber eine sehr schlichte Feststellung: Kann man Gott mit dem Menschen, wie er ist, zusammendenken ohne das Urteil, dass der Mensch Sünder ist, dann ist Gott etwas Nichtiges oder bestenfalls – sollte man richtiger sagen: schlimmstenfalls? – in der Tat ein Geschöpf des Menschen.
Derartige Glaubensimpulse sind gar nicht so selten. Sie verdeutlichen, warum es hin und wieder einen Weckruf braucht. Siehe: dasevangelium.net.