Luther sagte 1515/1516 in seiner Vorlesung zu Römer 8,28:
Hart ist es und jammervoll, dass Gott seine Herrlichkeit in meinem Elend sucht. Siehe, das ist die Stimme des Fleisches: »Mein, mein«, sagt sie. Räume dies »mein« hinweg und sag’ dafür: Ehre sei dir, Herr, und du wirst selig sein. So sucht die Klugheit des Fleisches nur das Ihre und hat mehr Angst vor ihrem eigenen Elend als vor einer Verunehrung Gottes und fragt darum mehr nach ihrem eigenen Willen als nach dem Willen Gottes. Daher muss man anders über Gott denken als über den Menschen; denn er ist keinem etwas schuldig. So sagt er zu Hiob (41,2): »Wer hat mir etwas zuvor gegeben, dass ich’s ihm vergelte? Alles, was unter dem Himmel ist, ist mein.« Dieses Wort führt auch der Apostel am Schluss des 11. Kapitels an: »Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben, das ihm wieder vergolten werde?« (Röm 11,35).
Ja, Herr Doktor Luther, aus theologischer Sicht haben Sie freilich recht.
Aber wenn Sie alles, was nicht Ihrem theologischen Ansatz entspricht, gleich als „Klugheit des Fleisches“ bezeichnen, kommen wir nicht weiter.
Da ist ein Konsens nicht möglich, aber wie ich Sie aus Ihrem Hauptwerk über den geknechteten Willen kenne, dürfte Ihnen das wohl herzlich egal sein.
Freilich ist Gott der Souverän, der König, der allmächtige Herrscher, und ja, wir wissen, dass wir ihm nichts bringen können, ist doch alles, alles sein. Selbst unser Heil geht ja ganz von ihm aus.
Aber sehen Sie es uns schwachen Menschen bitte ein wenig nach, wenn wir unsere Wunden lecken, wissen wir doch auch um unser Elend sehr gut Bescheid.
Bei Ihnen klingt das ja fast, als dürften wir das Wörtchen „mein“ überhaupt nicht mehr verwenden. Aber welche Sätze könnten wir dann noch formen, außer Psalmen?
@ Schandor
Die meisten Psalmen dürften auch ausfallen.
Zum Beispiel Psalm 3 (nach Buber), der „Kinnhaken-Psalm“:
… meine Bedränger …
… wider mich …
… meine Seele …
… um mich …
… meine Ehre …
… mein Haupt …
… meine Stimme …
… ich…mir…ich… ich mich…ich…mich…ich mich
… wider mich…mich…
…schlugst ja alle meine Feinde aufs Kinn…
Im Gegensatz zum zeitgemäßen Lobpreis, der selektiv abgehoben ist,
sind die Psalmen sehr realistisch im alltäglichen Leben verankert.
(Die Formel „Sitz im Leben“ benutzten die Bultmann-Mythologen,
um die Bibel in ihrem Sinne zu relativieren.)
@JS
Danke für die Aufklärung! Sitz im Leben hab ich zwar nicht gesagt, aber durchaus gemeint; ich kenne den Ausdruck nur von Thielicke her. Der war zwar kein Bult-mann, also kein Entmythologisierer, aber doch auch sehr vom historisch-kritischen Denken geprägt, wenn ich so sagen darf.
Eins wird man jedenfalls sagen müssen: Luther muss man schon ein wenig kennen auch, sonst missversteht man Passagen ohne Kontext sofort. Die Zahl derer nämlich, die Luther im Munde führen, um irgend eine eigene Meinung zu befördern, ist Legion, unter Gebildeten und unter — äh, neudeutsch: bildungsfernen Schichten.
Darum sagt man im Englischen so schön:
A text without context is a pretext for a proof text 🙂
@ Schandor
Das gilt selbstverständlich auch für die Bibel
– der unmittelbare Zusammenhang, der weitere Zusammenhang, der Gesamtzusammenhang, das Gleichgewicht. Dabei können wir auf Grund unserer Verschiedenheit, Ergänzungsbedürftigkeit und begrenzten Erkenntnis in gewissen Grenzen durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Das gestörte Gleichgewicht des Volkes Gottes auf Grund des gestörten Gleichgewichts seiner Hirten war eines der Hauptthemen Jesu. Das Problem ist heute nicht anders. Denken in Zusammenhängen, gesundes Gleichgewicht (im Gegensatz zum pathologischen), Spielräume und Grenzen werden in der Regel weder gelehrt noch gelebt. Das macht die Christen so unglaubwürdig.
Ich schreibe das nicht, weil ich der Meinung wäre, Du wüsstest es nicht. Mehr als Stoßseufzer.