Einige Wochen vor meiner Kreuzfahrt berichteten die Nachrichten in Chicago vom Selbstmord eines sechzehnjährigen Jugendlichen. Der Junge war vom Oberdeck eines Luxuskreuzers (entweder der Carnival- oder der CrystalLinie) in den Tod gesprungen, der Medienversion nach aus Liebeskummer, als Reaktion auf eine unglückliche Liebelei an Bord. Ich persönlich aber glaube, dass noch etwas anderes im Spiel war, etwas, über das man in einer Nachrichtenstory nicht schreiben kann.
Denn alle diese Kreuzfahrten umgibt etwas unerträglich Trauriges. Und wie bei den meisten unerträglich traurigen Sachen ist die Ursache komplex und schwer zu fassen, auch wenn man die Wirkung sofort spürt: An Bord der Nadir überkam mich – vor allem nachts, wenn der beruhigende Spaß- und Lärmpegel seinen Tiefpunkt erreichte – regelrecht Verzweiflung. Zugegeben, das Wort Verzweiflung klingt mittlerweile ziemlich abgegriffen, doch es ist ein ernstes Wort, und ich verwende es im Ernst. Für mich bedeutet Verzweiflung zum einen Todessehnsucht, aber verbunden mit dem vernichtenden Gefühl der eigenen Bedeutungslosigkeit, hinter der sich wiederum die Angst vor dem Sterben verbirgt. Elend ist vielleicht der bessere Ausdruck. Man möchte sterben, um der Wahrheit nicht ins Auge blicken zu müssen, der Wahrheit nämlich, dass man nichts weiter ist als klein, schwach und egoistisch – und dass man mit absoluter Sicherheit irgendwann sterben wird. In solchen Stunden möchte man am liebsten über Bord springen.
Dieses Zitat stammt aus dem Buch Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich, in dem David Foster Wallace festhielt, was er Mitte der 90er Jahre während einer siebentägigen Reise auf einer Luxuskreuzfahrt beobachtet hat.
Wallace, geboren 1962, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Postmoderne. Sein Lektor Colin Harrison bezeichnete den Amerikaner als »Jahrhundert-Talent«. Seine unterschwellige Neigung zu Depressionen, viele ›Frauengeschichten‹ sowie üppiger Drogen- und Alkoholkonsum stürzten ihn allerdings Anfang der 90er Jahre in eine tiefe Lebenskrise. Wallace über diese Zeit:
Vielleicht kam es dem nahe, was in den alten Zeiten als spirituelle Krise bezeichnet wurde … Das Gefühl, dass sich alles, worauf du in deinem Leben gebaut hast, als trügerisch erweist. Nichts existiert wirklich, du selbst auch nicht, es ist alles eine Täuschung. Nur, dass du besser dran bist als die Anderen, weil du erkennst, dass es eine Täuschung ist, und schlechter, weil du so nicht funktionieren kannst.
Wallace erholte sich, konnte seinen Zustand mit Hilfe eines Antidepressivums stabilisieren und schrieb neben kleineren Werken den pulverisierenden 1100-Seiten Roman Infinite Jest (wird gerade ins Deutsche übersetzt und soll mit dem Titel Unendlicher Spaß im Herbst 2009 erscheinen).
Der Roman gilt postmodernen Autoren als wegweisend. Es geht um die mediale Faszination und Ablenkung durch das Fernsehen, um die Frage, warum sich Menschen so viel Mist anschauen. Wallace konkretisiert: »Es geht um mich: Warum mache ich das?« »Charaktere werden entwickelt und verschwinden einfach, Kapitel folgen ohne erkennbaren Zusammenhang aufeinander«, bemerkt David Lipsky in seinem exzellenten Feature über den Romanautor (»Die letzten Tage des David Foster Wallace«, Rolling Stone, Dezember 2008, S. 68–76). »Denn wohin Entertainment letztlich führt, ist ›Infinit Jest‹, das unendliche Vergnügen – das ist der Stern, der den Kurs bestimmt«, erklärt Wallace selbst.
Für Andreas Borcholte war sein Thema die »Suche moderner Menschen nach Zugehörigkeit, Lebensinhalt und Kommunikation. Mit den Mitteln der Ironie und Absurdität und viel Sinn für den Jargon des Alltags versuchte der brilliante Stilist, das Dauerfeuer aus Informationen und Soundbites, das zu jeder Zeit aus Fernsehen, Radio und Internet auf die Menschen niederprasselt, zu durchbrechen, indem er es in seiner ganzen Bedeutungslosigkeit darstellte« (Spiegel online vom 14.09.2008) .
Mit Infinit Jest gelang Wallace der Durchburch und er erntete kolossalen Ruhm. Doch am 12. September 2008, in so einer Stunde, in der man am liebsten über Bord springen möchte (siehe Zitat oben), erhängte er sich (siehe den Beitrag hier im Blog). Seine Frau Karen Green fand ihn in ihrem gemeinsamen Haus, als sie vom Einkaufen zurückkehrte.
Wallace war nicht nur hochbegabt, sondern zerstörerisch kritisch, auch gegenüber sich selbst. Als Sohn eines Philosophieprofessors hatte er gelernt, Vordergründiges zu hinterfragen. Er, der Mathematik, Literatur und Philosophie studierte und zudem ein erfolgreicher Tennisprofi war, durchschaute entzaubernd, wie sehr die unendliche Entertainisierung der Gesellschaft die Menschen verfremdet. Wallace sah den Abgrund, keinen Ausweg.
Ich frage mich: Was hätte Wallace im evangelikalen Mainstream gefunden? Die ihm so vertraute Kultur der Zerstreuung, eben nur eine andere Spielart? Eine fromme Form der Idenditätskrisenbewältigung? Menschen, die sich durch geistliche Übungen vor der Härte der wirklichen Welt schützen? Eben all das, was einer eh kennt, wenn er aufgeweckt durchs Leben zieht?
Oder wäre Wallace bei uns dem frohmachenden Evangelium von der uns in Jesus Christus zugewandten Gnade Gottes begegnet? Hätte er vernehmen können, dass Jesus gern Sünden vergibt und kranke Seelen heilt. Das er genau die Menschen sucht, die an sich selbst verzweifeln, gern denen Ruhe schenkt, die »niedergedrückt und beladen« sind (Matthäusevangelium 11,28, vgl. auch 9,12)?
Hallo Ron,
mir ist nicht ganz klar, was du mit dem letzten Absatz ausdrücken möchtest.
Was hättest du dir, aus deiner Sicht, von dieser Begegnung mit dem frohmachendem Evangelium erhofft?
Liebe Grüße
Tom
Lieber Tom, wenn Du mich fragst, was ich mir erhofft hätte, also: Wallace hat auf sich, auf seine eigene Verlorenheit und die Verbogenheit der Welt gesehen und ist daran zerbrochen. Er sah keinen Ausweg. Luther schrieb zu Röm 8,3, der Mensch sei so sehr »in sich verkrümmt (incurvatus in se), dass er nicht nur die leiblichen, sondern auch die geistlichen Güter sich selbst zudreht und sich in allem sucht«. Wenn man so will, scheint Wallace das, also die Verbogen- und Ichbezogenheit des Menschen (in Ansätzen) durchschaut zu haben. Was er jedoch nicht gehört oder verstanden hat, ist, dass es Hoffnung gibt, die von Außen kommt, das Gott uns arme Sünder durch das Evangelium von Jesus Christus wieder aufrichtet. Erhofft hätte ich mir, dass Wallace diesem Evangelium der froh machenden Hoffnung begegnet wäre. Es hätte ihn ›aufrichten‹ können. Ja, ich höre schon die Experten: »Diese Schwermut war rein pathologisch. Er hätte seine Medikamente nicht absetzen dürfen!« Das überzeugt mich nicht. Wallace… Weiterlesen »
Hallo Ron,
Der letzte Absatz mit dem Zitat der kompletten Selbst-, Sinn- und Trost-Auflösung ist wunderbar. Er lässt mindestens noch eine zweite Deutung zu.
Mir scheint von dieser Position ist es nur ein kleiner Schritt welcher von der schmerzhaften Todessehnsucht zur reifen Annahme des Todes als Fakt des Lebens führt. Und das liegt dann schon sehr nah an „annata“ (dem budhistischen „Nicht-Selbst“ der kompletten Wesens-Auflösung der Welt) so kann Erleuchtung und Versöhntsein mit der unvollkommenen Welt („dukha“) auch gelingen.
Ist diese budhistische Auflösung des Dillemma ein Widerspruch zu deinen Ansatz der christlichen Auflösung ? … oder begegnen sich beide in einen mystischen Anahme des Lebens so wie der Mensch hinein geworfen ist ? (… im Gebet / in der Meditation ?)
Lieber Martin,
Jesus sagt zwar, dass der, der sein Leben verliert, es gewinnt (vgl. Mt 10,29), aber er hat dabei keine Auflösung im Sinn. Er sagt: „Nur wer sich mir bedingungslos anschließt und vertraut, findet das Leben.“ Der Tod bleibt im christlichen Glauben finster und Feind des Lebens. Wer sich Christus anschließt, folgt dem Überwinder des Todes, denn er ist die Auferstehung und das Leben (vgl. Joh 11,25).
Liebe Grüße, Ron
[…] David Foster Wallace, einer der wichtigsten Vertreter der postmodernen Literatur, das Leben (vgl. hier). Sechs Jahre lang hat Ulrich Blumenbach an der Übersetzung von Wallaces »Opus magnum« mit 1646 […]