Papst Franziskus hat kürzlich dafür plädiert, die deutsche Übersetzung des Vaterunser zu ändern. Radio Vatikan berichtete:
Die Vaterunser-Bitte „und führe uns nicht in Versuchung“ ist in dieser Formulierung „keine gute Übersetzung“. Das hat Papst Franziskus beanstandet. Es sei nicht Gott, der den Menschen in Versuchung stürze, um dann zuzusehen, wie er falle, sagte der Papst. „Ein Vater tut so etwas nicht: ein Vater hilft, sofort wieder aufzustehen. Wer dich in Versuchung führt, ist Satan“, so Franziskus. Er äußerte sich in einem Interview des italienischen Fernsehkanals TV2000, das am Mittwochabend auf Sendung geht.
Der Papst verwies auf einen Beschluss der französischen Bischöfe, die offizielle Übersetzung des Vaterunsers zu ändern. In katholischen Gottesdiensten in Frankreich lautet die betreffende Bitte seit dem ersten Adventssonntag: „Lass uns nicht in Versuchung geraten“. Der Papst äußerte sich in einer Kurzserie zu den Vaterunser-Bitten.
Nun fragen sich Altsprachler, Historiker und Theologen, was wohl wir mit dem vorgegeben Text in griechischer Sprache anstellen sollen? Oder was ist mit dem lateinischen Text, der ja im Vatikan geläufig sein dürfte? Ist es möglich, den vorgegeben Text in einer Übersetzung so sehr zu verbiegen, dass er zu unseren Überzeugungen passt?
Der renommierte Althistoriker Hartmut Leppin hat sich nun zu Wort gemeldet und davor gewarnt, sperrige Text an unsere Erwartungshaltung anzupassen (FAZ, 13.12.2017, Nr. 289, S. 13).
Hier Auszüge:
Umso bemerkenswerter, dass der überlieferte griechische Text ebenso wie die Übersetzung bei der Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“ unstrittig ist, einschließlich der ersten Person Plural, die, wenn es nach dem Papst geht, zu einem Singular geändert werden soll. Die herkömmliche Übertragung ist eher zu schwach: „Bringe uns nicht hinein in die Versuchung“, heißt es – Lukas verwendet das gleiche griechische Wort in demselben Tempus, als ein Kranker zu Jesus getragen wird. Hier steht die Möglichkeit im Raum, dass der Mensch nicht einmal auf eigenen Füßen läuft. Wer die Übersetzung im Sinne des Papstes ändert, setzt sich über den überlieferten Text des Vaterunsers hinweg.
…
Wer Texte der Vergangenheit liest, bekommt es mit sperrigen und anstößigen, ihrem Wesen nach unzeitgemäßen Texten zu tun; das ist anstrengend und enttäuschend, wenn man sich an einer überzeitlichen Moral erbauen will. Das gilt nicht nur für die Bibel. Will man denn wirklich die Kampfszenen der Ilias lesen oder die Machosprüche eines Faust? Historisch orientierte Geisteswissenschaften beschäftigen sich damit, Eigenarten von Texten aus früheren Zeiten zu identifizieren, einzuordnen und zu erläutern, sie eben dadurch für die Gegenwart fruchtbar zu machen.
Präsentismus versucht hingegen die Gegenwart vor jeder Äußerung zu bewahren, was Anstoß erregen könnte, oft in wohlmeinend politischer oder didaktisch-pastoraler Absicht, wie sie gewiss auch Franziskus geleitet haben. Texte der Vergangenheit sollen der Bestätigung der eigenen Moral dienen. Doch ihre Dignität liegt darin, dass sie eben das nicht tun. Sie zwingen dazu, Selbstverständlichkeiten der Gegenwart in Frage zu stellen.
Übrigens hat der emeritierte Papst Bededikt XVI in seinem „Jesus“-Buch eine sehr gute theologische Erklärung zu dieser Bitte des Vaterunsers aufgenommen. Nachzulesen auf: http://www.kath.net/news/61976
Wenn ich es etwas süffisant formulieren darf: Das Vaterunser ist das Gebet eines Juden, der von anderen Juden danach gefragt wurde. Ich bin Christ, und zwar Heidenchrist.
@PeterG
Ich versteh´nicht recht. Jesus hat fast nur zu Juden gesprochen – ja, er verstand sich zuerst mal ausschließlich gesandt zu den Kindern des Hauses Israel. Streichen wir deshalb gleich mal zwangsläufig den Großteil der Evangelien? Oder haben wir sie anders zu verstehen?
@Christ
Nein und ja. Bei den Evangelien müssen wir die Adressaten (Juden oder zukünftige Christen?) im Blick haben und die jeweilige Situation (Verhalten/Glauben vor dem Erlösungswerk oder auch danach?). Vergleiche auch dazu Joh 14:13f – nach der Bergpredigt erst kam das Gebet zu Jesus dazu. Hier gibt es auch innerhalb der Evangelien eine Heilsgeschichte, die die Bedeutung des Vaterunsers m. M. n. relativiert. Zumindest betrachte ich es kritisch, wenn in jedem Gottesdienst eines gesprochen werden muss.
Aber ich schrieb in meinem Kommentar auch „süffisant“ 🙂
PeterG, das habe ich immer noch nicht ganz verstanden. Was im Vaterunser gilt denn Ihrer Meinung nach nicht mehr für uns heute?
@ PeterG
Ich will jetzt gar nicht auf die Behauptungen an sich eingehen, auch wenn ich sie für falsch halte, aber Joh. 14, 14 wird mit dem „mich“ – was in vielen alten Handschriften nicht zu finden ist – gänzlich unlogisch und passt nicht mehr in den Kontext von Joh. 15, 16 und Joh. 16, 23. Weiterhin kommt das Gebet zu Jesus im neuen Testament nicht mehr vor (einzige mir bekannte Ausnahme ist hier Stephanus bei seiner Steinigung). Zu behaupten, Jesus habe hier das Gebet zu ihm selbst eingeführt und wir sollten jetzt Jesus in Jesu Namen bitten ist – ehrlich gesagt – sowohl sachlich unlogisch als auch biblisch unhaltbar.
@Johannes
Von dem „mich“ habe ich gar nichts geschrieben. Der Rest ist aus dem Kontext sichtbar. Joh 15 und 16 widersprechen dem nicht, da ja Jesus z. B. in Joh 20 die Anbetung durch Thomas akzeptiert.
Wenn du grundsätzlich davon ausgehst, dass wir Christen nicht zu Jesus beten sollen, werden wir argumentativ nicht zusammenkommen. Das ist für mich/aus meiner Sicht eine sektiererische Meinung.
Es gibt aber aus meinem Verständnis des NTs noch mehr Stellen zum Thema „Gebet zu Jesus“:
Apg 7,59; Apg 9,14; Apg 9,21; Apg 22,10; Röm 10,12-13; 1.Kor 1,2; 1.Kor 12,3; 2.Kor 12,8-9; 1.Tim 1,12; Heb 1,6; Off 1,5b-6; Off 5,8-14 u. v. a.
@Wolfgang Häde
Ich sprach nicht von einzelnen Teilen des Vaterunsers, sondern von seiner heilsgeschichtlichen Stellung. „Dein Reich komme …“ Ist es noch nicht gekommen mit Jesus? „Erlöse uns von dem Bösen …“ Hat Jesus uns nicht erlöst?
Lesen Sie doch mal die Erklärungen Luthers zum Vaterunser. Viele davon sind eine sehr freie Interpretation bzw. Übertragung.
Und nebenbei: Das Vaterunser, wie es gebetet wird, steht so nicht im Neuen Testament!
Pinchas Lapide hatte einen Artikel über das Vaterunser geschrieben, in dem er zeigte, dass jede Aussage des Vaterunsers in der jüdischen Tradition verhaftet ist (ich glaube, das war in der Zeitschrift Renovatio?).
Da ist was dran:
https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/kirche/2017/12/17/journalist-fordert-papst-absetzen/
Liebe Grüße, Ron
@PeterG
Den jüdischen Hintergrund bei Jesus und den Aposteln zu beachten: da bin ich bei Ihnen. Vieles erschließt sich dadurch erst richtig oder besser – auch durch eine gute Kenntnis des Alten Testaments.
Aber: ich glaube nicht, dass (abgesehen von manchen eschatologischen Aussagen und Verheißungen) die Zielrichtung der Worte von Jesus ausschließlich in Richtung des jüdischen Volkes ging. Und auch bei den zitierten Stellen des Vaterunser sträube ich mich dagegen, zu sagen, das alles sei doch schon geschehen und wir bräuchten nicht mehr darum zu bitten. Wir sind gerettet, aber auf Hoffnung hin. Und deshalb bitte ich gerne um Erlösung vom Bösen oder für das sichtbare Kommen des Reiches Gottes.
Genaugenommen würde Ihre Überzeugung ja bedeuten, dass das Vaterunser nur über einen Zeitraum von 1-2 Jahren hätte gebetet werden dürfen.
War es denn von Jesus überhaupt dafür gedacht, auswendig aufgesagt zu werden? Warum findet es dann keinen Niederschlag in der Apg oder den Gemeindebriefen? Die Schlachter-Übersetzung leitet in Mt 6 das Vaterunser mit „… Deshalb sollt ihr auf diese Weise beten …“, aber nicht mit „… das sollt ihr beten …“.
@PeterG
Ich sehe es auch so, dass es als ein Beispiel dienen sollte, nicht als „ein Gebet“.
Und die Reformatoren?
Wieso haben die das nicht gesehen oder erkannt?
Wie sollten wir heute beten und zu wem?
Ich meine, das sind schon sehr, sehr ernste Fragen, die erörtert werden sollten.
Was meint ihr?
@Schandor: Was meinst Du mit: Wieso haben die Reformatoren das nicht gesehen und erkannt? Was haben sie nicht gesehen und erkannt?
Liebe Grüße, Ron
@PeterG
Ob nun wörtlich oder sinngemäß – das ändert nichts an der Frage, die wir hier besprachen: können wir größere Teile dessen, was Jesus gesagt hat, einfach ignorieren, weil wir keine Juden sind?
PeterG,
Die Apg. wurde ja von Lukas geschrieben, und Lukas hat das Vaterunser in Lk 11,2-3 aufgeschrieben. Paulus kannte vielleicht Mt. und Lk. nicht.
Aber sinngemäß wird ja überall im NT gemäß dem Vaterunser gebetet (es geht um die Ehre Gottes, dass sein Wille getan wird etc.)
Da Vaterunser wird (wie Vieles) erst im Kontext der Bibel als Ganzes verständlich. Seine herausragende Bekanntheit gegenüber anderen Bibeltexten ist daher nicht unproblematisch. Bei der Auslegung wird ja zu Recht auf die Spannung zu Jak 1, 13 hingewiesen.
Ich finde daher den Ansatz Benedikts unterstützenswert, einzelne Formulierungen des Gebetstextes vom ihm zu Grunde liegenden Bibelabschnitt zu lösen und statt dessen stärker am Gesamtzusammenhang der Bibel zu orientieren. Übe die konkrete Ausgestaltung kann man streiten.
Man sollte allerdings auch klar machen, dass es dann eben nicht mehr die Worte Jesu sind. Alles Andere wäre in der Tat unredlich.
Wir sollten bedenken, dass die ursprachlichen Begriffe, also die Wörter, die hinter „Versuchung“ stecken, oft auch mit „Prüfung“ oder „Erprobung“ übersetzt werden (griech. πειράζω, hebr. נָסָה). Einseitig auf Jak 1,13 zu verweisen, hilft deshalb nicht weiter. Wir müssen schon auch Texte wie Gen 22,1, Ri 3,1 oder Ps 26,2 (hier allerdings בָּחַן) berücksichtigen, wo es heißt, dass Gott versuchte bzw. der Beter Gott bittet, ihn „zu versuchen“. Nebenbemerkung: Die Bibel spricht auch davon, dass Menschen Gott versuchen können (vgl. Apg 15,10). Offensichtlich gibt es eine Versuchung zum Guten (so etwas wie eine Glaubensprüfung durch Gott) und eine Versuchung zum Bösen (ein Abzug vom Weg Gottes durch den Satan, den Versucher (vgl. Mt 4,3)). Was mit einer biblischen Einzelaussage genau gemeint ist (bzw. wie es zu übersetzen ist), ergibt sich je nach Sinnzusammenhang. Führe uns nicht in Versuchung, könnte dann so viel bedeuten, wie: „Lass uns in Prüfungssituationen (die Gott uns zumutet!) nicht uns selbst oder den bösen Mächten ausgeliefert sein.… Weiterlesen »
@Ron
Danke für diese Ausführungen – sehr interessant.
@Christ
Man könnte meinen, dass du ein studierter Theologe bist. Du stellst nur zwei Alternativen absolut gegenüber: die heilsgeschichtliche Einordnung des Vaterunsers und das Ignorieren biblischer Aussagen. So etwas erinnert mit immer an eine Seminararbeit eines angehenden Theologen: War Paulus auf Malta oder irrt die Apostelgeschichte? Beides nicht.
Zum Vaterunser: Wenn ich feststelle, dass Jesus hier keine Aufforderung gibt, etwas auswendig Gelerntes aufzusagen, sondern seinen Jüngern vor der Heilstat einen Musterplan für ein Gebet gibt, warum muss ich dazu Jesu Aussagen ignorieren?
Wenn die Beschneidung für dich keine Bedeutung hat, warum ignorierst du dann nicht Leviticus, Numeri und Deuteronomium?
Soll ich das Vaterunser sinngemäß beten? Nein, ich bitte nicht um die Erlösung, ich danke dafür!
@Roderich
Nein, wird es nicht.
Ansonsten nenne bitte folgende Belegstellen:
1. Wo wird der Name Gottes geheiligt im Gebet?
2. Wo wird um das tägliche Brot gebeten?
usw.
@PeterG „Man könnte meinen, dass du ein studierter Theologe bist.“ O nein, ich bin ein Laie durch und durch. Aber ich merke schon, wir kommen hier nicht ganz zueinander. Diese Diskussion erinnert mich sehr an die Fragen, die ein ausgeprägter Dispensationalismus aufwirft. Den finde ich (allerdings nicht in seiner ausgeprägten Form) als Denkhilfe angemessen, Er ist aber keine Schablone, dem sich unser Biblverständnis unterordnen muss. Die Frage der Thora und unser Verhältnis als Christen dazu beschäftigt mich schon lange. Grundsätzlich bin ich sehr dankbar für Paulus´ Aussagen im Römerbrief darüber. Nun findet man in der christlichen Welt viele verschiedene Ansichten dazu, von begeisterter Zustimmung (besonders bei Israel-„Fans“) über die Aufteilung der Thora in Zeremonial- und Sittengesetz, bis hin zum völligen Abtun der Thora. Auch da wäre zu fragen: gilt das Wort Jesu „kein Jota wird vergehen“ und das Wort Hesekiels „“Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben, und in ihren Sinn will ich es schreiben“ nun nur für Juden?… Weiterlesen »
@PeterG: Kurz zur Heiligung des Namens. Der Name steht im rabbinischen Denken oft auch für die Person selbst, also für das Wesen, das bezeichnet wird. Da man den Namen Gottes nicht aussprechen durfte, wurden Ersatzbezeichnungen wie der HERR, der Höchste, der Heilige, der Starke, der Namen usw. verwendet. Zudem finden wir im AT viele Texte, die bezeugen, dass Gott selbst seinen Namen heiligen möchte. Er wird dafür sorgen, dass sein Namen nicht mehr missbraucht und entweiht, sondern geheilt wird. So heißt es etwa in Ez 36,23: „Denn ich will meinen großen Namen, der vor den Heiden entheiligt ist, den ihr unter ihnen entheiligt habt, wieder heilig machen. Und die Heiden sollen erfahren, dass ich der HERR bin, spricht Gott der HERR, wenn ich vor ihren Augen an euch zeige, dass ich heilig bin“ (vgl. Ez 36,21; Amos 2,7). In Jes 29,23 heißt es auch: „Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte,… Weiterlesen »
@Christ So groß ist unsere Entfernung nicht. Mit dem Dispensationalismus habe ich wenig am Hut, auch wenn ich von Heilsgeschichte spreche, weil Gott in der Geschichte gehandelt hat 😉 Zur Frage der Thora: Jesus hatte auf jeden Fall ein anderes Verhältnis dazu als wir. Ansonsten sind das schwierige exegetische Fragen. Nicht jedesmal, wenn in der Bibel das Wort ‚Gesetz‘ steht, ist damit auch die Thora gemeint. Vermutlich ist dir das aber klar. Irgendwo zwischen einem ‚Antinomismus‘ und einem ‚Nomismus‘ bewegen wir uns. Das Gesetz wird nicht vergehen, aber ich bin dem Gesetz gestorben. @Ron Danke für die Erklärung, das ist mir bekannt. Interessant ist, dass du alttestamentliche Stellen aufführst. Ich dachte bei meiner – zugegeben: provokanten – Aufforderung an Stellen aus dem NT. Welche Ressonanz, findet das Vaterunser im restlichen NT? Wie wird es hier belegbar rezipiert? Wenn ich die Zeit hätte, würde ich hier eine breit angelegte Entwicklung zeigen müssen/können, wie sich die Aussagen Jesu im Laufe seines Auftretens… Weiterlesen »