Ein Todeswerk in Brüssel

In seinem Buch Siegeszug des modernen Selbst beschreibt Carl Trueman unter Rückgriff auf Thesen des Soziologen Philip Rieff die sogenannten „Todeswerke“.

Was sind Todeswerke?

Todeswerke sind dafür da, heilige Ordnungen zu zerstören, vor allem im Bereich der Kultur. Sie stellen einen Angriff auf etablierte schöpferische Kunstformen dar. Ein Todeswerk zielt darauf ab, die tiefere moralische Struktur einer Gesellschaft auszuhebeln.

Sie spielen daher eine große Rolle, wenn es darum geht, Veränderungen des gesellschaftlichen Ethos herbeizuführen. Sie beeinflussen das, was der kanadische Philosoph Charles Taylor das „soziale Vorstellungsschema“ nennt. Zusammengefasst ist das soziale Vorstellungsschema die Art und Weise, wie Menschen sich die Welt vorstellen und intuitiv in ihr handeln. Es ist unsere Gesamtsicht auf die Wirklichkeit, wie wir sie verstehen und welchen Sinn wir in unserem Verhalten sehen (vielleicht vergleichbar mit den Begriff „Weltbild“, der früher sehr verbreitet war).

Todeswerke bringen weniger Argumente gegen die alte Ordnung vor, sondern unterwandern sie geschickt. Sie zielen darauf ab, den ästhetischen Geschmack und die Sympathien der Gesellschaft so zu lenken, dass die Normen, auf denen sie beruht, untergraben werden. Sie lassen deshalb die alten Gebote lächerlich erscheinen.

Um genauer zu verstehen, was Rieff mit „heiligen Ordnungen“ meint, müssen wir uns kurz mit seiner Unterscheidung von drei Welten beschäftigen. Es hat – so viel sei vorausgesagt – nichts mit der Drei-Welten-Lehre von Gottlob Frege oder Karl Popper zu tun (vgl. hier).

Rieff hat die Begriffe erste, zweite und dritte Welten eingeführt, um zwischen drei Arten von Kulturen zu unterscheiden. Eine erste und zweite Welt begründet ihre Moralvorstellungen mit dem Verweis auf etwas Transzendentes – etwas, das über die Welt selbst hinausgeht. In einer ersten Welt ist dies beispielsweise ein Mythos, in einer zweiten Welt der Glaube an einen Gott. Das Christentum hat eine heilige Kultur der zweiten Welt geschaffen. Erste und zweite Welten entwickeln eine moralische und kulturelle Stabilität, weil ihr Fundament in etwas liegt, das über sie hinausgeht. Im Gegensatz dazu gründen dritte Welten ihre Kultur, Gesellschaftsordnungen und Moralvorstellungen nicht auf etwas Heiligem. Sie sind auf sich selbst angewiesen. Dritte Welten sind – so würde der Philosoph Herbert Schnädelbach sagen, reflexiv (Kant, 2018, S. 10):

Vollständig reflexiv sind Kulturen, wenn sie sich bei ihrer Selbstinterpretation nicht länger auf etwas beziehen können, was Kultur und damit menschlicher Verfügung entzogen wäre – seien es Dämonen, Götter oder „die“ Natur. So ist in der Moderne die Kultur in allen Dingen ganz auf sich selbst verwiesen; sie ist ihr eigenes Subjekt, denn es gibt hier keine höhere Instanz als das kulturelle „Wir“.

Die Todeswerke der dritten Welt richten sich nun gegen die Kulturen der ersten und zweiten Welt. Sie leben von der Dekonstruktion, da sie das Heilige der zweiten Welt lächerlich machen. Eines von Rieffs Kernbeispielen ist Andres Serranos berüchtigtes Werk Piss Christ. Dort wird ein Kruzifix gezeigt, das in den Urin des Künstlers getaucht ist. Trueman schreibt dazu:

In vielerlei Hinsicht ist dies ein Paradebeispiel für das, worauf Rieff hinweist: Ein Symbol für etwas, das der zweiten Welt zutiefst heilig ist, wird in einer Form präsentiert, die es entwürdigt und gänzlich abstoßend macht. Serrano belustigt sich mit diesem Kunstwerk nicht nur über die heilige Ordnung. Er hat sie in etwas Schmutziges, Ekelhaftes und Abscheuliches verwandelt. Die höchste Instanz der zweiten Welt, Gott, wird buchstäblich in die Kloake, in das Allerniedrigste, geworfen. Das Sakramentale wird zum Exkrementalen. Dies ist kein schlichter Angriff auf die privaten religiösen Gefühle von Katholiken. Es ist eine Attacke auf die Autorität selbst. Ein Angriff auf die heilige Ordnung, durch die die zweite Welt legitimiert wird. Seine Kraft liegt nicht in einem Argument, das vorgebracht wird, sondern vielmehr in der Art und Weise, wie das Reine durch das Schmutzige subversiv untergraben wird. Die Religion wird nicht als unwahr hingestellt, sondern als geschmacklos und abstoßend.

Wir finden heute Todeswerke an vielen Orten, etwa in Brüssel. Dort wurden gerade die Bilder der schwedischen lesbischen Fotografin Elisabeth Ohlson ausgestellt. Sie zeigen einen Jesus, der von sadomasochistische Aposteln umgegeben ist und sich sich für die Rechte der LGBTQ+Community einsetzt (siehe hier).

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3 Kommentare
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Felixpe
11 Monate zuvor

Ich muss zugeben, ich musste bei »Piss Christ« laut lachen. 🙂
Also Humor haben die.

Helge Beck
11 Monate zuvor

Nun „Todeswerk“ entbehrt ja auch nicht einer schrägen Kreativität und bewegt sich der gleichen Liga oder ähnlichen Sphären, no?

Matze
11 Monate zuvor

Gäähn, und wo ist jetzt hier die Neuigkeit und der Mehrwert? Monty Python, Papstsoutane bei Satiremagazin, wir haben das doch schon seit Jahrzehnten. Und, das Evangelium wurde schon immer angegriffen, was wir schon in den Briefen des NT finden. Es ist die Frage wie wir damit umgehen. Wieviel halbherzige Formulierungen gab und gibt es gerade von den Evangelikalen zu „die Hütte“ und jetzt „the Chosen“.Und das neueste Interview von neuen EAD Vorsitzenden zu Persönlichkeitsrechtenten hat ja gezeigt wohin es geht: wir sind alle lieb und machen alles wunderschön mit. Aber wer äußert sich dagegen? Es gibt so gut wie keinen Widerstand innerhalb der EAD mehr. Wozu dann die Aufregung bei solchen Themen?

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