Es gibt Sünden, vor denen die Bibel mit aller Schärfe warnt. Zu diesen Sünden gehören Götzendienst und Unzucht. Die Apostel eröffnen hier keinen Raum für Erwägungen und Dispute. Sie sagen uns: „Darum, meine Lieben, flieht den Götzendienst!“ (1Kor 10,14) oder „Flieht die Hurerei!“ (1Kor 6,18).
Es gibt Tatsünden, da muss ein Christ wie auf einem Lernfeld trainieren, nach dem Willen Gottes zu leben – ohne dass das Fliehen möglich ist. Ein Vater, der mit Zorn zu kämpfen hat und seine Kinder hin und wieder völlig unkontrolliert anschreit, kann nicht aufhören, Vater zu sein. Er muss Selbstbeherrschung im realen Leben lernen. Bei dem biblischen porneia, das wir mit „Unzucht“, oder „sexueller Unmoral“ übersetzen können, ist die Lage anders. Wir sollen fliehen.
In den evangelikalen Kreisen wird heute immer wieder einmal darauf verwiesen, dass wir zurückhaltender und abwägender im Blick auf sexuelle Sünde handeln sollten. Als Referenz taucht manchmal der jüdische Gesetzeslehrer Gamaliel auf, der in sokratischer Art und Weise die Mitglieder des Hohen Rats dafür warb, die Gruppe der Jesusjünger nicht vorschnell zu verurteilen: „Und nun sage ich euch: Lasst ab von diesen Menschen und lasst sie gehen! Ist dies Vorhaben oder dies Werk von Menschen, so wird’s untergehen; ist’s aber von Gott, so könnt ihr sie nicht vernichten – damit ihr nicht dasteht als solche, die gegen Gott streiten wollen“ (Apg 5,38–39).
In einem zweiteiligen Gespräch zwischen Thorsen Dietz und Stephanus Schäl in der Zeitschrift Aufatmen, das in meinen Augen als Rückschritt im Disput zwischen Post-Evangelikalen und Evangelikalen zu werten ist, sagt Dietz zum Thema christliche Einheit:
„Ich wünsche mir, dass man biblisch vielleicht mal mit Gamaliel sagt: Wenn das von Gott kommt, dass sich eine neue Einsicht durchsetzt, werden wir es nicht stoppen können. Wenn es nicht von Gott kommt, wird das Ganze irgendwann scheitern, wird zusammenbrechen. Jetzt gucken wir Tag für Tag und bleiben im Gespräch.“
Der Elefant im Raum ist vor allem die christliche Sexualethik. Thorsten Dietz oder Tobias Faix sind Unterstützer der LGBTQ+-Bewegung. Die Evangelikalen lehnen die großen Anliegen der Regenbogen-Kultur mit Verweis auf die Bibel, 2000 Jahre Tradition und die Vernunft ab. Doch Schäl widerspricht Thorsten Dietz nicht scharf, sondern erklärt fast solidarisch:
„Ich will kein Schwarzmaler sein, aber ich behaupte mal, dass sich die sexualethische Frage nicht in den nächsten ein, zwei Jahren klären wird. Ich rechne mit zehn bis fünfzehn Jahren. Ich wünschte, es wäre schneller. Aber diese Spannung aushalten, zu sagen, ich ringe vielleicht einen Großteil meines Dienstlebens über diese Frage – und gleichzeitig Kurs zu halten. Im Rückblick wird man irgendwann sagen: Liebe Leute, warum habt ihr euch Bibelverse an die Köpfe geworfen? Dann schaut man auf unsere Zeit zurück und sagt: Das war ja die einfache Frage.“
Wie also ist das mit dem Rat des Gamaliel? Peter Bruderer hat einen Artikel dazu verfasst, auf den ich hier gern verweise. Er schreibt:
Ich persönlich bin überzeugt, dass der Rat des Gamaliel immer wieder einmal ein guter Rat sein kann. Die Aussage, dass am Ende nur Bestand haben wird, was Gott bewirkt, hat natürlich eine Rückendeckung in biblischen Aussagen. Für den Seher Bileam war klar, dass er das gesegnete Volk Gottes nicht verfluchen konnte (4Mo 22–24). Der Segen Gottes würde sich durchsetzen. Wir werden in der Bibel als Christen auch aufgefordert, Gott wirken und richten zu lassen und nicht mit der Brechstange selbst Dinge erzwingen zu wollen, die wir als richtig und gut erachten (z.B. Röm 12:17–21). Tatsächlich ist das Abwarten manchmal eine gute und weise Strategie.
- Der Rat des Gamaliel wird in der biblischen Berichterstattung nicht weiter kommentiert oder bewertet. Es wird lediglich wiedergegeben, was passiert ist und was geredet wurde. Es liegt an uns, die Aussagen Gamaliels in im Kontext weiterer biblischer Aussagen einzuordnen und zu bewerten.
- Die Apostelgeschichte ist primär Geschichtsschreibung und nicht christliche Lehre. Gamaliel kommt nicht die Autorität eines Propheten oder Apostels zu. Seine Statements sollten erstmal als das gewertet werden, was sie sind: Aussagen eines einflussreichen jüdischen Geistlichen in einer heiklen Auseinandersetzung.
- Es bleibt unklar, was die Motivation von Gamaliel war. Die Sadduzäer glaubten nicht an die Auferstehung der Toten und waren möglicherweise auch deshalb darum bemüht, die Apostel hinter Gitter zu bringen (Apg 5:17). Diese verkündeten Jesus als den Auferstandenen. Pharisäer wie Gamaliel jedoch glaubten an die Auferstehung der Toten. Deshalb hatte Gamaliel möglicherweise nicht nur weniger Probleme mit den Auferstehungsberichten der Apostel, er hatte in diesem Konflikt auch eine Gelegenheit, der theologischen Konkurrenz im Hohen Rat eins auszuwischen.
- Eine weitere Möglichkeit ist, dass Gamaliel tatsächlich damit rechnete, dass die Apostel bald tot sein würden. Das Volk würde sich in irgendeiner Form gegen die Christen wenden oder es würde zu einer inneren Selbstzerfleischung in der Urgemeinde kommen. Auf diese Möglichkeit deutet seine Argumentation vor dem Rat hin, in welcher er zwei weitere Anführer erwähnt, deren Bewegungen vor nicht allzu langer Zeit von selbst mit dem gewaltsamen Tod ihrer Anführer ein Ende gefunden hatten (Apg 5:36–37).
- Nicht zuletzt kann der Apostel Paulus erwähnt werden. Im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte erwähnt dieser, dass er selbst als junger Mann „zu Füssen Gamaliels“ unterrichtet worden war (Apg 22:3). So wurde aus Paulus ein religiöser Eiferer, der Christen verfolgte. Wir haben keine schriftlichen Informationen, ob es sich bei dem von Paulus erwähnten Gamaliel um den gleichen Mann handelt, der den Hohen Rat überzeugte, die Apostel freizulassen. Aber die Annahme hat aufgrund der Timeline eine gewisse Plausibilität.
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