Robert Spaemann über Glaubenszweifel

Der Philosoph Robert Spaemann gehört zu den wenigen zeitgenössischen Philosophen, die in ihren Veröffentlichungen die Gottesfrage mit einem klaren »Ja« beantworten. idea hat Spaemann, der zu den bedeutendsten katholischen Gelehrten gehört, zur Auferstehung Christi, zu Zweifeln von Philosophen und der Frage, wie es in der Ewigkeit aussieht, befragt. kath.net hat das Interview online publiziert.

Spaemann zum Zweifel:

Der Skeptizismus der Philosophie sollte so radikal sein, dass er sich auch gegen sich selbst richtet. Wie Friedrich Hegel sagte: Wir müssen auch Zweifel an unseren Zweifeln haben. Auch unser Zweifel könnte ja unberechtigt sein! Denn auch ein Philosoph braucht Gewissheiten. Wenn jemand tatsächlich pausenlos an allem zweifeln würde, führte dies zur Selbstzerstörung.

Hier das Interview: www.kath.net.

Schleiermacher, ein Avatar

51H02LVdYEL._SL500_AA300_.jpgIch habe gestern endlich den Film Avatar gesehen (meine Begeisterung hielt sich in Grenzen). Warum musste ich dabei nur ständig an die Naturmystik à la Schleiermacher denken? Es mag an Zitaten wie diesem liegen (Über die Religion, 1991, 64–65):

Schnell und zauberisch entwickelt sich eine Erscheinung, eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums. Sowie sie sich formt, die geliebte und immer gesuchte Gestalt, flieht ihr meine Seele entgegen, ich umfange sie nicht wie einen Schatten, sondern wie das heilige Wesen selbst. Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele; denn ich fühle alle ihre Kräfte und ihr unendliches Leben wie mein eigenes; sie ist in diesem Augenblicke mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen. Die geringste Erschütterung, und es verweht die heilige Umarmung, und nun erst steht die Anschauung vor mir als eine abgesonderte Gestalt, ich messe sie, und sie spiegelt sich in der offenen Seele wie das Bild der sich entwindenden Geliebten in dem aufgeschlagenen Auge des Jünglings, und nun erst arbeitet sich das Gefühl aus dem Innern empor und verbreitet sich wie die Röte der Scham und der Lust auf seiner Wange. Dieser Moment ist die höchste Blüte der Religion.

Die gefährdete Internetfreiheit

37 Nationen führen Geheimverhandlungen über neue Grundregeln des Internets. Die Internetrechtlerin Gwen Hinze hat sich in der SZ zum Stand der Diskussion geäussert:

Auf Initiative der Industrienationen verhandlen seit dem Jahr 2008 inzwischen 37 Länder, angeführt von den USA und der EU, über Produktpiraterie. Die Öffentlichkeit hat zwei Jahre lang nichts darüber erfahren, was bei den Treffen passiert. Durch verschiedene undichte Stellen ist aber inzwischen klar: Eigentlich sollte es dabei um Zollkontrollen und Ähnliches gehen – doch längst steht das Urheberrecht im Mittelpunkt, wobei hier die Luxusgüter- und Unterhaltungsindustrie augenscheinlich mächtig Druck auf die Delegationen der Industrienationen macht. Dabei geht es um Forderungen, die für die Internetfreiheit schwere Folgen hätten.

Auch die FAZ warnt vor unkalkulierbaren Risiken einer Überregulierung:

Das Internet ist die zentrale Infrastruktur der Informationsgesellschaft. Bildung, Information, Unterhaltung, aber auch Politik und die öffentliche Verwaltung verlagern sich immer mehr ins Netz. Die Netzneutralität ist bisher ein Garant für wirtschaftliche Entwicklung und Freiheit im Internet gewesen. Die Europäische Union und die schwarz-gelbe Bundesregierung haben sich daher die Wahrung der Netzneutralität auf die Fahnen geschrieben. Sie wären gut beraten, an dieser Position festzuhalten. Die Risiken einer Abkehr vom Prinzip der Netzneutralität wären zu groß.

Themelios Vol. 35.1

themelios-35-1.jpgDie neue Ausgabe der Online-Zeitschrift Themelios ist da.

  • Editorial: Perfectionisms by D. A. Carson
  • Minority Report: The Importance of Not Studying Theology by Carl Trueman
  • New Commentaries on Colossians: Survey of Approaches, Analysis of Trends, and the State of Research by Nijay Gupta
  • Does Baptism Replace Circumcision? An Examination of the Relationship Between Circumcision and Baptism in Colossians 2:11–12 by Martin Salter
  • Pastoral Pensées: (1 Timothy 3:14–16) by Bill Kynes
  • Book reviews

Carl Trueman scheibt in seinem provozierenden Beitrag:

It might seem odd to write an editorial for a theological journal on the topic of not doing theology and how important that can be; and, indeed, perhaps it is contrarian even by my own exacting standards. But it is nonetheless important. Let me explain.

The greatest temptation of a theology student is to assume that what they are studying is the most important thing in the world. Now, i need to be uncharacteristically nuanced at this point: there is a sense, a very deep and true sense, in which theology is the most important thing in the world. it is, after all, reflection upon what God has chosen to reveal to his creatures; and it thus involves the very meaning of existence. in this sense, there is nothing more important than doing theology. But this is not the whole story. one of the great problems with the study of theology is how quickly it can become the study of theology, rather than the study of theology, that becomes the point. we are all no doubt familiar with the secular mindset which repudiates any notion of certainty in thought; and one of the reasons for this, i suspect, is that intellectual inquiry is rather like trying to get a date with the attractive girl across the road with whom you have secretly fallen in love: the thrill comes more from the chase and the sense of anticipation than it does from actually finding the answer or eliciting agreement to go to the movies. This plays out in theology in two ways. First and most obvious, there is a basic question of motivation which needs to be addressed right at the start of theological endeavour: am i doing this purely and simply for personal satisfaction? Has the study of theology become so central to my identity that the whole of my being is focused on it and seeks to derive things from it in a way which is simply unhealthy and distorts both its purpose and the person who i am? That is something with which all theologians will, i suspect, wrestle until the day they die, being part and parcel of who we are as fallen creatures; but there are also things we can do which ease the situation …

The second way in which the study of theology for study’s sake can play out is the manner in which it can ultimately disconnect you from reality, an odd result of studying that should, in theory at least, ground you more firmly in reality than anything else. i often wonder, as i sit in church on a sunday, of how much of the knowledge i have is truly significant for the people in the pews—the man who has just lost his job, the single mum struggling to hold it together, the teenager coping with all of the pressures that come with the transition to adulthood.

Hier die Internetseite mit der Möglichkeit, die Ausgabe herunter zu laden: www.thegospelcoalition.org.

Ägyptens bekanntester Konvertit vor Gericht

Ägyptens mit Abstand bekanntester Konvertit zum Christentum, der Journalist Mohamed Hegazy, stand am heutigen Dienstag vor Gericht. Hegazy hatte am 2. August 2007 als erster Ägypter die Änderung der Religionszugehörigkeit in seinem Personalausweis von »Muslim« in »Christ« beantragt. Wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) berichtet, war die heutige Verhandlung einzig zu dem Zweck angesetzt worden, das Urteil in diesem Fall zu verkünden. Das große internationale Medieninteresse bewog den vorsitzenden Richter aber, das Verfahren »zu stoppen«. Die Verhandlung verfolgten mehr Journalisten, als übrige Teilnehmer anwesend waren, so die IGFM.

Hegazy hatte sich bereits mit 16 Jahren dem Christentum zugewandt. Wegen seines »Abfalls vom Islam« wurde er von der ägyptischen Staatssicherheit verhaftet und gefoltert. Mitglieder seiner eigenen Familie wollten ihn umbringen. Der Journalist Hegazy ahnte daher, was ihm bevorstehen würde, als er versuchte, sein Recht auf freie Wahl der Religion legal wahrzunehmen. Obwohl es in Ägypten Schätzungen zufolge mehrere Tausend Konvertiten gibt, hatte zuvor noch niemand diesen Schritt in die Öffentlichkeit gewagt. Nach Angaben der IGFM sind zahlreiche ägyptische Konvertiten von der Staatssicherheit verhaftet, misshandelt und gefoltert worden – darunter auch Frauen.

Für IGFM Vorstandssprecher Martin Lessenthin hat der Prozess um den Konvertiten Hegazy eine herausragende Bedeutung: »Hegazys Versuch, einen Präzedenzfall zu schaffen, kann nicht hoch genug bewertet werden. Entweder führt er dazu, dass die Anwendung vom Islam in Ägypten endlich legal wird, oder er zeigt, dass die Regierung Mubarak das Recht auf religiöse Selbstbestimmung missachtet.«

Der Religionseintrag in den Personalpapieren hat für ägyptische Staatsbürger sehr weitreichende zivilrechtliche Konsequenzen. Z.B. führt der Religionseintrag »Muslim« dazu, dass ein Mann seine Frau ohne Angabe von Gründen und ohne Unterhaltspflicht verstoßen kann. Nur drei Religionen sind vom ägyptischen Staat anerkannt, alle andere Religionen und Religionslosigkeit sind – zumindest bisher – de facto verboten. Während der Übertritt zum Islam problemlos möglich ist, verweigern die Behörden den Wechsel von Muslimen zu einer anderen Religion.

Os Guinnes: Auf der Suche nach Sinn

Os Guinnes hat den exzellenten Vortrag »The Journey: A Thinking Person’s Quest for Meaning« beim Veritas Forum an der Universität in Los Angeles gehalten.

Für diejenigen, die sich für den Audiomitschnitt entscheiden, der Hinweis, dass Guinnes (übrigens ein Mann mit echten Beziehungen zur gleichnamigen Brauerei), den Vortrag ohne Skript gehalten hat.

Hier der Zugang zu den Dateien: www.veritas.org.

Francis Schaeffer: A Mind and Heart for God

51uvweuE1gL._SL110_.jpgMark P. Ryan schreibt in einer Rezension über das gerade erschienen Buch:

  • Bruce A. Little (Hg.): Francis Schaeffer: A Mind and Heart for God, Phillipsburg: Presbyterian & Reformed, 2010. 132 S., ca. 10 Euro:

For a short book, Francis Schaeffer: A Mind and Heart for God covers a lot of valuable ground. It provides a compelling portrait of schaeffer as churchman, evangelist, deep-thinker, and a most compassionate individual. it offers important vantage points from which to view schaeffer’s ministry, especially his remarkable ability to convey biblical truth to so many whether Christian or not. it shows an awareness of schaeffer’s legacy beyond L’Abri and beyond formal ministries dedicated to apologetics and outreach. And more than simply looking backwards, this volume explores ways in which schaeffer might aid Christians today in holding out the gospel to a lost and decaying culture. Of course, the book’s strength (covering so much so briefly) is also its Achilles heel. Although this compact volume must certainly be considered a vital resource for understanding schaeffer and his legacy, it is not a “stand alone” resource. to understand schaeffer the man, one will still need to read Colin duriez’s biography: Francis Schaeffer: An Authentic Life (Crossway, 2008). similarly, to appreciate Schaeffer’s apologetic, one will need to read Bryan Follis, Truth With Love: The Apologetics of Francis Schaeffer (Crossway, 2006). As is always the case, one will also need to read schaeffer himself! Ultimately, one must judge a volume against its own intended aims and purposes. Far from attempting comprehensiveness, this book and the conference that gave rise to its contents intends to acquaint a generation of evangelicals unfamiliar with schaeffer with his life and ministry while promoting schaeffer’s emphases and approach as a model of cultural engagement that is both relevant and simultaneously faithful to the Christian gospel. weighed in these scales, this short, accessible, and thoroughly enjoyable volume succeeds on both counts. i hope many read this and are aided in developing their own mind and heart for God.

Das Buch kann hier bestellt werden:

Die Frömmigkeit vom Vesuv

Hier ein Videomitschnitt, in dem ein Missionswerk eine »Erweckungsveranstaltung« vorstellt:

Was lieben diese Menschen, Jesus Christus, das Sichtbare oder ein (produziertes) Gefühl der Unmittelbarkeit?

Dazu ein passendes Zitat von Spurgeon, das, obwohl schon über einhundert Jahre alt, die Sache gut auf den Punkt bringt:

Ich habe keine Freude an einem Glauben, der einen heißen Kopf nötig hat oder ihn erzeugt. Ich begehre die Frömmigkeit, die auf Golgatha gedeiht und nicht auf dem Vesuv. Der größte Eifer für Christus verträgt sich mit gesundem Verstand und mit Vernunft. Raserei, Geschrei, Fanatismus aber sind Erzeugnisse eines falschen Eifers, der mit »Unverstand« verbunden ist. Wir sollen Menschen für die Kammer des Königs vorbereiten und nicht für das ausgepolsterte Zimmer im Irrenhaus. Es tut mir leid, solch eine Warnung aussprechen zu müssen. Aber wenn ich an die tollen Einfälle wilder Erweckungsprediger denke, darf ich nicht weniger und könnte noch sehr viel mehr sagen.

Was sind das für Lehrer, die von ihren Schülern verlangen, den »Verstand fahren zu lassen« (siehe Ende des Mitschnitts)? Für diese jungen Leute, die wohl gar nicht so richtig wissen, auf was sie sich eingelassen haben, empfinde ich tiefe Sorge. Gott hat uns einen Geist der Besonnenheit geschenkt (vgl. 2Tim 1,7, wo sophronismōs = Selbstbeherrschung, steht)!

Auf dem schmalen Weg

Der Pietismus, die einstige Gegenströmung zur lutherischen Orthodoxie kämpft bis heute mit Vorurteilen. Dabei gäbe es ohne ihre Impulse weder Diakonie noch Konfirmation. Wolfgang Thielmann sieht in seinem Artikel die protestantische Erneuerungsbewegung allerdings nicht rosarot.  Er diagnostiziert auch eine Verknüpfung von Herrenhut und Friedrich Schleiermacher:

Zinzendorf machte den Pietismus zu einer Bewegung der kleinen Leute. Handwerker, nicht Theologen, schickte er als Missionare nach Afrika, Indien und zu den Eskimos. Und in die Diaspora nach Deutschland, um dort in Gemeinden zu predigen, ohne eigene Kirchen zu gründen. Sie halfen dem Pietismus zu überleben, als Aufklärung und Rationalismus seine akademische Präsenz vor allem in Halle überrollten. Die fromme Bewegung verlor am Ende des 18. Jahrhunderts ihren wohl größten Sohn, Friedrich Daniel Schleiermacher. Er löste sich aus der Frömmigkeit seiner herrnhutischen Erziehung, aber bezeichnete sich später als »Herrnhuter höherer Ordnung«. Seine berühmt gewordene Definition der Religion als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« atmet herrnhutische Erfahrung.

Karl Barth sah das wohl ähnlich.

Hier der Artikel: www.merkur.de.

Selbständige Evangelisch-Reformierte Kirche im Aufbau

Zusammen mit Gleichgesinnten hat Sebastian Heck in Heidelberg eine »Selbständige Evangelisch-Reformierte Kirche« (SERK) gegründet. Die Kirche möchte an dem Erbe der reformierten Kirche in Deutschland anknüpfen. Die erste Gemeinde entstand am 18. April in Heidelberg in den Räumen einer alten Tabakfabrik. Herzlichen Glückwunsch!

Hier die Meldung der Nachrichtenagentur Idea und die Internetseite der SERK.

Ein theologischer Dialog mit N.T. Wright

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William Evans (Erskine College, U.S.A.) hat die »Wheaton Conference« zu Ehren von N.T. Wright besucht und einen ausgezeichneten Rückblick verfasst.

I had fears that the conference would be an exercise in hagiography, but that concern was quickly dispelled when the first conference speaker, Richard Hays of Duke University, came out swinging. Still miffed over a critique by Wright at the 2008 SBL meeting of a book that Hays had edited, the Duke Neuestestamentler contended that Wright’s historical treatment of the Gospels, with its emphasis upon historical proof, still operates out of an essentially modernist/historicist mindset, and he complained that the individual voices of the Evangelists seem to disappear into Wright’s synthesis of the Synoptic Gospel accounts. Hays also asked the probing question of how the picture of Jesus which emerges from Wright’s historical reconstruction relates to the church’s confessional tradition, before concluding with a call for a rapprochement between Wright and Karl Barth.

Hier der vollständige Report von Professor Evans: www.reformation21.org. Die Vorträge gibt es als Audio- oder Videomitschnitte: www.wheaton.edu.

Ich konnte bisher nur den Vortrag von Markus Bockmuehl aufmerksam hören. Der von mir sehr geschätzte Experte für das »Judentum zur Zeit Jesu« setzt sich mit der Frage auseinander, ob der Apostel Paulus nach seinem Tod in den Himmel aufgenommen wurde. Diese Fragestellung mag für einige Christen merkwürdig klingen. Hintergrund ist die Behauptung von N.T. Wright, dass die eschatologische Bestimmung des Menschen gerade nicht der Himmel, sondern die Erde sei. Bockmuehl weist nach, dass N.T. Wright sich mit seiner These nicht nur von den Eschatologien des Judentums und der Kirchenväter absetzt, sondern auch die Eschatologie des Neuen Testamentes insgesamt nicht ernst genug nimmt. Wright liegt richtig, wenn er betont, dass die Auferstehung der Christen leiblich sein wird so wie die Auferstehung von Jesus Christus es war. N.T. Wright liegt auch richtig, wenn er hervorhebt, dass der Dualismus von der Welt oben und der Welt unten bei der Erfüllung aller Dingen überwunden wird. Aber zu behaupten, der Himmel sei nicht Bestimmungsort der Glaubenden, verkürzt den paulinischen Befund. Bockmuehl: »Nach dem Neuen Testament ging Paulus in den Himmel, als er starb.«

Hier der hervorragende Vortrag als mp3-Datei: 100417Bockmuehl.mp3.

Zur Sexualmoral einer Gesellschaft

Amitai Etzioni schreibt in seinem Buch: Die Entdeckung des Gemeinwesens, Ansprüche, Verantwortlichkeiten und das Programm des Kommunitarismus, Stuttgart 1995 auf S. 31:

Die Sexualmoral einer Gesellschaft spricht oft Bände über die Art und Weise, wie sie ganz allgemein moralische und soziale Dinge angeht. Heutzutage wissen viele Eltern nicht so recht, was sie ihren Kindern in sexuellen Fragen denn sagen sollen. Seit wir nämlich die Vorstellung ad acta gelegt haben, »man solle bis zur Ehe warten“«, reden wir ganz diffus davon, dass man nur in einer “festen Beziehung“ miteinander schlafen sollte. Viele geben ihren Sprösslingen nur einige vage Ratschläge auf den Weg –»nie beim ersten Mal“« und »wenn, dann mit Verhütungsmitteln«“ und dergleichen …… Die Ehe ist für viele eine Wegwerfbeziehung geworden. Sie wird oft wie ein Mietvertrag eingegangen – mit dem Vorbehalt, dass man sie ja beenden und sich nach einem neuen Objekt umsehen könnte, wenn die beteiligten Parteien nicht damit zufrieden sind. Wir wissen nicht mehr so recht, ob und wann wir heiraten sollen oder ob wir eheliche Treue erwarten dürfen. Und wenn wir Kinder in die Welt setzen, ist uns unklar, was wir ihnen schulden“.

VD: iDAF

Sexueller Missbrauch und Heuchelei

C.S. Lewis hat in seiner Autobiografie Überrascht von Freude (Brockhaus 1982) die organisierte Päderastie in seinem Jungeninternat ausführlich beschrieben. Die jungen, hübschen und feminineren Jungs mussten oft in die Rolle einer Hausdirne schlüpfen, um einem oder mehreren der älteren Jungs als Lustknabe zu dienen (vgl. S. 74–76). Das war damals der Schulbetrieb.

Für Lewis ist klar, dass bei diesem Thema viel geheuchelt wird (S. 93). Ich vermute, er hat Recht. Drei aktuelle Beispiele:

(1) Kaum jemand spricht in diesen Tagen darüber, dass wahrscheinlich mehr als zwei Drittel aller Missbrauchsfälle innerhalb der Familien vorkommen. Besonders Patchwork-Familien begünstigen den Missbrauch (Quelle mit weiteren Hinweisen):

In seiner Studie »Die dunkle Seite der Kindheit« belegt der Autor [Dirk Bange], daß Religionszugehörigkeit keinen Einfluß auf die Mißbrauchs-Häufigkeit hat: sexueller Mißbrauch kommt in katholischen, evangelischen oder konfessionslosen Familien im wesentlichen im gleichen Ausmaß vor. Dasselbe schreibt Clara Wildschütte in ihrer Studie »Psychodynamik einer Mißbrauchsfamilie«. Von großer Bedeutung für die Häufigkeit sexuellen Mißbrauchs ist jedoch die Frage, ob der Täter ein biologischer oder »sozialer« Vater (neuer Liebhaber der Mutter, Stiefvater, Pflegevater) ist.

(2) Während wir einerseits eine Welle medialer Empörung erleben, scheint fast unter zu gehen, dass Roman Polanski wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung einer Minderjährigen viele Sympathien erhalten hat. Das Erste berichtete:

»Das ist lächerlich«, sagt Claudine Wilde. »Das ist einfach nur schlimm.« Auch Peter Lohmeyer hat kein Verständnis. »Arme Sau, mit über 70 noch dahin transportiert zu werden«, sagt er. »Ich denke, Guido Westerwelle sollte mal Obama anrufen. Das ist seine Aufgabe. Er hat seine Schuld eingestanden, mehrmals.« Auch international bildet sich eine breite Unterstützerfront für Polanski. Auf dem Filmfest in Zürich gab es großen Protest gegen seine Verhaftung. Mehr als 100 prominente Weggefährten haben eine Erklärung unterschrieben, auf der sie die sofortige Freilassung Polanskis fordern, darunter auch Kult-Regisseur Woody Allen, die deutschen Regisseure Wim Wenders und Tom Tykwer sowie die Schauspielerin Tilda Swinton. Sie alle nehmen den großen Künstler Polanski in Schutz und vergessen nach Meinung von Medienexperte Jo Groebel, dass der Mensch Polanski immerhin wegen Vergewaltigung einer 13-Jährigen verhaftet wurde.

(3) Als Heuchelei empfinde ich es auch, dass in unserer postmodernen Lebenskultur übersehen wird, dass etliche Väter der Postmoderne die »Grenzüberschreitung« erkenntnistheoretisch begründet haben. Verweisen ließe sich hier z.B. auf Marquis de Sade, Georges Bataille oder manche Prominente der 68er-Generation (siehe auch hier). Zitieren möchte ich Michel Foucault, der sich als Übervater der Postmoderne-Debatte theoretisch und praktisch für eine Sexualität »ohne Gesetz« stark machte. In einem späten Gespräch mit Edmund White sagte Foucault (Interview mit Edmund White , 12. Mai 1990, in: James Miller, Die Leidenschaft des Michel Foucault, Kiepenheuer und Witsch 1995, S. 81):

In einem gewissen Sinne habe ich während meines gesamten Lebens versucht, intellektuelle Dinge zu tun, um schöne Knaben anzuziehen.

Der Protest gegen den Missbrauch von Kindern stützt sich auf ein christliches Menschenbild, nach dem die Würde jedes Menschen nicht durch eines sozialen Konsens erzeugt wird. Durch die Ebenbildlichkeit wird im jüdisch-chrisltichen Kontext dem Menschen eine ihm eigene Würde zuerkannt. Diese Würde ist unveräusserlich und unbedingt zu schützen.

Foucault bezeichnete solche Vorstellungen als humanistisch und falsch und plädierte für ein Denken, dass sich von den abendländischen Strukturen löst. Er wollte die Destruktion des Subjekts, »d.h. eine ›kulturelle‹ Attacke: Aufhebung der sexuellen Tabus, Einschränkungen und Aufteilungen; Praxis des gemeinschaftlichen Lebens; Aufhebung des Drogenverbots; Aufbrechung aller Verbote und Einschließungen, durch die sich die normative Individualität konstituiert und sichert. Ich denke da an alle Erfahrungen, die unsere Zivilisation verworfen hat oder nur in der Literatur zuläßt« (Michael Foucault, »Gespräch zwischen Michel Foucault und Studenten« in: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, Fischer Wissenschaft, 1987, S. 95).

Der Protest gegen den Missbrauch von Kindern atmet die Asche des Abendlandes, nicht die der Verheißungen poststrukturalistischer Theorien.

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