Hochwertige Aufnahmen einiger NT Manuskripte

AlexandrinusFol65v.jpgDas Center for the Study of New Testament Manuscripts (CSNTM) unter dem Dach des Center for the Research of Early Christian Documents (CRECD) hat es sich zur Aufgabe gemacht, bedeutende griechische Manuskripte digital zu fotografieren und so der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Inzwischen hat das Zentrum eine beeindruckende Fotosammlung wichtiger Manuskripte archiviert und stellt sie über ein Browserschnittstelle zur Verfügung. Wer das Bedürfniss hat, z. B. den ägyptischen Codex Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert oder den Codex Alexandrinus aus dem 5. Jahrhundert oder andere Manuskripte am Monitor zu studieren, wird an der Datenbank des CSNTM Freude haben.

Expelled – No Intelligence Allowed

Der Filmemacher Mark Mathis produziert derzeit einen Kinofilm über Wissenschaftler, die sich zum Intelligent Design (ID) bekennen und deshalb mit allerlei Repressalien zu kämpfen haben. Durch den Film führt der amerikanische Schauspieler und Journalist Ben Stein.

Während der Trailer viel versprechend aussieht, wird das Projekt vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel als fundamentalistische Propaganda für den Kreationismus eingestuft. Vorgeworfen wird den Produzenten, dass sie R. Dawkins, Paul Z. Myers und andere Evolutionisten unter dem Vorwand interviewt hätten, einen ausgewogenen Streifen über die aktuelle ID-Debatte zu drehen. Tatsächlich sei die Dokumentation jedoch eine Verteidigung des ID-Konzeptes. Die Produzenten und Ben Stein weisen den Vorwurf zurück und erklärten The New York Times, dass kein Interviewpartner über die Absicht des Films im Unklaren gelassen worden sei. Die Tatsache, dass der Film ursprünglich »Crossroads« heißen sollte und dann zu »Expelled – No Intelligence Allowed« umbenannt wurde, hätte rein werbetechnische Gründe gehabt.

Steht uns eine neue Inquisition bevor?

feuerWährend die Klischeevorstellungen über die Inquisition und den Index verbotener Bücher durch die Öffnung der Vatikanarchive im Jahr 1998 allmählich korrigiert werden, erscheinen am Horizont neue zensierende Geister. Drei Beispiele:

(1) Kürzlich wurde in den U.S.A damit begonnen, die Gefängnisbibliotheken von christlicher Literatur zu befreien, um einer möglichen Fanatisierung der Insassen zuvor zu kommen. Die Liste der weiterhin erlaubten christlichen Literatur umfasst lediglich 150 Bücher. Auch einige Bücher von C. S. Lewis sind in Zukunft nicht erwünscht. (Mark Earley von der Organisation Prison Fellowship hat darüber berichtet und die New York Times informierte in einem Artikel über scharfe Proteste.)

(2) Ebenfalls in den U.S.A. wurde dem renommierten Astronom Guillermo Gonzalez im April 2007 eine Professur verweigert, weil er sich zum »Intelligent Design« bekennt. Wozu haben wir eigentlich all die Antidiskriminierungsgesetze?

(3) Anfang Oktober wird der Europarat darüber tagen, ob der Kreationismus einschließlich »Intelligent Design« eine Gefahr für die Wissenschaft und die Menschenrechte darstellt. Der französische Europapolitiker Guy Lengagne, der das umstrittene (105 Punkte umfassende) Dokument 11375 über die »Gefahren des Kreationismus« wesentlich initiierte, würde gern all jene vom Wissenschaftsbetrieb auszuschließen, die intellektuelle Zweifel an der Evolutionstheorie hegen. Die Argumentationsfigur sieht ungefähr so aus: Da es absolut keinen Zweifel an der Wissenschaftlichkeit der Evolutionstheorie gibt, können Kreationisten und ID’ler nur fundamentalistisch verführte Ignoranten sein. Also:

Wenn wir nicht wachsam sind, sind Werte, die den Kern des Europarates bilden, in Gefahr, von kreationistischen Fundamentalisten bedroht zu werden.

Der Wissenschaftstheoretiker Hans Albert dürfte an diesem Argument seine Freude haben. Es ist ein klassischer Fall für die »Immunisierung« eines (in diesem Fall ›evolutionistischen‹) Dogmas.

Andreas Dippel hat für das Medienmagazin pro die wichtigsten Hintergrundinformationen über die Debatte im Europarat kompakt zusammengestellt.

Die Europäische Evangelische Allianz ermutigt dazu, auf die Abgeordneten zuzugehen und gegen drohende Denkverbote zu protestieren. Es sei skandalös, dass der suggestive Entwurf des Europarates behaupte, die Demokratie und die Menschenrechte seien durch den Kreationismus gefährdet, heißt es in ihrer Stellungnahme. Eine ähnliche Auffassung vertritt Paul C. Murdoch vom Arbeitskreis der für Religionsfreiheit der Deutschen Evangelischen Allianz in einem Brief an den Leiter der Deutschen Delegation in der Versammlung des Europarats.

Mein Kollege, Freund und Philosoph Thomas K. Johnson hat einen offenen (und zugleich sehr persönlichen) Brief an Senator Guy Lengagne geschrieben. Matthew Cserhati hat für die Hungarian Protestant Creation Research Group in einem Schreiben berechtigten Unmut formuliert. Thomas Torrance, vom Departmen of Economics der School of Management & Languages in Edinburgh hat ebenfalls einen bedenkenswerten Kommentar verfasst. (Alle drei Dokumente biete ich mit freundlicher Genehmigung der Verfasser an.) Die Zensurgeister scheinen sehr nervös zu sein. Hoffen wir, dass sie bald wieder verschwinden.

Interview mit Collin Hansen

Collin.jpgMatthew Hall sprach mit Collin Hansen über das Comeback der reformierten Theologie in den U.S.A. Hansen, der für Christianity Today das Feature über Mark Driscoll verfasste und 2008 ein Buch über die jungen (wilden) Reformierten bei Crossway publizieren wird, deutet den Trend verheißungsvoll. Das Interview mit Hansen über die Renaissance der kalvinistischen Theologie in Nordamerika kann als mp3 heruntergeladen werden: Interview.

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Foto von Collin Hansen mit freundlicher Genehmigung.

»Kultur macht etwas mit uns«

Nachfolgend die Wiedergabe eines Interviews zum Buch »Die Postmoderne: Abschied von der Eindeutigkeit« (Bonner Querschnitte, Ausgabe 42, 09/2007).

»Kultur macht etwas mit uns«
Bonner Querschnitte im Gespräch mit Ron Kubsch über das Buch
»Die Postmoderne: Abschied von der Eindeutigkeit« und die
Vermischung von Kultur und Evangelium.

Die PostmoderneBQ: Herr Kubsch, Sie haben 2007 ein Buch über die Postmoderne geschrieben. Einige Leute sprechen bereits von der Post-Postmoderne.
RK: In der Tat scheint die große Begeisterung für die Postmoderne bereits verflogen zu sein. Nicht nur die drei großen französischen Denker der Postmoderne gehören der Geschichte an, in diesem Sommer verstarb nun auch der einflussreiche Richard Rorty. Trotzdem werden die Grabgesänge zu früh angestimmt. Die Postmoderne hat unsere Lebenskultur flächendeckend verändert und wird uns noch über viele Jahre prägen. Außerdem hinkt die fromme Lebenswelt – wie so oft – der allgemeinen Entwicklung hinterher. Die Theorie der Postmoderne ist bisher in Deutschland aus Gründen, die ich jetzt nicht aufzählen möchte, nie richtig an­gekommen. Nun erobert sie den Evangelikalismus doch noch. Sie kommt dies­mal nicht aus Paris, sondern aus den post-evangelikalen Kreisen der U.S.A.
BQ: Können Sie, bevor wir konkreter werden, kurz erklären, was Sie unter »Postmoderne« verstehen?
RK: Nein, kurz kann ich das nicht erklären. Ich habe das vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung einmal versucht. Anschließend bedankte sich eine Frau bei mir für die Einführung und fragte, was das Thema eigentlich mit der »Post« zu tun habe (lacht).
Im Ernst: Die Vorsilbe »post« mit der Bedeutung »nach« hilft uns weiter. Die Postmoderne repräsentiert nämlich die Zeit oder besser das Denken nach der Neuzeit (französisch: temps modernes). Die Neuzeit war geprägt von Optimismus, Einheitsdenken und der Suche nach allgemeingültigen Gesetzen und Wertvorstellungen. Aus der Sicht bedeutender postmoderner Philosophen ist das neuzeitliche Programm gescheitert. Es habe uns nicht geholfen, die Welt besser zu verstehen oder besser zu machen, es habe uns nach Auschwitz geführt. Die Ideale der Neuzeit erscheinen den postmodernen Theoretikern suspekt. Sie radikalisieren die Vernunftkritik – die ja schon in die Neuzeit eingeschlossen war – und wenden sie auf die Vernunft selbst an. So verabschiedet sich die Postmoderne von den Einheitsträumereien und einer „reinen Vernunft“. Sie zielt auf radikale Vielfalt. Die Vernunft, die Gerechtigkeit, die Religion oder die Wahrheit kann es für die nach-moderne Philosophie nicht mehr geben. Der bedeutendste Philosoph der Postmoderne, François Lyotard, sagte einmal sinngemäß: Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen teuer bezahlt. Wir brauchen und wollen das nicht mehr. Die Trauerarbeit ist inzwischen abgeschlossen. Unsere Antwort muss lauten: Krieg dem Ganzen.
BQ: Wie sieht dieser Krieg gegen das Ganze denn aus?
RK: Die Zeit der Suche nach einem alles erklärenden Weltbild ist vorbei. Es werden keine Manifeste mehr verfasst. Die Idee eines freien, selbstbestimmten Menschen gilt als überholte Fiktion. Das Interesse für Brüche, das Kleine, das Vorübergehende und das Unerklärliche wächst. Universelle Regeln und Über­zeugungen werden durch Verträge ersetzt, die immer nur Verträge des Übergangs sein können. Das Absolute verschwindet, da es nach Auffassung der Postmodernen nur in den Terror führen kann.
BQ: Können Sie das an praktischen Beispielen erläutern?
RK: Die Gesellschaft fragmentarisiert immer stärker, da es keine verbindenden Leitideen mehr gibt. So wie in der Fernsehwelt monatlich neue Spartenkanäle eröffnet werden, bilden sich in der Gesellschaft Subkulturen, die sich untereinander nur noch wenig zu sagen haben. Wir erleben eine Abkehr von der Sonderstellung des Menschen, die im Abendland selbstverständlich war. Die Kunst liefert nur wenige Innovationen und selten klare Botschaften, sondern ist vor allem Wiederholung und Verfremdung dessen, was wir schon kennen. Oder nehmen wir das Thema Sexualität. Sexualität ist in der Postmoderne keine Frage allgemeingültiger Werte, sondern Verhandlungssache. Solange Sexualität freiwillig zustande kommt, ist alles erlaubt. Wer interessiert sich noch dafür, ob es recht oder richtig ist, Gruppensex zu haben oder homosexuelle Neigungen auszuleben? Jemand, der sich in öffentlichen Diskursen noch auf göttliche Gebote oder eine Schöpfungsordnung beruft, hat es schwer. Meinungsumfragen werden da deutlich ernster genommen. Interessant ist übrigens, dass die Freiheit des Menschen andererseits scharf bestritten wird. Man könnte also fragen: Unter welchen Bedingungen kommen solche „Verhandlungsergebnisse“ eigentlich freiwillig zustande?
BQ: Sind das die Gründe, warum wir uns mit dem postmoderne Denken beschäftigen müssen?
RK: Unsere Lebenswelt prägt uns. Die Kultur besetzt unsere Gewohnheiten, unsere Überzeugungen und selbstverständlich unsere Sprache. Leider werden wir uns dieser tiefen Einprägungen oft erst bewusst, wenn wir für längere Zeit unseren Kulturraum wechseln. Ich habe mehrere Kulturen kennengelernt und kann jedem, dem es möglich ist, empfehlen, das auch mal zu machen. Die Kultur, mit der wir aufgewachsen sind, tragen wir immer mit uns herum. Wenn wir das nicht durchschauen und verstehen, kann sie in unserem Leben viel Macht entfalten. Deshalb ist es so wichtig, sich mit der eigenen Lebenswelt zu be­schäftigen.
BQ: Das klingt fast kulturfeindlich. Haben Sie etwas gegen Kultur, vielleicht etwas gegen die postmoderne Kultur?
RK: Im Gegenteil, ohne Kultur können wir ja überhaupt nicht leben. Kultur ist Ausdruck unserer Geschöpflichkeit. Aber wir dürfen nicht unterschätzen, dass Kultur auch etwas mit uns macht. Deshalb müssen wir Kulturen reflektieren, verstehen und manchmal auch kritisieren. Christen, die in einer dem Evangelium gegenüber feindlichen Kultur leben, müssen viele Spannungen aushalten. Im Neuen Testament lesen wir davon, dass die Gemeinden manchmal eine Gegenkultur zur Welt entwickelt haben. Andere Kulturphänomene, wie etwa die griechische Sprache im römischen Reich, haben die Verbreitung des Evangeliums enorm vereinfacht. So differenziert sehe ich auch die Postmoderne. Manche Einsichten der postmodernen Denker sind sehr hilfreich. Die Kritik an der Deutungshoheit der Naturwissenschaften korrigiert zum Beispiel die eindimensional verwissenschaftlichte Wahrnehmung der Welt. Eine postmoderne Kultur ist pluralistisch und erlaubt uns, unseren Glauben zu leben. Andere Aspekte, wie beispielsweise der strenge Relativismus, sind kritikwürdig. Ein harter Postmodernismus unterwirft alles der Zeitlichkeit, da gibt es keine zeitlosen Botschaften oder Werte mehr.
BQ: Aber die evangelistische Arbeit ist doch unter den postmodernen Bedingungen eher einfacher. Die Menschen sind wieder offen für Religion.
RK: Natürlich können wir an dieser Offenheit anknüpfen. Wenn wir allerdings den postmodernen Bezugsrahmen hinterfragen, machen die eben noch so offenen Menschen schnell wieder dicht. Nun sagen manche, wir müssen das Evangelium auf eine Weise verkündigen, dass es mit dem postmodernen Denken kompatibel ist. Wir müssen unsere Theologie, unsere Gemeinde- und Missionsarbeit usw. an die neuen Bedingungen anpassen. Das ist – etwas überspitzt – die Position einiger Aktivisten der Emerging Church-Bewegung.
Meines Erachtens kann das nicht funktionieren. Streng genommen ist das Evangelium innerhalb eines postmodernen Bezugsrahmens überhaupt nicht verstehbar. Wolfgang Welsch, der renommierteste postmoderne Philosoph in Deutschland, sagt: Die Nicht-Existenz eine Metaregel, eines obersten Prinzips, eines Gottes, eines Königs, eines Jüngsten Gerichtes usw. macht das Herz des Postmodernismus aus. Wenn wir nun versuchen, das Evangelium mit dieser Grundeinsicht zu versöhnen, verfremden wir es. Was am Ende dabei herauskommt, ist ein anderes Evangelium. Die Leute verstehen gar nicht, worum es geht. Wir landen so bei neuen Formen des Mystizismus. Deshalb müssen wir das Denken der Postmoderne selbst herausfordern, so, wie früher viele Christen das neuzeitliche Denken herausgefordert haben. Die Botschaft der Bibel ist für das postmoderne Wirklichkeitsverständnis eine Provokation. Sie sagt, es gibt einen lebendigen Gott. Dieser Gott hat sich uns Menschen verstehbar und ein für allemal verbindlich offenbart. Dieser Gott wird eines Tages Rechenschaft von uns fordern. In einem postmodernen Bezugsrahmen sind diese Botschaften Nonsens. Also müssen wir uns mit diesem Bezugsrahmen beschäftigen. Wir kommen an dieser Auseinandersetzung nicht vorbei.
BQ: Aber hat nicht Lesslie Newbigin gezeigt, dass es ein kulturfreies Evangelium überhaupt nicht geben kann? Das Evangelium kann doch in viele Kulturen inkarnieren.
RK: Evangelium geht immer in Kultur ein und ist insofern nie kulturfrei. Andererseits dürfen wir das Evangelium nicht mit Kultur verwechseln. Es ist ein großes Verdienst von Karl Barth, deutlich herausgearbeitet zu haben, dass keine Kultur ein eigenes Recht vor dem Evangelium hat. Kulturelle Unterschiede wollen beachtet sein, aber sie sind nicht das Entscheidende. Der Kulturprotestantismus hatte im 19. Jahrhundert Evangelium mit Kultur und Bildung verwechselt. Karl Barth durchschaute das und plädierte mutig für das Hören auf das Wort Gottes. Ich bin nun wahrlich kein Barthianer, aber für diesen Mut bin ich ihm sehr dank­bar. Es besorgt mich, dass diese Unterscheidung wieder in Vergessenheit gerät.
BQ: Können Sie konkreter werden?
RK: Zurecht machen uns heute christliche Philosophen, Missiologen und Soziologen darauf aufmerksam, dass unser Christsein immer durch Kultur imprägniert ist. Das wurde oft übersehen und so haben wir manchmal den bürgerlichen Konservatismus des Abendlandes mit dem Evangelium verwechselt. Dies zu durchschauen, ist eine herausragende Leistung z. B. von Lesslie Newbigin. Andererseits neigen heute jedoch viele Evangelikale oder Post-Evangelikale zur Überhöhung der Kultur. Das geht so weit, dass die Kultur wieder als Raum einer besonderen Gottesoffenbarung verstanden wird. So wird das Wort Gottes durch Kultur komplettiert oder sogar korrigiert. Ich dachte, dass besonders die Christen in Deutschland wegen der tragischen Erfahrungen im Dritten Reich gegenüber solchen Vorstellungen immun sein würden. Aber offensichtlich ist das nicht der Fall.
BQ: Welche Erfahrungen haben Sie denn im Sinn?
RK: Die protestantisch-nationalistische Bewegung der »Deutschen Christen« verstand das deutsche Volkstum als eine von Gott gegebene Lebensordnung. Dieses falsche Offenbarungsverständnis ermöglichte ein lebensfeindliches und rassis­tisch verbogenes Christentum. Hätten die Kreise der »Deutschen Christen« die Bibel ernster genommen, hätten sie die Ideologie des Nationalsozialismus entlarven können.
BQ: Welches Kulturverständnis empfehlen Sie den Christen, die in einer postmodernen Gesellschaft leben?
RK: Wir sollen Kultur verstehen, wertschätzen, prüfen und prägen. Praktische Theologie und Evangelisation muss heute in Europa anders aussehen, als in der Nachkriegszeit. Solche Unterschiede gilt es zu beachten. Wer aber das uneinholbare Evangelium von Jesus Christus nicht von Kultur unterscheidet, wird Gottes Reden irgendwann nicht mehr vernehmen, da es kulturell überfremdet ist. Das frohmachende Evangelium, das von den Aposteln ein für allemal überliefert wurde, muss unsere Herzen ausfüllen. Das Evangelium ist nicht anpassungs- oder ergänzungsbedürftig. Der Judasbrief sagt im 3. Vers sinngemäß, dass den Christen der Glaube für alle Zeit, also auch für alle Kulturen, überliefert wurde. Dieses unveränderliche Evangelium vom Kreuz ist es, das wir auch den Menschen in den postmodernen Gesellschaften durch Wort und Tat zu bezeugen haben.
BQ: Wir danken Ihnen für das Gespräch.

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Download des Gesprächs mit Pressemeldung: BQ0043.pdf

Collin Hansen porträtiert Mark Driscoll

Collin Hansen erklärt den Lesern von Christianity Today, warum Mars Hill Church-Pastor Driscoll gern provoziert und außergewöhnlich erfolgreich Gemeindeaufbauarbeit leistet. Die Mars Hill Church gehört zu den am stärksten wachsenden Gemeinden Amerikas. Mark Driscoll hat eine ausgeprägte Gabe für Leiterschaft und kombiniert orthodoxe reformierte Theologie mit kulturrelevanten Ausdrucks- und Kommunikationsformen. Da für Driscoll der Glauben an Jesus Christus inhaltlich unveränderlich und nicht ergänzungsbedürftig ist, hat er sich vor einigen Jahren vom Emergent Village gelöst. Das informative und gut lesbare Profil über den provokanten Prediger kann hier in Englisch eingesehen werden. Mark Driscolls‘ Blog ist über The Resurgence erreichbar.

Collin Hansen arbeitet übrigens an einem Buch über junge reformierte Theologen und Leiter, das 2008 bei Crossway erscheinen soll.

Das Francis Schaeffer Institut veranstaltet Wochenendseminar über die Emerging Church-Bewegung

Covenant

Das Francis Schaeffer Institut am Covenant Seminary (St. Louis, Missouri) veranstaltet zweimal im Jahr Seminare und Vorlesungen zu Themen, die innerhalb von Kirche und Gesellschaft kontrovers diskutiert werden. In der Zeit vom 19. bis zum 20. Oktober 2007 hält Darrin Patrick (2. Vorsitzender des Acts 29 Netzwerkes) Vorlesungen über die Emerging Church-Bewegung. Weiter Informationen und eine Möglichkeit zur Anmeldung gibt es hier.

Würde Jesus Yoga-Kurse besuchen?

yoga.jpgDoug Pagitt, Pastor von Solomon’s Porch und Mitherausgeber des Buches An Emergent Manifesto of Hope (Baker Books, 2007), debattierte kürzlich in einer TV-Sendung mit John MacArthur über das Verhältnis von Yoga und Christentum. Während aus der Sicht von McArthur Yoga nicht dafür geeignet ist, geistliches Leben unter Christen zu fördern, erklärt Pagitt, weshalb in seiner Gemeinde Yoga-Kurse angeboten werden. (Ein Mitschnitt der Debatte kann bei YouTube abgerufen werden.) Dass Yoga bei der christlichen Bevölkerung so viel Anklang findet, beunruhigt wiederum Subhas R. Tiwari, Professor an der Hindu-Universität von Amerika. In einem kleinen Artikel begründet er, warum Yoga keine Technik, sondern eine nicht von der hinduistischen Philosophie abzulösende religiöse Praxis ist.

Die Hinweise auf beide Quellen verdanke ich Douglas Groothuis.

Alttestamentliche Pseudepigraphen online

Jim Davila, Dozent für Frühjudentum an der Universität in St. Andrews (Schottland), informiert darüber, dass die digitale Bibliothek The Online Critical Pseudepigrapha (OCP) neue Texte veröffentlicht hat und die Schnittstellen nun für Mac User besser nutzbar sind. Der Anbieter der OCP Bibliothek (Society of Biblical Literature) arbeitet alttestamentliche Pseudepigraphen (Schriften, die fälschlich einem bedeutenden Autor zugeschrieben wurden) via XML auf und macht so die Texte in verschiedenen Sprachen und Ausgaben zugänglich. Bei einigen Texten wurde bereits ein kritischer Apparat integriert.

War das Familienbild im Dritten Reich vorbildlich?

familie.jpgGegenwärtigen wird heftig darüber diskutiert, ob die Familienwerte während der Zeit des Nationalsozialismus für uns eine Vorbildwirkung haben könnten. Scheinbar waren damals die Familien in Takt, die Rollenverständnisse klar verteilt, die Geburtenraten stimmten. Der Theologe und Soziologe Thomas Schirrmacher sieht das anders. Im Rahmen seiner Arbeit an der Promotion über Hitlers Kriegsreligion verfestigte sich die Einsicht, dass der Nationalsozialismus den verbreiteten Zusammenbruch der Familie mit zu verantworten hat. Er begründet seine Aufassung mit folgenden acht Punkten:

1. alle nichtarischen Familien wurden bis hin zur physischen Ausrottung bekämpft;

2. angeblich rassische Mischehen wurden zur Auflösung gezwungen und es wurde tief in das Menschenrecht auf freie Partnerwahl eingegriffen;

3. man hat alle arischen Familien nicht mehr an irgendwelchen Familienwerten gemessen, sondern allein an ihrer Bedeutung für Volk, Rasse und Krieg;

4. die Rolle der Mütter auf eine biologische reduziert wurden und man für die gefühlsmäßig-seelische Seite der Elternschaft und das Selbständigwerden als Erziehungsziel nur Hohn und Spott übrig hatte;

5. die Kinder den Eltern möglichst früh entfremdet wurden und innerhalb nationalsozialistischer Organisationen neuen ›Vorbildern‹ und Autoritäten unterstellte;

6. durch den Rassekrieg überhaupt erst die ›vaterlose Gesellschaft‹ (Mitscherlich) hervorbracht wurde und nicht nur in Deutschland, sondern auch bei den Kriegsgegnern Millionen Familien zerstörte und das bewusst in Kauf nahm;

7. die Bedeutung der Ehe hintan gestellt wurde, indem der Gedanke eines ›Kindes für den Führer‹ auch ohne feste Beziehung zu dem biologischen Vater (z. B. einem SS-Offizier) propagiert wurde, was die Grundlage des Lebensborngedankens war, und schließlich

8. Hitler selbst verbal sehr frauenfeindlich war.

Die volltändige Stellungnahme kann hier heruntergeladen werden: bq042.pdf.

Redet Gott durch Farben?

In den vergangenen Jahren erschienen unüberschaubar viele Bücher zum Thema Privatoffenbarungen. Uns wird darin geradezu auf­dringlich vermittelt, wir könnten Gott schmecken, riechen, spüren, in­wendig hören oder sehen. Jetzt werden uns auch Seminare angeboten, in denen wir lernen können, Gottes Willen durch Farbfragmente zu erkennen.

Natürlich wird in den einschlägigen Abhandlungen beständig darauf verwiesen, dass das inwendige Reden Gottes mit der Bibel zu prüfen sei. Dabei weiß jeder, dass Gott uns in seinem Wort weder den Namen des Ehepartners nennt, noch uns über die Entwicklungen am Aktienmarkt aufklärt. Da umgekehrt Privatoffenbarungen (glücklicherweise) die in Je­sus Christus unüberholbar abgeschlossene Offenbarung selten berühren, bleibt die Prüfung meist ein Akt der Willkür.

Nehmen wir ein Beispiel aus einem Ge­betsseminar. Zwei Teilnehmer erkennen die Farbe rot. Rot sagt einem dritten Beter etwas, denn das ist die Farbe seiner Firma, die in einer Krise steckt. So fühlt der Dritte sich ermutigt, da er nun weiß, dass er von Gott wahrgenommen wird.

Das Beispiel ist hochproblematisch. Erstens hätte der Betroffene auch durch die einfache Bibellektüre auf den Gedanken kommen können, dass Gott ihn wahrnimmt. Zweitens transportieren Farben keine inhaltlichen bzw. sprachlichen Botschaften, sie haben nur eine Signalwirkung. Die Entschlüsselung des Farbsignals bleibt deshalb eine rein subjektive Ange­legenheit. Der Mann hätte das Farbsignal durchaus auch in dem Sinn in­terpretieren können, dass Gott die sofortige Schließung des Betriebes er­warte. Es wäre ja denkbar, dass die Farbe nicht nur für eine Firma, son­dern auch für Rotlicht »offenbart« worden wäre?

Meines Erachtens lässt sich allerdings herausfinden, ob das von den Se­minarleitern vorgeschlagene Verfahren zur Gewinnung geistlicher Er­kenntnis durch das Wort Gottes legitimiert werden kann. Orientieren wir uns dabei an einer klassischen und schlichten Regel der Reformatoren. Sie haben zurecht herausgearbeitet, dass wir unser Leben vor Gott durch das gestalten sollen, was die Bibel gebietet, verheißt oder in Beispielen wiedergibt (z.B. Lutherische Apologie, XXI). Wo in der Bibel finden wir Gebot, Verheißung oder Beispiel dafür, dass Gott seinen Willen durch Farben offenbart?

Ich gehöre nicht zu den Christen, die prophetische Geistesgaben auf die Zeit vor der Fertigstellung des neutestamentlichen Kanons beschrän­ken und halte es für möglich, dass Gott sich uns auf diese oder jene Weise klar verständlich mitteilt. Aber als Seelsorger beob­achte ich zunehmend, wie Christen aufgrund diffuser Eindrücke oder Impulse schwerwiegende Fehlentscheidungen treffen. Die Anleitung zu ihrem Unglück haben sie meist aus frommen Bücherstuben. So manch kleiner Katastrophe könnten wir vorbeugen, würden wir unsere Sinne lieber durch feste Speise und einen vernünftigen Gottesdienst üben (vgl. Hebr 5,14 u. Röm 12,1-3). Anstatt ein esoterisches Christentum zu propa­gieren, sollten verantwortliche Leiter und Lehrer (und Verlagsleiter) bei Augustinus in die Schule gehen (auch wenn er in New Perspective-Kreisen derzeit einen schlechten Ruf hat). Der Kirchenvater, der sich ja bekanntlich übernatürlichen Erfahrungen nicht verschlossen hat, gab Deogratias fol­genden Rat mit auf den Weg: „Freilich müssen wir … von solchen Wun­derzeichen und Traumbildern auf den festen Pfad und die glaubwürdi­geren Weissagungen der Heiligen Schrift lenken“ (Vom ersten katecheti­schen Unterricht II, 10).

Robert Spaemann äußert sich über Intelligent Design

evolution.jpgDer aus einer vom Protestantismus zum Katholizismus konvertierten Familie stammende Philosoph Robert Spaemann (* 1927) nimmt in einem Interview mit der WirtschaftsWoche zu Kreationismus und Intelligent Design (ID) Stellung. Während die Redaktion des Journals ein „Berufsverbot“ für ID-Wissenschaftler zu befürworten scheint, setzt Spaemann sich für den Dialog mit Leuten ein, die ihr Fachgebiet beherrschen und trotzdem ungewohnte Denkwege einschlagen. Für problematisch hält Spaemann es dagegen, dass Wissenschaft oft in Scientismus umschlägt und einen Totalitätsanspruch erhebt.

Zum ganzen Interview mit Robert Spaemann geht es hier: Fantastische Annahmen.

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Bild mit freundlicher Genehmigung: jela65 (Photocase)

Das RSI-Syndrom

maus.jpgWer viele Stunden seines Arbeitstages vor dem Bildschirm sitzt und dabei überwiegend die Maus für die Steuerung der Anwendungsdialoge nutzt, kennt das Problem: häufige Schmerzen im Arm und in der Schulter, ausgelöst durch das so genannte RSI-Syndrom (Repetitive Strain Injury-Syndrom). Immer mehr Menschen klagen über solche Beschwerden, seit sich die Kombination Tastatur und Maus als Eingabegeräte etabliert hat. Ich kämpfe nach 20 Jahren Mausbedienung auch mit diesen unangenehmen Beschwerden.

Das Bundesverwaltungsamt (INFO 1691) hat ein Informationsblatt zu diesem Phänomen herausgeben und empfiehlt, anstelle einer Computermaus einen Eingabestift zu verwenden. Ich habe mir vor zwei Jahren tatsächlich ein Grafiktablett von Wacom angeschafft und lebe seitdem etwas schmerzfreier, wenn auch die Umstellung gewöhnungsbedürftig ist und Wacom horrente Preise für das Zubehör verlangt (manchmal müssen Stifte und Cover erneuert werden).

In Europa wird derzeit begonnen, seriös über das RSI-Sydrom zu forschen. Einen guten Artikel von H. Sorgatz über »Repetitive strain injuries« können Sie hier herunterladen.

Von Peter Strahm aus der Schweiz, der selbst auch mit dem Problem kämpft, bekam ich den Hinweis auf Übungen, die die Heilung des RSI-Syndroms begünstigen können. Es handelt sich um Dehnungsübungen für die Therapie eines Tennisarms. Ich habe die Empfehlungen angetestet und tatsächlich eine Verbesserung beobachtet.

Um möglichst gar nicht erst einen Mausarm zu bekommen, sollte man die Sehnen regelmäßig entlasten und den Arm bewegen. Inzwischen gibt es mit Workrave eine kleines Tool, dass ab und an zu Mikropausen und einigen Übungen einlädt. Das Tool gibt es bisher nur für Linux und Windows. Für die MAC-Welt hat Onne Gorter die Software AntiRSI geschrieben, die jedoch bisher keine Übungsanleitungen anbietet.

Wider die Privatisierung des Glaubens

Dominik Sikinger (DoSi) fragt in seinem Beitrag »New Perspective« Revisited:

… warum höre ich von den Kritikern der NP soviel über das jüngste Gericht und sowenig über das diesseitige Leben – und warum ist das bei ihren Vertretern genau umgekehrt?

kanzleramt.jpgDominik thematisiert damit eine Problemzone der Evangelikalen. Bei ihnen findet sich oft entweder die Neigung, sich aus der Welt zurückzuziehen, um in der Gemeinschaft mit Gott auf der sicheren Seite zu sein. Die Interaktion mit der Welt gilt dann als gefährlich und wird wenigen Spezialisten überlassen. Oder aber findet sich die Tendenz, in der Welt aufzugehen und so profilos in der Gesellschaft mitzuschwimmen.

Bedenkenswerter Weise kann sich die Privatisierungsmentalität nicht auf die Reformatoren und spätere Reformierte berufen. Die (nachreformatorische) Rückzugsethik entwickelte sich vielmehr in einigen stark von der Romantik beeinflussten pietistischen Kreisen und bei den Taufgesinnten. In einem Vortragsauszug versuche ich zu zeigen, dass Luther und Bonhoeffer (alte Paulusperspektive) für das verantwortliche und gestaltende Leben im Diesseits votiert haben.

Download des Auszugs: diesseits.pdf

Was meint Paulus wirklich?

ct_paul1.gifNachdem die Zeitschrift Christianity Today die Neue Paulusperspektive in der Augustausgabe zum Topthema gemacht hatte, publizierte Scott McKnight eine fünfteilige Serie zur New Perspective on Paul, die freundlicherweise von Dominik Sikinger auf Deutsch zusammengefasst wurde.

Die Neue Paulusperspektive ist eine komplexe Angelegenheit und ich habe an dieser Stelle nicht vor, die Theorie als solche zu erörtern. Dennoch möchte ich mich zu drei Punkten äußern, die mir bei McKnights Darstellung aufgefallen sind.
(1) Anders als McKnight behauptet, begann nicht alles 1982 mit James Dunn bzw. 1977 mit Ed Parish Sanders. Der Wandel in der Paulusexegese, der heute gern unter dem Leitbegriff »The New Perspective« zusammengefasst wird (Der Begriff geht zurück auf den Aufsatztitel »The New Perspective on Paul« in: Dunn, 1983), ist bereits viel früher von namhaften Gelehrten wie W. Wreder, A. Schweizer oder H.-J. Schoeps vorbereitet worden. Schon diese Theologen (und noch einige andere) haben versucht, die protestantische Paulusauslegung von dem einseitig lutherischen Interpretationsmodell zu befreien.
Besonders hervorzuheben ist der schwedische Exeget Krister Stendahl, der sich selbstbewusst um eine »Entlutherisierung« der Paulusinterpretation bemühte und 1963 in seinem Aufsatz »The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West« (Stendahl, 1963) die These aufstellte, dass unser Paulusverständnis zu Unrecht von der Rechtfertigungslehre vereinnahmt wurde. Hauptthema des Apostels – so Stendahl – sei die Hineinnahme der Heiden in die Heilsgeschichte, nicht die Erlösung des Einzelnen. Das Verdienst des Paulus sei die Entdeckung gewesen, Heiden könnten Vollmitglieder der Gottesgemeinde werden, ohne dabei an die Zeremonialgesetze gebunden zu sein. Stendahl schreibt in seiner Auslegung des Römerbriefes:

Im Römerbrief ist das Prinzip der Rechtfertigung aus Glauben ein Missionsprinzip –ein Prinzip, um zu verstehen, wie es für Menschen aus den Völkern möglich ist, Teil von Gottes Programm, Plan und Volk zu werden. Wie können Menschen aus den Völkern zu Kindern Gottes, ja zu Kindern Abrahams werden? Paulus gebraucht das Syntagma »Abba, Vater« zweimal, im Galater- und im Römerbrief. Was er dem »Abba« entnimmt, ist nicht die warme, romantische Interpretation, die sich bei Joachim Jeremias findet. Paulus meint mit »abba« lediglich, dass wir »wenn wir ›abba‹ sagen, zu Erben früherer Verheißungen und von Gottes Willen geworden sind.« ›Abba‹ ist eine Erbschafts-Frage – wer sind die Erben oder Kinder Abrahams? Das entscheidende Argument findet sich in Paulus‘ Interpretation von Abraham. Er (Abraham) glaubte, und das war rettende Gnade. Er glaubte, und »es wurde ihm zur Gerechtigkeit angerechnet«.

Dies ist die wundervolle Entdeckung des Paulus, nämlich: dass Abraham glaubte, bevor er beschnitten war. Die Beschneidung kommt (im Buch Genesis) nicht vor, sondern nach diesem Abschnitt. Wir sind also gerechtfertigt aus Glauben nach dem Modell Abrahams, ohne Beschneidung. So funktioniert das Argument der Rechtfertigung aus Glauben. Es ist herausgehämmert auf dem Amboss der Frage: Wie können Menschen aus den Völkern Teil des Gottesvolkes (Israel) werden? Einige Christen meinen, die Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben sei die Antwort auf die Frage des geplagten Gewissens: Wie kann ich der Gnade Gottes gewiss sein? Antwort: durch Glauben. Aber das war nicht Paulus‘ Gedanke. Paulus hatte in diesem Sinn nie ein Problem mit dem Gewissen. Er wusste, dass er gemäß dem Gesetz vollkommen war. Er war ein schrecklicher Prahler. Er war immer sowohl der größte Sünder als auch der größte Apostel. Er spricht in Zungen mehr als irgendjemand sonst. Sein Kampf, seine Schwäche, seine Epilepsie – oder was immer es war – verweisen auf ein interesantes persönliches Drama, von dem wir viel lernen können. Seine theologia crucis liegt darin begründet. Doch sein Konzept der Rechtfertigung aus Glauben hat damit nichts zu tun. (Stendahl, 2004: 36–38)

Wegen dieser neuen Sichweise wird Stendahl gern (m. E. zu Recht) als der »Vater« der Neuen Paulusperspektive bezeichnet (vgl. z. B. Stendahl, 2004: 8).
(2) McKnight erklärt, dass die ihm bekannte Kritik an der Neuen Paulusperspektive überwiegend aus dem Bereich der Systematischen Theologie stamme. Nun weiß ich nicht, ob Scott vor allem dogmatische Literatur studiert (was mich sehr verwundern würde). Tatsächlich kommt jedenfalls der größte Widerstand gegenüber der neuen Sichweise nicht aus dem dogmatischen Lager, sondern von den neutestamentlichen Exegeten. Einige wichtige theologisch-exegetische Werke sind:

  • KIM, SEYOON: The origin of Paul’s gospel. Tübingen: J.C.B. Mohr, 1981
  • SEIFRID, MARK A: Justification by faith: the origin and development of a central Pauline theme. Leiden; New York : E.J. Brill, 1992
  • CARSON, DONALD; O’BRIAN, PETER THOMAS et. al.: The complexities of Second Temple Judaism. (WUNT 140, Vol. 1). Tübingen: Mohr Siebeck, 2001
  • KIM, SEYOON: Paul and the new perspective: second thoughts on The origin of Paul’s gospel. (WUNT 140). Tübingen: Mohr Siebeck, 2002
  • CARSON, DONALD A.; O’BRIAN, PETER THOMAS et. al.: The paradoxes of Paul. (WUNT 181, Vol. 2). Tübingen [u.a.]: Mohr Siebeck, 2004
  • BACHMANN, MICHAEL; WOYKE, JOHANNES: Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182). Tübingen: Mohr Siebeck, 2005. Zum Inhalt siehe hier.
  • STUHLMACHER, PETER; HAGNER, DONALD A.: Revisiting Paul’s Doctrine of Justification: A Challenge to the New Perspective. InterVarsity Press, 2002. Der emeritierte Tübinger Neutestamentler Peter Stuhlmacher hat sich auch in einer Vortragsreihe entschieden gegen die Neue Paulusperspektive ausgesprochen. Einige der Vorträge können hier als mp3-Dateien heruntergeladen werden.

(3) Schließlich stellt McKnight eine Behauptung auf, die recht forsch klingt, aber wohl das Dilemma ziemlich genau auf den Punkt bringt: Sollten die Neuen Paulusperspektiven berechtigt sein, verschiebt sich der gesamte Bezugsrahmen des Evangeliums (engl. »the entire framework of the gospel is changed«).* Jenseits zahlreicher Einzelfragen, ist es, wie McKnight richtig feststellt, die Frage der Anthropologie, an der sich die Sache entscheidet. Ist die menschliche Natur im Kern gut (Pelagius u. humanistische Position), in den natürlichen Kräften verletzt (katholische Position), versklavt (orthodoxe Position) oder in der Tradition des gefallenen Adams von Anfang an durch und durch verdorben (Augustinus u. zugleich reformatorisch Position)?

Wir erörtern hier also nicht Randzonen des Evangeliums oder einfach harten Stoff (Antijudaismus, Judenmission, Bundestheologie, Gesetzesstatus und -funktion, Reich Gottes usw.), sondern zentralen Aspekte der Anthropologie und Soteriologie und damit des Evangeliums. Wir sollten uns deshalb nicht mit der Lektüre von E.P. Sanders, H. Räisänen, J. Dunn oder N. T. Wright zufrieden geben (so bereichernd diese auch sein kann), sondern auch S. Kim, M. Seifrid, D. Carson, M. Hengel und P. Stuhlmacher lesen. Vor allem aber sollten wir das Alte Testament, Augustinus, die Reformatoren und natürlich den Heidenapostel Paulus selbst gründlich studieren.

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* McKnight unterschätzt m. E. den Einfluss, den Augustinus auf die katholische Lehrfassung ausübte. Immerhin hält der Vatikan an einer (schwachen) Erbsündenlehre fest. Vgl. dazu besonders die Abs. 402–406 im Katechismus der Katholischen Kirche von 1993.

 

Literatur

DUNN, JAMES: »The New Perspective on Paul«. In: Bulletin of the John Rylands Library 65 (1983), S. 95–122
STENDAHL, KRISTER: The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West. In: Harvard Theological Review 56 (1963), S. 199-215
———: Das Vermächtnis des Paulus: Eine neue Sicht auf den Römerbrief. Zürich: Theologischer Verlag, 2004

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