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Heideggers finsteres Vermächtnis

41JCuufyXGL._Derzeit ist in den Feuilletons ein Satz häufig zu hören oder zu lesen: „Die Katze ist aus dem Sack!“ Worum geht es? Der deutsche Philosoph Martin Heidegger führte in der Zeit von 1931 bis zum Anfang der siebziger Jahre mit Unterbrechungen geheime Denktagebücher, die sogenannten Schwarzen Hefte. Nur wenige Familienangehörige und Geliebte bekamen Auszüge aus den vierunddreißig Wachstuchheften zu sehen (einige Zitate waren allerdings in Frankreich bekanntgeworden). Sonst konnte nur vermutet werden, dass da noch etwas passiert. Gegenüber Vertrauten hatte Heidegger gelegentlich bemerkt, er habe die Katze noch gar nicht aus dem Sack gelassen. Er verfügte testamentarisch, dass die Hefte erst am Schluss der Werkausgabe publiziert werden. Nun sind die ersten drei Bände der Manuskripte beim Verlag Vittorio Klostermann erschienen (der erste Band: M. Heidegger: Gesamtausgabe. 4 Abteilungen / Überlegungen II-VI: (Schwarze Hefte 1931-1938).

Der Inhalt ist so bedrückend, dass der Fachwelt der Atem stockt. Selbst Heideggerschüler, die bisher ihren Lehrer gegen die längst bekannte „Nazinähe“ (vgl. dazu Victor Farías: Heidegger und der Nationalsozialismus u. von Holger Zaborowski: „Eine Frage von Irre und Schuld?“: Martin Heidegger und der Nationalsozialismus) verteidigt haben, gehen inzwischen die Argumente aus. Thomas Assheuer kommentiert für DIE ZEIT:

Die Hefte sind ein philosophischer Wahnsinn und in einigen Abschnitten ein Gedankenverbrechen. Es gibt nun keine Beruhigung mehr. Die treuherzige Geschichte, Heidegger habe sich nur kurz, nur für einen Wimpernschlag der Weltgeschichte, vom Faschismus verführen lassen, ist falsch. Selbst dort, wo er zu Hitler auf Distanz ging, tat er es nicht aus moralischer Empörung; er tat es, weil er sich vom Regime mehr erhofft hatte. „Aus der vollen Einsicht in die frühere Täuschung über das Wesen des Nationalsozialismus ergibt sich erst die Notwendigkeit seiner Bejahung, und zwar aus denkerischen Gründen.“

Die Aufzeichnungen durchzieht eine rüde Kritik des Juden- und Christentums (zu Heideggers Abkehr vom Katholizismus siehe hier), aber auch das Eingeständnis, er habe in seinem Hauptwerk Sein und Zeit den einzelnen Menschen überschätzt. Heidegger hofft nun auf den totalitären Staat, erkennt jedoch bald, dass auch der Nationalsozialismus dem Sein nicht zum Durchbruch verhilft. Nur ein Gott kann uns noch retten, sollte er später sagen. Er meinte damit nicht den jüdisch-christlichen Gott, sondern den Gott eines neuen Heidentums, einen Gott, mit dem sich der Mensch solidarisiert.

Die Tatsache, dass genau der Philosoph, der neben Nietzsche den Eintritt in das spätmoderne oder postmoderne Denken maßgeblich mitbestimmt hat, die Menschen, insbesondere die Juden, zutiefst verachtet und den deutschen Staat vergöttert hat, wird Anlass dafür geben, das Erbe der hermeneutischen und existentialistischen Philosophie noch einmal genauer zu betrachten. Die Elite der Dekonstruktion, unter ihnen der aus Litauen stammende Emmanuel Levinas oder die Franzosen Michel Foucault und Jacques Derrida, steht in der denkerischen Schuld Heideggers.

Wer einen Eindruck von der Erschütterung haben möchte, die derzeit die Philosophenwelt erfasst, sollte sich die SWR2-Sendung „Heideggers ‚Schwarze Hefte‘“ anhören. Zur Gesprächsrunde gehören Prof. Dr. Micha Brumlik (Philosoph, Senior Advisor des Zentrums für Jüdische Studien, Berlin/Brandenburg), Prof. Dr. Rainer Marten (Philosoph, Universität Freiburg) und Prof. Dr. Peter Trawny (Philosoph, Herausgeber von Martin Heideggers „Schwarzen Heften“, Bergische Universität Wuppertal) sowie der Moderator Eggert Blum.

Hier:

Wider die digitale Scheinwelt

Der Schriftsteller Nicol Ljubic hat in einem ausgezeichneten DLF-Beitrag für das Leben im Realen plädiert. Leute, die sich wie er dafür entschieden haben, sozialen Netzwerken fernzubleiben, machen bereits die Erfahrung der sozialen Ausgrenzung. Ihnen wird der Eindruck vermittelt, sie gehörten nicht dazu. Ljubic fragt, ob hier nicht die digitale Welt mit der wirklichen verwechselt wird. Gibt es nichts Wichtigeres als das Netz?

Die Freiheit im Netz scheint für viele längst existentieller als die Freiheit im Leben jenseits des Netzes. Mir fällt kein anderes gesellschaftspolitisches Anliegen ein, für das sich junge Menschen in letzter Zeit so ins Zeug gelegt haben. Ich frage mich, ob das wirklich so gut ist für uns alle.

Da ist etwas dran. Der digitalen Welt wird zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Ich formuliere nachfolgend deshalb mal einige Empfehlungen für den Umgang mit Smartphones & Co.

(1) Ziehe das Gespräch von Angesicht zu Angesicht dem digitalisierten Austausch vor, insofern das möglich ist.

(2) Verzichte beim realen Gespräch auf die gleichzeitige Nutzung digitaler Geräte. Deine „Spielzeuge“ haben die Aufmerksamkeit, die du deinem Gesprächspartner schuldest, nicht verdient.

(3) Die Art und Weise, wie du deinen Tag beginnst, entscheidet über den Tagesverlauf mit. Wenn du gleich nach dem Aufwachen deine E-mails checkst oder die Kontostände prüfst, holst du dir den Stress zu früh ins Herz. Versuche, die kostbare erste Stunde mit wichtigeren Dingen zu füllen. Ich habe gute Erfahrungen mit fortlaufender Bibellektüre und einer Gebetszeit mit Dank- und Fürbitten gemacht.

(4) Was wir vor dem Einschlafen tun, beschäftigt uns oft noch im Schlaf. Das grenzenlose Surfen kann nicht nur mehrere Stunden Schlaf rauben, sondern auch die Reizverarbeitung im Schlaf stimulieren. Bedenke das bei dem, was du beim Einschlafen tust. Ich selbst schlafe mit einem gediegenen Buch, zum Beispiel mit einer Biographie, viel besser ein als mit einem Tablet.

(5) Achte darauf, dass die vielen Impulse, die du durch die digitalen Welten empfängst, nicht dein Denken destrukturieren. Denke selbst und sortiere entsprechend diesem Denken die Impulse ein oder aus. Das schützt vor Fremdbestimmung.

(6) Eine Welt, in der jeder erzählt, was er gerade tut oder fühlt, ist noch ärmer als eine Welt, die Anteilnahme nur simuliert. Kommuniziere auch von dir weg über Inhalte.

(7) Das Leben ist kurz. Deshalb handeln wir klug, wenn wir Wichtiges von Trivialem unterscheiden. Vieles, was durch das Netz geistert, ist nicht einmal trivial, sondern unnütz. Verschenke dein Herz nicht an das Unnütze.

(8) Worte sind wichtiger als bewegte Bilder. So unterhaltsam Filme auch sein mögen, sie können das Lesen nicht ersetzen. Ziehe die Lektüre dem entbehrlichen Glotzen vor.

(9) Plane Zeiten der Abstinenz ein. So entwickelst du ein Gefühl dafür, wie schön das Leben ohne diese Spielzeuge ist. Vielleicht zeigt dir die Lebendigkeit, die dadurch entsteht, dass Technik den Blick für das Wesentliche sogar versperren kann. Vielleicht wirst du sie gar nicht vermissen, diese digitale Scheinwelt.

Die Liste darf gern kritisiert und erweitert werden.

Leitkultur des Regenbogens

Der gestrige Tag hatte viel zu bieten. Wer sich dem Informationssturm der Medien nicht völlig entziehen konnte, wurde eindrucksvoll mit dem kulturellen Wandel konfrontiert, der unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten erfasst hat.

Was ist passiert?

Da spricht ein Sportler über seine sexuellen Präferenzen und erntet dafür den Respekt der Bundesregierung sowie eine mediale Aufmerksamkeit, von der ein Olympiasieger sein Leben lang nur träumen kann. Als ich heute Morgen bei Spiegel.de vorbeischaute, zelebrierten die ersten fünf Meldungen das „Coming-out“ eines Fußballspielers. Es ist, so wurde mir bekundet, „mutig, überfällig, wunderbar“. Wer das anders sieht, bekommt gleich eine Form der Angststörung unterstellt. Na gut.

Gleichzeitig rücken Politiker und die Presse den Initiator der Online-Petition „Kein Bildungsplan unter der Ideologie des Regenbogens“ derart ins Zwielicht, dass man den Eindruck bekommt, hier habe sich jemand strafbar gemacht, indem er als Bürger seine Meinungsfreiheit und das Mitspracherecht in Anspruch genommen hat. Die Grünen erkennen in der Petition „ein erschütterndes Maß an Homo- und Transphobie“. „Gegen den Initiator, einen Realschullehrer, gebe es inzwischen eine Strafanzeige und eine Dienstaufsichtsbeschwerde, sagte ein Sprecher des Kultusministeriums“, schreibt die ZEIT. Die Petition, so der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landesfraktion „birgt den Geist massiver Intoleranz und ist pädagogisch wie politisch unterste Schublade“.  „Lehrer hetzt gegen sexuelle Toleranz“, titelt der SPIEGEL.

Ach so? Heftige Vorwürfe stimulieren Neugier. Ich habe mir also die Petition gleich mal angeschaut. Und siehe da: Der Initiator grenzt sich eindeutig und glaubwürdig gegen die Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung ab. Wörtlich heißt es:

Wir unterstützen das Anliegen, Homosexuelle, Bisexuelle, Transgender, Transsexuelle und Intersexuelle nicht zu diskriminieren. Bestehende Diskriminierung soll im Unterricht thematisiert werden. Die „Verankerung der Leitprinzipien“ und der Aktionsplan „Für sexuelle Akzeptanz & gleiche Rechte Baden-Württemberg“ (2) schießen jedoch über das Ziel der Verhinderung von Diskriminierung hinaus. Das vorliegende Papier „Verankerung der Leitprinzipien“ und die Ankündigung die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ in ähnlicher Weise in den Bildungsstandards der einzelnen Fächer zu verankern, zielt für uns auf eine pädagogische, moralische und ideologische Umerziehung an den allgemeinbildenden Schulen.

Von Homophobie also keine Spur! Die Petition wendet sich lediglich gegen die Vereinnahmung der Schulkinder durch die einseitig interessengeleitete „Aufklärungsarbeit“. Eine heute nachgeschobene Pressemitteilung macht zudem deutlich, dass die Initiative den pädagogischen Ansatz sehr wohl durchleuchtet hat. Dort ist zu lesen:

Verschiedene Lebensentwürfe sind in einer pluralistischen Gesellschaft selbstverständlich. Es gibt dem, dass diese im Unterricht thematisiert werden, nicht das Geringste entgegenzusetzen. Schon heute ist die Behandlung des Themas Familie & Lebensentwürfe in Fächern wie Biologie, Gemeinschaftskunde oder Ethik Normalität. Nach den Leitprinzipien soll die „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ in der Sekundarstufe I vermittelt werden. Die LSBTTIQ- Interessensvertreter wollen „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ weiter gefasst sehen. Diese soll „spiral-curricular“ vermittelt werden, das heißt: von der kleinkindlichen Bildung bis zum Abitur in allen Altersstufen und über alle Fächer hinweg. Das würde einen Paradigmenwechsel in der Sexualerziehung darstellen, der das gute Miteinander von Schule und Elternhaus beendet. Wenn die Leitprinzipien so durchgehen, wie sie geschrieben sind, können die LSBTTIQ-Interessensvertreter ihre Agenda – wie bisher am Beirat vorbei – in allen Kompetenzformulierungen der Fächer unterbringen.

Weiterhin fehlt eine Kompetenzformulierung, wie aufrichtige Toleranz gelehrt wird und was „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ konkret bedeutet. Akzeptanz stellt ein zustimmendes Werturteil dar. Indem jemand etwas akzeptiert, heißt er es für gut, billigt es und geht auf die inhaltlichen Forderungen des Gegenübers ein. Akzeptanz schreibt die inhaltliche Positionierung der Schülerinnen und Schüler fest. Ihnen steht die Wahl eines persönlichen Werturteils nicht offen. Demgegenüber bedeutet Toleranz, dass Menschen mit unterschiedlichen Haltungen, Wertevorstellungen, etc. respektiert werden. In dem Werturteil, das man trifft, kann man inhaltlich aber einen anderen Standpunkt einnehmen. In der Akzeptanzforderung der Leitprinzipien wird die begründete Gefahr deutlich, dass der Bereich der Freiheit hin zur Unfreiheit überschritten wird.

Wenn die Forderungen der Landtagsfraktion der Grünen zum Bildungsplan 2015 durchgesetzt werden, müssen Lehrkräfte zukünftig auch irrationale Gender- Theoriekonstrukte unterrichten. Hier stellt sich die Grundsatzfrage, wie es die Landesregierung mit dem Wissenschaftsprinzip in Schule, Unterricht und Lehrerbildung hält. Zudem sind die Forderung nach „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ auf ihre Übereinstimmung zum Grundgesetz und dem Erziehungsauftrag der baden-württembergischen Landesverfassung zu überprüfen.

Das ist sachlich, nachvollziehbar und verdient Zustimmung!

Um das Jahr 2000 herum gab es in Deutschland eine Debatte um das Thema „Leitkultur“. Der Begriff, der von dem muslimischen Politologen Bassam Tibi in die politikwissenschaftliche Debatte eingeführt wurde, sollte einen gesellschaftlichen Wertekonsens beschreiben. Der Streit um die kulturelle Identität wurde damals reflexartig abgewürgt. Tage wie der 8. Januar 2014 erwecken den Eindruck, dass wir freilich doch eine Leitkultur bekommen. Vor allem diejenigen, die damals vor einer Leitkultur-Diskussion gewarnt hatten, zwingen uns nun intelligent und im Verbund mit mächtigen Medieninstitutionen eine Kultur auf, die von den Interessen einiger elitärer Minderheiten bestimmt ist. Wer anders denkt, wird schnell mal wegen Verunglimpfung einer bestimmten Personengruppe oder wegen Volksverhetzung angezeigt.

Das Verfahren gegen den Initiator wurde – wie die STUTTGARTER ZEITUNG heute meldet (09.01.2014, S. 6) – übrigens eingestellt. Die Prüfung habe ergeben, dass die Äußerungen der Petition durch das Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt seien.

Ich bin für die Aufregung des gestrigen Tages gar nicht so undankbar. Sie gab mir den Anstoß, die Petition „Kein Bildungsplan unter der Ideologie des Regenbogens“ heute zu unterzeichnen.

Die dunklen Seiten Mandelas

Ich lese derzeit eine umfangreiche Biographie über Wladimir Iljitsch Lenin. Das Buch wurde vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPDSU herausgegeben (Marxistische Blätter, Frankfurt a.M., 1976). Es strotzt vor Heldenverehrung. Am laufenden Band quäle ich mich durch Behauptungen wie: „Im Hause Uljanow herrschte stets Eintracht und Liebe“ (S. 20).

Eine ähnliche Heldenverehrung begegnet mir dieser Tage in der Berichterstattung über Nelson Mandela. Die Bewunderung für den „Held der Freiheit“ (Spiegel) erweckt fast den Eindruck, wir hätten es mit einem Messias zu tun. J.M. Coetzee spricht vom „letzten große Mann“.

Sogar christliche Agenturen überschlagen sich mit Komplimenten. „Nelson Mandela: ‚Gigant des 20. Jahrhunderts‘“, titelt beispielsweise das Medienmagazin pro. Bei Livenet.ch ist zu lesen: Zum Tod von Nelson Mandela: „Wir sind geboren, um Gottes Glanz zu zeigen“.

Auch wenn es pietätlos erscheinen mag: Mich ärgert diese naïve Medienhörigkeit ungemein.

Damit es keine Missverständnisse gibt: Natürlich war und ist die Rassentrennung ein Übel. Hoffentlich freuen wir uns darüber, dass Mandela in Südafrika zusammen mit vielen anderen auf ihre Überwindung hingewirkt hat und für Versöhnung eintrat. Müssen wir ihn deshalb wie einen Helden verehren? Er war kein Held, schon gar kein Held der Freiheit. Und so will ich hier auf einige Beiträge verweisen, die die Schattenseiten Mandelas erörtern:

1.) Mandelas ANC (African National Congress, gehört zur sozialistischen Internationale) war eine pro-sowjetische Partei. Sie unterstützte die sowjetische Invasion in Ungarn 1956 und die sowjetische Invasion in der Tschechoslowakei 1968.

2.) Nelson Mandela lobte persönlich die Diktaturen Libyen, Kuba, Palästina unter Arafat und die theokratische Diktatur des Iran. Nun möchte der Iran eine Straße nach Mandela benennen.

3.) 1962 wurde eine Schrift von Mandela namens „Wie man ein guter Kommunist ist“ gefunden, die auf dem stalinistischen Text „Wie man ein guter Kommunist ist“ (1939) von Liu Shaoqi (Staatschef unter Mao Zedong) beruht. Darin fordert er eine Orientierung an Lenin und Stalin.

4.) Nelson Mandela forderte 2002, dass sich alle Staaten dem Diktat der Vereinten Nationen beugen müssten. „Kein Land, egal wie friedlich es sein mag, hat das Recht, unabhängig von der UN zu handeln.“ Kein demokratisches Land soll also das Recht haben, irgendetwas zu tun, bevor es eine Bande von Gangstern, Mördern, islamistischen Klerikern, Anti-Semiten, Rassisten, kommunistischen Tyrannen und völkermordenden Diktatoren um Erlaubnis bittet.

Mehr ist hier zu finden: www.feuerbringer-magazin.de.

Gesetz und Evangelium

Frei nach Luther stelle ich fest (vgl. Galaterbriefauslegung zu 3,19):

Es breitet sich ein wundersames Schweigen über den Unterschied von Gesetz und Evangelium in vielen Schulen und Gotteshäusern aus. Diese Tatsache bringt die Gewissen in die größte Gefahr. Wenn nämlich Gesetz und Evangelium nicht klar unterschieden werden, kann die christliche Lehre nicht unverletzt behalten werden. Wenn aber diese Unterscheidung erkannt ist, wird die wahre Art der Rechtfertigung erkannt. Dann ist es leicht, den Glauben von den Werken zu unterscheiden, Christus von Mose, auch von Obrigkeit und allen zivilen Gesetzen.

Weder Mann noch Frau

Der sympathische Heinz-Jürgen Voß beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Dekonstruktion binärer Geschlechterdifferenz und möchte den postmodernen Gendertheorien eine biologische Verankerung zuschreiben. Kurz: Judith Butler geht mit ihrer Konstruktion des sozialen Geschlechts nicht weit genug. In einem Beitrag für die marxistisch–feministisch–linksradikale Zeitschrift ak – analyse & kritik, die Zeitung für linke Debatte und Praxis schreibt Voß (Nr. 547 vom 19.2.2010):

Die im folgenden dargelegte Kritik an Butlers Ansatz bezieht sich jedoch darauf, dass er nicht weitreichend genug ist. Butler verblieb auf der Ebene von „Erscheinungen“, auf der Ebene performativer Herstellung. Butler führte exzellent aus, dass Merkmale, dass Körper erst in Gesellschaft gelesen werden und dass damit geschlechtliche Deutungen auch gesellschaftliche sind. Diese These ist durch die historischen Arbeiten von Thomas Laqueur, Londa Schiebinger und Claudia Honegger gut belegt – so wandelten sich zeitlich die körperlichen (physiologischen und anatomischen) Merkmale, die als geschlechtlich gelesen wurden. Lange Zeit wurden weibliche und männliche Zeugungsstoffe gleichermaßen als „Samen“ beschrieben, z.T. mit Unterscheidung der Qualität; sie wurden allerdings nicht als binär und gegensätzlich wahrgenommen, wie es heute oftmals geschieht.

Mit der Betonung performativer Akte erscheinen Deutungen als gesellschaftlich, allerdings bleiben Körper und Organe – vermeintlich vorhandene Materialität, die anfassbar sei – unangetastet. Auch mit Butlers Ausführungen bleiben in der öffentlichen – populären und wissenschaftlichen – Debatte „Gebärmutter“, „Vagina“, „Klitoris“, „Eierstock“, „Penis“, „Hodensack“, „Hoden“ Bezeichnungen für scheinbar sichere, tatsächlich vorhandene Organe, die zur gut begründeten Einteilung von Menschen in „Frauen“ und „Männer“ bei wenigen „Abweichungen“ herangezogen werden könnten. Die derzeitige gesellschaftliche Deutungsweise von körperlichen Merkmalen als binär-geschlechtliche erscheint als selbstverständliche, die sich beim Lesen der „natürlichen Vorgegebenheiten“ aufdränge.

Die Entwicklung der Geschlechterdifferenz wird von Voß marxistisch als ein „gesellschaftliches Produkt“ interpretiert. Die binäre Unterscheidung von männlich und weiblich dient der Verfestigung von kapitalistischen Unterdrückungsstrukturen. Sie gaukeln uns Menschen Sicherheit und Eindeutigkeit vor, stehen jedoch tatsächlich der Wahrnehmung ureigenster Bedürfnisse im Weg. Also (Heinz-Jürgen Voß: „Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft!“, Soziologie Magazin, 1/2013, Jg. 6, S. 87–91, hier S. 88–89):

Produkte, Institutionen, Kategorien führen bereits von eigentlichen Bedürfnissen von Menschen weg – und führen letztlich dazu, dass wir als Menschen gar nicht (mehr) in der Lage sind, unsere Bedürfnisse außerhalb von Produkten, Institutionen und Kategorien zu formulieren. Bezogen auf Geschlecht heißt dies, dass wir gar nicht in der Lage sind, unsere Begehrensweisen, unsere vielfältigen Bedürfnisse auf Menschen zu richten, ohne diese Menschen zuvor in ein Korsett „weiblich“ oder „männlich“ zu zwängen.

Für die Befreiung des Menschen ist die Entkategorisierung des Geschlechts damit ein Politikum (Heinz-Jürgen Voß: „Biologisches Geschlecht ist ein Produkt von Gesellschaft!“, S. 91):

„Geschlecht“, auch „biologisches Geschlecht“ wird damit einmal mehr als gesellschaftliches Produkt augenscheinlich. „Geschlecht“, auch „biologisches Geschlecht“ ist wandelbar und es rückt so auch die Möglichkeit einer Gesellschaft ohne „Geschlecht“ in den Bereich des Denkbaren. Zumindest gibt es keinen, aber auch gar keinen Grund an „Geschlecht“, dieser gesellschaftlichen Kategorie/Institution, mit der historisch so viel Diskriminierung, Benachteiligung, Bevorteilung, Leid verknüpft war, weiterhin festzuhalten! Und ein Abgehen von „Geschlecht“ ermöglicht uns, Wahrnehmungen und Begehren vielfältiger auszurichten …

Der Sozialwissenschaftler ist inzwischen auch in der Evangelischen Kirche angekommen. In der aktuellen Ausgabe von Chrismon ist zu lesen, dass die Theorie der biologischen Zweiteilung auf die Nazis zurückgeht und unsere Welt viel schöner wäre, gäben wir diese Unterscheidung auf. Voß: „Das Geschlecht hätte einen Stellenwert wie heute das Sternzeichen oder ob ich Tiere mag. Man kann danach fragen, aber es ist nicht wirklich von Bedeutung“ (Chrismon, September 2013, S. 7).

Da wir nun schon mal bei dem Thema „Geschlechterkonstruktion“ sind, empfehle ich den Beitrag „Das Tabu der Gender-Theorie – Geisteswissenschaftliche Geschlechterforschung und die Biologie“ von Ferdinand Knauß (aus: Helmut Fink und Rainer Rosenzweig (Hg.): Mann, Frau, Gehirn: Geschlechterdifferenz und Neurowissenschaft, 2011, S. 115–132). Der Aufsatz, der online einsehbar ist und übrigens auch kurz das Voß-Argument kritisiert, zitiert im Epilog eine renommierte Philosophin mit folgenden Worten:

„’Naturalismus’, ‚Ontologisierung’, ‚Essentialismus’ und ‚Biologismus’ … fungieren inzwischen geradezu als Denkverbote. Jeder Versuch, anthropologische Konstanten auch nur als Grenzwerte für Transformationsprozesse zu bestimmen, jeder Versuch zu reflektieren, was es für Menschen bedeutet, sich ebenso wie Tiere fortpflanzen zu müssen (wenn sie sich denn überhaupt fortpflanzen wollen), und jeder Versuch, die Geschlechterdifferenz philosophisch zu reflektieren, ohne sie vorab als reines Konstrukt zu setzen, kann damit bereits unter Ideologieverdacht gestellt werden.“

VD: JS

Wofür ist die Kirche da?

Die AfeM-Jahrestagung am 4. und 5. Januar 2013 stand unter dem Thema „Transformationstheologie“. Zu den Referenten gehörten Befürworter klassischer Evangelisation und Mission sowie Vertreter der sogenannten „transformativen Theologie“. Da hier im Blog immer wieder über die Frage der Transformation diskutiert wird (vgl. hier), stelle ich meinen eigenen Vortrag nun ins Netz. Ich sollte der Frage nachspüren, ob es Überschneidungen zwischen der Theologie aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den neueren evangelikalen Entwicklungen gibt. Den sehr gedrungenen Redestil bitte ich zu entschuldigen. Die Referenten hatten eine Redezeit von jeweils zwölf Minuten. Da liegt die Würze in der Kürze.

Hier also: „Wofür ist die Kirche da? Anfragen an die transformative Eschatologie“:
Transformation2013_AfeM-Web.pdf.

Erettete Jesus Israel aus Ägypten?

Die 28. Auflage des Nestle-Aland (NA28) ist seit einigen Monaten auf dem Markt (siehe hier). Das neue Griechische Testament bietet einen überarbeiteten textkritischen Apparat und integriert die bisherigen Ergebnisse der Arbeit an der „Editio Critica Maior“ (ECM).

Die ECM ist eine umfängliche kritische Ausgabe des griechischen Neuen Testaments, die vom Institut für Neutestamentliche Textforschung in Münster verantwortet wird. Bis 2030 soll das Projekt, das von der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften subventioniert wird, abgeschlossen sein. Die Untersuchung der sogenannten „Katholischen Briefen“ (Jakobusbrief, Petrusbriefe, Johannesbriefe, Judasbrief) ist sehr weit fortgeschritten und wurde deshalb in der 28. Ausgabe des Novum Testamentum Graece berücksichtigt (siehe dazu hier: www-user.uni-bremen.de).

Der Grundtext hat sich gegenüber der 27. Auflage an insgesamt 34 Stellen geändert. Die meisten Revisionen sind von geringfügiger Bedeutung. Eine Liste mit allen Änderungen zwischen NA27 und NA28 gibt es bei Bibel-Works.

Eine NA28-Lesart ist allerdings bemerkenswert und so möchte ich kurz darauf eingehen. Es betrifft den Judasbrief, der – dies nebenbei – meines Erachtens heute zu wenig Beachtung findet (Wer hat mal eine Predigt zum Judasbrief gehört?).

Worum geht es? In den meisten deutschsprachigen Ausgaben heißt es in Judas 1,3–9 (Züricher Übersetzung):

„Es haben sich nämlich gewisse Leute bei euch eingeschlichen, über die das Urteil in der Schrift schon lange voraus gefällt wurde: Gottlose sind sie, die die Gnade unseres Gottes ins Gegenteil verkehren, in bare Zügellosigkeit, und die den einzig wahren Herrscher, unseren Herrn Jesus Christus, verleugnen. Ich will euch — obwohl ihr dies alles schon wisst — daran erinnern, dass der Herr das Volk zwar ein für alle Mal aus dem Land Ägypten gerettet, die aber, die ihm ein zweites Mal keinen Glauben schenkten, der Vernichtung preisgegeben hat. Auch die Engel, die die Grenzen ihres Herrschaftsbereichs nicht eingehalten hatten, sondern ihre Wohnstätte verließen, hält er mit ehernen Fesseln in der Unterwelt fest für den großen Tag des Gerichts. Ja, Sodom und Gomorra und die umliegenden Städte, die auf ähnliche Weise Unzucht getrieben haben und andersartigem Fleisch hinterhergelaufen sind, stehen als abschreckendes Beispiel vor aller Augen: Sie erleiden die Strafe ewigen Feuers. Auf ähnliche Weise freilich beschmutzen auch diese Träumer das Fleisch, sie missachten die Autorität des Herrn und lästern die himmlischen Majestäten.“

Mir geht es um den Vers 1,5: „Ich will euch — obwohl ihr dies alles schon wisst — daran erinnern, dass der Herr das Volk zwar ein für alle Mal aus dem Land Ägypten gerettet, die aber, die ihm ein zweites Mal keinen Glauben schenkten, der Vernichtung preisgegeben hat.“

Egal, ob die deutschen Übersetzungen auf dem Textus receptus oder auf dem NA26/NA27 beruhen: der HERR hat sein Volk aus dem Land Ägypten gerettet (NA27: πάντα ὅτι [ὁ] κύριος ἅπαξ). Im NA28 heißt es nun, dass Jesus sein Volk aus dem Land Ägypten gerettet hat (N28: ἅπαξ πάντα ὅτι Ἰησοῦς).

Das Komitee, das den Text des NA26 bzw. des Greek New Testaments verantwortete, war sich dessen bewusst – wie Bruce M. Metzger in seinem textkritischen Kommentar hinsichtlich der Urteilsfindungen erhellend schreibt (A Textual Commentary on the Greek New Testament, 1975, S. 723–724) –, dass die Lesart „Jesus“ durch Handschriften stärker bezeugt ist (A, B, 33, 81, 322, 323, 434, …). Dennoch hat sich eine Expertenmehrheit gegen die Lesart entschieden, weil sie als theologisch schwierig bis unmöglich gilt und der Autor des Judasbriefes den Namen „Jesus“ sonst immer nur in Verbindung mit „Christus“ verwendet (vgl. Judas 1,1.4.17.21.25). Streng genommen hat die Kommission damit gegen eine Regel verstoßen, die sie sonst selbst lehrt, nämlich dass im Zweifel die schwierigere Lesart vorzuziehen sei (lectio difficillior).

Der NA28 wählt nun das stärker bezeugte „Jesus“, welches sich übrigens schon in der lateinischen Vulgata findet. Die ESV, die auf einer kritischen Rezeption des NA27 beruht, hatte sich bereits 2001 für die Variante mit Ἰησοῦς entschieden und übersetzt: „… Jesus, who saved a people out of the land of Egypt, afterward destroyed those who did not believe.“

Einerseits fällt diese Lesart nicht sonderlich ins Gewicht. Schon in Vers 4 bezeichnet Judas (vgl. 1,1) diejenigen, die den einzig wahren Herrscher, unseren Herrn Jesus Christus, verleugnen, als Gottlose. Da Jesus dort „Herr“ genannt wird (κύριον ἡμῶν Ἰησοῦν Χριστὸν), liegt es auf der Hand, dass „Herr“ (κύριος) in Vers 5 ebenfalls auf den präexistenten Jesus verweist. Insgesamt bezeichnet Judas sogar vier Mal Jesus als „Herrn“ (V. 1,4.17.21.25). Hinzu kommt, dass die Verfasser neutestamentlicher Schriften außerhalb alttestamentlicher Zitate eher selten mit dem Begriff „Herr“ auf Gott referenzieren.

Andererseits ist die Aussage von V. 5 univok trinitarisch, wenn dort tatsächlich „Jesus“ zu lesen ist. Vergegenwärtigen wir uns kurz den Zusammenhang.

Judas ermahnt seine Leser, für den einen Glauben zu kämpfen, der „den Heiligen ein für alle Mal überliefert worden ist“ (V. 3). Es gibt etliche Leute, die die Gnade Gottes mit Zügellosigkeit vertauschen und Gott als Herrscher verleugnen. Um zu zeigen, dass auf die Verführer das Gericht wartet, erinnert Judas an den Auszug aus Ägypten (V. 5), auf Engel, die ihre Kompetenzen überschritten haben (V. 6) und auf die sexuelle Unmoral in Sodom und Gomorra sowie in den umliegenden Städten (V. 7). So, wie diese Ungehorsamen das Gericht trifft, wird auch die Verführer, die sich in die Gemeinden einschleichen, das Gericht treffen.

Im ersten Beispiel rettet Gott sein auserwähltes Volk aus Ägypten und vernichtet diejenigen, die ihm nicht vertrauten. Das ist ein Verweis auf 4 Mose 14,20–24, wo es heißt:

„Doch so wahr ich lebe und die ganze Erde der Herrlichkeit des HERRN voll werden soll: Alle Männer, die meine Herrlichkeit und meine Zeichen gesehen haben, die ich in Ägypten und in der Wüste getan habe, und die mich nun schon zehnmal auf die Probe gestellt und nicht auf meine Stimme gehört haben, werden das Land nicht sehen, das ich ihren Vorfahren zugeschworen habe, und alle, die mich verachten, werden es nicht sehen. Meinen Diener Kaleb aber, bei dem ein anderer Geist war und der treu zu mir gehalten hat, werde ich zum Lohn dafür in das Land bringen, in dem er gewesen ist, und seine Nachkommen sollen es in Besitz nehmen.“

Die große Volkesmenge missachtet das Wirken Gottes und wird deshalb vom Einzug ins verheißene Land ausgeschlossen. Nur Kaleb und Josua nehmen das Land ein, da sie sich vom Geist Gottes leiten ließen und treu waren.

Das zweite Beispiel geht wahrscheinlich auf 1Mose 6 zurück. Die Engel haben unberechtigterweise ihren Herrschaftsbereich verlassen und werden „in Fesseln der Finsternis“ im Abgrund für das endgültige Gericht aufbewahrt (vgl. 2Petr 2,4).

Wer ist nun derjenige, der die Israeliten aus der Gefangenschaft errettete und die Ungehorsamen der Vernichtung preisgab? Wer hält die Engel mit ehernen Fesseln in der Unterwelt fest für den großen Tag des Gerichts? Gemäß der NA28-Lesart führt kein Weg an demjenigen vorbei, der eines Tages kommen wird, um „Lebende und Tote zu richten“ (2Tim 4,1): Jesus.

Die Wurzeln der Emerging Church-Bewegung

Jutta hat unter dem Beitrag über Rob Bells Die Liebe siegt? auf eine Dokumentation über die Wurzeln der Emerging Church-Bewegung verwiesen. Ich habe mir den Film angeschaut und empfehle ihn ebenfalls, insbesondere wegen der vielen O-Ton-Zitate.

In der Dokumentation wird Jürgen Moltmann als großer Inspirator für die emergente Theologie vorgestellt. In meinen kurzen Vortrag „Wofür ist die Kirche da?: Anfragen an die transformative Eschatologie“ (AfeM-Tagung am 5. Januar 2013) bin ich zu einem ähnlichen Urteil im Blick auf die (emergente) Theologie der Transformation gekommen. Hier ein Auszug:

– – –

Vor knapp 30 Jahren war ich als Sachbearbeiter beim 21. Evangelischen Kirchentag in Düsseldorf angestellt. Damals hieß der Vorsitzende und Kirchentagspräsident Wolfgang Huber. Das Ereignis stand unter der Losung: „Die Erde ist des Herrn“. Gemeint war vor allem: „Die ganze Erde ist des Herrn“. Die Veranstaltung stand noch unter dem Eindruck einer Theologie der Hoffnung für die Welt.

Es war eine Zeit des Übergangs. Die in der Nachkriegszeit dominierenden existentialen (Bultmann) und neo-orthodoxen (Barth) Interpretationen des Evangeliums wurden von der in den 60er Jahren aufkommenden politischen und feministischen Theologie abgelöst. Bahnbrechend für die Entwicklung einer politischen Theologie waren die Arbeiten von Jürgen Moltmann, insbesondere seine Theologie der Hoffnung aus dem Jahre 1964.

Moltmann wandte sich gegen die – wie er es nannte – „transzendentale Eschatologie“ (Theologie der Hoffnung, 11. Aufl., München: 1980, S. 38ff.) und warb für ein Offenbarungsverständnis, das offen ist für die Verheißungsaussagen, die sich nicht jenseitig, sondern in der Geschichte erfüllen. Seiner 1995 erschienenen Eschatologie gab er den Titel: Das Kommen Gottes (Das Kommen Gottes, München: Kaiser, 1995). Gott kommt weder in einem zeitlosen oder übergeschichtlichen Sinne, noch am Ende der Geschichte. Die Welt ist ein offener Prozess, in welchem das Heil und die Vernichtung der Welt auf dem Spiel stehen. „Offenbarung, als Verheißung erkannt und in Hoffnung ergriffen, begründet und eröffnet damit einen Spielraum von Geschichte, der von der Sendung, von der Verantwortung der Hoffnung, durch Annahme des Leidens am Widerspruch der Wirklichkeit und durch Aufbruch in die verheißene Zukunft erfüllt ist“ (Theologie der Hoffnung, 1980, S. 76).

Moltmann fordert eine handlungsfähige Theologie. Karl Marx schrieb 1845 in seinen Thesen über Feuerbach: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt darauf an, sie zu verändern“ (Karl Marx, Thesen über Feuerbach, 1845, MEW 3, S. 7). Moltmann artikulierte knapp 120 Jahre später: „Für den Theologen geht es nicht darum, die Welt, die Geschichte und das Menschsein nur anders zu interpretieren, sondern sie in der Erwartung göttlicher Veränderung zu verändern“ (Theologie der Hoffnung, 1980, S. 74). Auf der Weltmissionskonferenz in Bankok 1972/1973 wirkte Moltmann an der Formulierung eines ganzheitlichen Heilsverständnisses mit: „Ganzheitlich verstanden wird das Heil der Welt durch eine das ganze Leben umfassende Mission der Christenheit bezeugt.“ Er sprach von vier sozialen Dimensionen des Heils: „1. Das Heil wirkt im Kampf um wirtschaftliche Gerechtigkeit gegen die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen; 2. Das Heil wirkt im Kampf um die Menschenwürde gegen politische Unterdrückung durch Mitmenschen; 3. Das Heil wirkt im Kampf um Solidarität gegen die Entfremdung des Menschen; 4. Das Heil wirkt im Kampf um die Hoffnung gegen die Verzweiflung im Leben des Einzelnen“ (in: J. Moltmann, Ethik der Hoffnung, 2010, S. 56).

Inspiriert wurde Moltmann von dem Marxisten Ernst Bloch (1855–1977) sowie von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule, insbesondere durch Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno (1903–1969) (vgl. Jürgen Moltmann, Der gekreuzigte Gott, 2. Aufl., München, 1973, S. 10). Seine „Messianische Ethik“ wurde darüber hinaus durch die amerikanischen Bürgerrechtsbewegungen und Martin Luther King angestoßen. Bezug nehmend auf Kings Traum konzipierte Moltmann die Hoffnung auf eine Welt mit gleichen Lebensverhältnissen für alle und der lebensförderlichen „Gemeinschaft der Menschen mit allen Lebewesen auf der Erde“ (Ethik der Hoffnung, Gütersloh: 2010, S. 54).

Die Weltkirchenkonferenz in Uppsala (1968) bezeichnete die Verbindung zwischen einer verheißenen Zukunft und einer erfahrenen Ankunft der Neuschöpfung aller Dinge als „Vorwegnahme des Reiches Gottes“. Im Hintergrund dieser Formulierung steht die Bloch’sche Utopie von der Umkehrung der objektiven Verhältnisse durch die Vorwegnahme des Zukünftigen (vgl. Ethik der Hoffnung, 2010, S. 54).

Heute bündelt Jürgen Moltmann diese handlungsfähige Theologie unter dem Begriff einer „Transformativen Eschatologie“. Diese Eschatologie unterscheidet sich von der lutherischen, reformierten oder täuferischen, da sie das ethische Prinzip der Weltverantwortung aufnimmt (vgl. Ethik der Hoffnung, 2010, S. 60). „Sie leitet zum transformativen Handeln an, um nach Möglichkeiten und Kräften die Neuschöpfung aller Dinge vorwegzunehmen, die Gott verheißen und Christus in Kraft gesetzt hat (Ethik der Hoffnung, 2010, S. 60) „Sie arbeitet an einer entsprechenden Umwertung der Werte dieser Welt, um der kommenden Welt Gottes gerecht zu werden“ (Ethik der Hoffnung, 2010, S. 58). „Die Befreiung der Unterdrückten, die Aufrichtung der Erniedrigten, die Heilung der Kranken und die Gerechtigkeit der Armen sind die bekannten und praktikablen Stichworte dieser transformativen Ethik“ (Ethik der Hoffnung, 2010, S. 60).

Beim Studium der neueren transformatorischen Literatur ist mir bisher nichts begegnet, was die Ethik der Hoffnung Moltmanns einholen könnte. Hinter Slogans wie „Die Welt umarmen“, „Höchste Zeit, umzudenken“, „Die Welt verändern“, „Geliebte Welt“ oder „Jesus, der König“ verbirgt sich wesentlich eine „Theologie der Hoffnung“ für Evangelikale. „Evangelisation ist nicht nur Verkündigung, sondern auch soziale Aktion und ist es immer gewesen“, schrieb Moltmann 1974, als er über die „Aufgaben christlicher Theologie heute“ nachdachte (J. Moltmann, Das Experiment Hoffnung, München, 1974, S. 18).

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Hier nun die Dokumentation:

Familienauflösung

An was werden wir in einigen Jahren denken, wenn wir auf den Namen Nikolaus Schneider stoßen? Mir wird wahrscheinlich einfallen, dass unter seiner Ägide die EKD ethische Entscheidungen getroffen hat, die in eklatanter Weise von den Aussagen der Heiligen Schrift und der kirchlichen Bekenntnisschriften abheben. Also an das „wahrhaft epochale“ Pfarrerdienstgesetz der EKD aus dem Jahr 2010 und an den groben Umschwung, der durch ein Familienpapier angestoßen wird, das morgen der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll (vgl. auch hier).

In der Orientierungshilfe fordert die EKD die Bundesrepublik Deutschland auf, eine neue Familienpolitik einzuleiten, da das „bisherige wohlfahrtsstaatliche Arrangement mit seiner traditionellen Familienverfassung“ eine geschlechterhierarchische Arbeitsteilung voraussetzt. Ebenso sieht sich die Kirche in der Pflicht, nun „Familie neu zu denken“. Die Vielfalt der Lebensformen, in denen heute Partnerschaft gelebt werde, sei in „theologischer Hinsicht“ als gleichwertig anzuerkennen.

Um es klar zu sagen: Die Kirche knüpft damit nicht nur an gesellschaftliche Prozesse an, um modern zu erscheinen, sie selbst fordert und fördert die Auflösung des christlichen Familienbegriffs.

Reinhard Bingener hat in der FAZ darauf aufmerksam gemacht, dass an dem Papier ein erstaunlicher Umgang mit der Bibel erkennbar wird. Bibelstellen, die dem Anliegen der verantwortlichen Autoren widersprechen, werden „im Licht der befreienden Botschaft des Evangeliums“ schlicht neu interpretiert (FAZ vom 18.06.2013, Nr. 138, S. 8). Ich füge hinzu: Die Autoren haben keine Skrupel, dabei die biblischen Texte gegen ihren Wortsinn zur Stützung eigener Interessen zu vergewaltigen. Sie machen sich noch nicht einmal die Mühe, ihre Neuinterpretationen exegetisch zu rechtfertigen.

Matthias Kamann stellt für DIE WELT heraus, dass in dem Familienpapier gar nicht mehr überzeugend versucht werde, auf die Verbindlichkeit der Ehe zu setzen:

Doch wird auf den 160 Seiten, in denen sich die ganze Vielfalt und auch Unsicherheit des neueren protestantischen Ehe- und Familienverständnisses niederschlägt, gar nicht erst versucht, die lebenslange Treue von Ehepaaren und Eltern mit normativer Kraft auszustatten. Unentschieden heißt es: „Die Kirchen unterstützen Familien in ihrem Wunsch nach gelingender Gemeinschaft, sie begleiten sie aber auch im Scheitern und bei Neuaufbrüchen.“ Wer erwarten würde, dass der Glaube – als Anerkennung von Ansprüchen jenseits des irdischen Wandels – auch verbindlichere Maximen setzen könnte, der liest hier von einer „Freiheit mit Umgang mit gesellschaftlichen Veränderungen, die angesichts der Herausforderungen der eigenen Zeit immer wieder neu bedacht und oft erst errungen werden muss.“

Ich hoffe, dass evangelische Christen angesichts solcher desaströsen Entwicklungen nicht einfach still und leise aus der Kirche austreten, sondern im Namen von Bibel, Bekenntnis und dem Herrn der Kirche vernehmbaren Widerstand leisten. Dort, wo Kirchenleiter in offensichtlicher und willentlicher Weise das Wort Gottes durch eigene Rede dämpfen und verdrehen, sind sie zur Umkehr zu rufen. Wer das Gebot, das von Gott kommt, nicht anerkennt, wird auch von Gott nicht erkannt (vgl. 1Kor 14,38, siehe a. Offb 2-3).

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