Luther und die Autorität der Schrift

Heinrich Karpp beschreibt Luthers Weg zum Schriftprinzip wie folgt (Schrift, Geist und Wort Gottes, 1992, S. 146–147):

Fassen wir die wichtigsten Schritte auf Luthers Weg ins Auge. Eifrige Lektüre der Bibel gehörte selbstverständlich zu seinen Pflichten im Erfurter Kloster. Die kursorische Auslegung oblag ihm, als er 1509 an der Wittenberger Universität Baccalaureus biblicus wurde; danach hatte er Dogmatik zu lehren. Als Professor widmete er sich seit 1513 ausschließlich – das war eine Neuerung – der Exegese. Kenntnisse der hebräischen, später auch der griechischen Sprache und die Benutzung der neuesten wissenschaftlichen Hilfsmittel machten ihn zunehmend selbständiger gegenüber der Auslegungstradition; vollends taten dies einige neue theologische Erkenntnisse.

Schon früh wurde ihm bewußt, daß Gott seine Gnade ohne menschliche Leistungen und Verdienste schenken wolle; doch war das nur, wie er später einmal sagte (WA 54,183,27), „der Anfang (primitiae) der Erkenntnis Christi und des Glaubens an ihn“. In der Psalmenvorlesung von 1513-15 erklärte er schon, die Schrift bezeichne mit Gottes „Gerechtigkeit’u nicht nur seine Eigenschaft beim Richten, sondern auch seine Gabe an den Menschen. Beide Einsichten konnte man auch bei älteren Exegeten, besonders bei Augustin finden, aber die Scholastik hatte ihnen wenig Einfluß auf ihre von der Philosophie bestimmte Dogmatik verschafft (s. § 7, III, 1).

Bei der Auslegung des Römerbriefes (1515-16) trug Luther seinen Hörern als eine neue, aus der Bibel (Ps 32,1 f.) und den alten (also nicht den mittelalterlichen) Vätern gewonnene Erkenntnis zu Röm 4,7 f. vor, das Heil bestehe im Nichtzurechnen, d. h. in einem Urteil Gottes, nicht in einer Umwandlung des sündigen in einen gerechten Menschen, der das Gesetz erfüllen könnte.

Da der Mensch gerecht wird durch Gottes Verheißung und den eigenen Glauben, gleicht seine Gerechtigkeit der Heilung eines Kranken (die offensicht-lieh noch nicht abgeschlossen ist): der Kranke glaubt dem Versprechen des Arztes und gehorcht in Hoffnung; so ist der Glaubende – mit dem schuldhaften Keim (fomes) der Sünde – „zugleich Sünder und gerecht“ (WA 56,272,17).

So „evangelisch“ auch dieses Verständnis von Röm 1,17 und verwandter Schriftworte schon war, hat Luther doch in späterer Rückschau die abschließende Erkenntnis noch auf eine besondere Erfahrung (das sog. Turmerlebnis) zurückgeführt.2 Erst darin sei ihm aufgegangen, daß Röm 1,17 nicht „abstrakt“ von Gottes Vollzug seines Gesetzes rede, sondern „konkret“ dem einzelnen mit dem Glauben auch „Leben“ verheiße, so daß die Offenbarung der „Gerechtigkeit“ Gottes selbst „das Evangelium“ ist. Damit rückte ihm aber die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium in die Mitte des christlichen Glaubens (s. TR 5518), und so verstanden wurde für ihn Röm 1,17 aus einem schweren Anstoß zum Schlüsselwort der Schrift.

Luthers neues Verständnis schloß wichtige andere Gedanken ein. Gottes Gericht mußte paradoxerweise als Akt der Gnade aufgefaßt werden, die unter dem Gegenteil erscheint. Aus Gal 5, 6 durfte nicht mehr geschlossen werden, der Glaube rette nur, wenn er, durch die tätige Liebe vervollkommnet, eine fides (caritate) formata sei. Wichtig war auch der – an sich nicht neue – Gedanke, wenn der Geist dem biblischen Wort Glauben verschaffe, sei darin „das Wort“, Christus, selbst gegenwärtig (vgl. §3,1,2 Anfang; §7,11,3 und III, 2; §9,1,2).

Seine Zweifel und exegetischen Anstöße hatte Luther durch die Schrift selber überwunden. Wenn nun das gewonnene persönliche Verständnis von Evangelium und Gesetz das von der Schrift – und damit von Gott, ihrem Urheber – gemeinte war, woran Luther nicht zweifelte, dann mußte es das Verständnis der ganzen Kirche werden. Das konnte nur geschehen, wenn – um des Inhaltes willen! – die Autorität der Schrift jeder anderen in der Kirche übergeordnet würde. Das neue Schriftverständnis empfahl also die Ausbildung eines Schriftprinzips.

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