Vorlesungen mit Francis Schaeffer aufgetaucht

FrancisSchaefferStudies.org, ein Projekt, das die Erschließung des Werkes von Francis und Edith Schaeffer fördert, teilte am 13. September 2013 mit, dass sie an der Digitalisierung von Videoaufnahmen mit Vorlesungen von Francis Schaeffer arbeiten. Es handelt sich um Aufnahmen aus dem Jahr 1983 und 1984, also um Vorträge aus der letzten Schaffensperiode Schaeffers.

Die Themen:

  • Introduction to L’Abri – Dr. Schaeffer and Susan Macaulay (daughter)
  • Names and Issues – Dr Schaeffer
  • Who Is For Peace? – Dr. Schaeffer
  • It is Your Life Involved – Dr. Schaeffer
  • Common Sense Living (Nehemiah) – Edith Schaeffer
  • Apologetics – Dr. Schaeffer
  • Discussion on The Great Evangelical Disaster (Book) – Part 1
  • Discussion on The Great Evangelical Disaster (Book) – Part 2
  • Conference Discussions / Dr. Schaeffer’s Last Address – Part 1
  • Conference Discussions / Dr. Schaeffer’s Last Address – Part2

Die digitalisierten Videos sollen etappenweise ab Winter 2013 veröffentlich werden. Weiter Informationen hier: francisschaefferstudies.blogspot.de.

Betreuungswahn: „Ich bleibe lieber zu Hause“

Für Brigitte MOM erklärt eine Redakteurin, weshalb sie sich dafür entschieden hat, ihre Kinder zu Hause zu erziehen. Richtig: Was für Menschen der Betreuungswahn hervorbringt, werden wir erst in ein paar Jahren wissen. Erahnen können wir es jetzt schon.

Hier ein Auszug:

Ich bin in den Siebzigern geboren. Meine Mutter ist Apothekerin und richtete ihre Arbeitszeiten nach uns Kindern, nicht umgekehrt. Das hat auch keiner von ihr erwartet. Um eins war sie immer zu Hause. Dort gab es Mittagessen, dann Hausaufgaben und Holunderblütenmatsche.

30 Jahre später bin auch ich um eins zu Hause und koche. Wie herrlich altmodisch! Alles wie früher. Nur dass ich im Gegensatz zu meiner Mutter gar nicht arbeite, weil mich mit 15 Stunden pro Woche keiner will. Und noch etwas ist anders: Meine Töchter sind nachmittags die einzigen Kinder im Hof. Wie die ganz alten Menschen verschwinden auch die ganz jungen aus dem Stadtbild. Sie sind immer betreut. Die Alten im Heim, die Jungen im Kindergarten und in der Schule. Wohin führt dieser Weg? Dass wir irgendwann mit unbequemen Schreihälsen und Bettflüchtern gar nicht mehr umgehen können? Hauptsache, untergebracht und bespaßt? Kinder brauchen auch Leerlauf und Langeweile. Ein Gefühl, aus dem sie Kraft und Ideen schöpfen. Ich liebe dieses Gewurstel in den Kinderzimmern: Fünfmal hintereinander dasselbe Buch angucken, fünfmal hintereinander denselben Pfosten runterspringen, fünfmal hintereinander denselben Satz sagen – das ist das Privileg der Kindheit. Luxus, den sich viele Familien heute nicht mehr leisten können, ich weiß, wie gut wir es da haben.

Mehr: mom.brigitte.de.

VD: BK

Die Gefahren der Einseitigkeit

In diesem kurzen Video spricht der Neutestamentler Thomas Schreiner über seine eigene theologische Ausbildung und darüber, wie er sich heute als Professor weiterbildet. Er rät dazu, über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszuschauen. Sehr weise!

VD: DB

Gesetz und Evangelium

Frei nach Luther stelle ich fest (vgl. Galaterbriefauslegung zu 3,19):

Es breitet sich ein wundersames Schweigen über den Unterschied von Gesetz und Evangelium in vielen Schulen und Gotteshäusern aus. Diese Tatsache bringt die Gewissen in die größte Gefahr. Wenn nämlich Gesetz und Evangelium nicht klar unterschieden werden, kann die christliche Lehre nicht unverletzt behalten werden. Wenn aber diese Unterscheidung erkannt ist, wird die wahre Art der Rechtfertigung erkannt. Dann ist es leicht, den Glauben von den Werken zu unterscheiden, Christus von Mose, auch von Obrigkeit und allen zivilen Gesetzen.

„Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“

41dBwsBs2vL._AA160_Der Freiburger Rundbrief, eine Zeitschrift für christlich-jüdische Begegnung, hat freundlicherweise erlaubt, hier eine Rezension von Bettina Klix wiederzugeben. Die Autorin Bettina Klix hat das Buch:

besprochen (Jahrgang 20 / 2013 Heft 4, S. 309–311).

Hier:

„Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar will sich einfach nicht abfinden mit dem Vergessen und der Ungeklärtheit von antisemitischen Verbrechen in Deutschland. Sein Buch „Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus“ (2005) führte sogar zur Klärung eines versuchten Sprengstoffanschlags am 9. November 1969 in Berlin. Die Terrorserie, die er mit diesem Buch rekonstruiert, hat eine ganz andere Dimension. Ihr mörderisches Herz ist der Brandanschlag auf das Altenheim der israelitischen Kultusgemeinde in München am 13. Februar 1970 mit sieben Toten – alle Überlebende des Holocaust.

In einem Artikel in der Welt vom 23. März 2013 antwortete Kraushaar auf die teils heftige Kritik von linker Seite an diesem Buch. Er beginnt mit der Erinnerung daran, was für ihn das besonders Unerträgliche an jenem Münchner Verbrechen ist, das 2012 durch den Dokumentarfilm „München 1970. Als der Terror zu uns kam“ (Regie Georg M. Haffner) ins Gedächtnis gerufen wurde:

„Das Wort Holocaust stammt aus dem Griechischen, heißt ‚vollständig verbrannt’ und meinte in der Antike ursprünglich das Brandopfer von Tieren. Seit der Ausstrahlung des gleichnamigen Fernsehfilms im Januar 1979 hat sich im deutschen Sprachraum durchgesetzt, diesen Ausdruck als Bezeichnung für die von den Nazis organisierte Massenvernichtung der Juden zu verwenden.“

Der Münchner Anschlag aber habe auf grausame Weise diese Verbrechen sozusagen zitiert und gleichzeitig an sieben Überlebenden das Werk vollendet.

Kraushaars übergenaue Studie ist auch eine bitter notwendige Geschichtsstunde über Versäumnisse des Staates. Die Lektion beginnt mit der Erinnerung an den Überfall eines Palästinenser-Kommandos auf die israelische Olympiamannschaft 1972. Das Grauenhafte ist, dass diese Entführung und ihr blutiges Ende hätten verhindert werden können. Wenn aus der Terrorwelle, die in den zwei Jahren davor München erschütterte, die richtigen Schlüsse gezogen worden wären, hätte sich das Sicherheitskonzept der Spiele danach ausrichten müssen. Diese Zeit des Terrors ist so gut wie vergessen. Nur ihr Höhepunkt, der sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielte, ist in Erinnerung geblieben.

Gegen dieses Vergessen schreibt Kraushaar mit diesem Buch geradezu verzweifelt an. Und wir Leser möchten auch verzweifeln angesichts dessen, was er aufdeckt, ohne die Schuldigen fassen zu können. Ein Verbrechen aufzuklären gelingt ihm diesmal nicht, und er erhebt auch nicht den Anspruch. Aber der Versuch einer Ausleuchtung aller bekannten Umstände soll dennoch so ausführlich wie möglich sein. Es werden gerade auch Mentalitäten geschildert, die uns heute nicht mehr gegenwärtig sind. Wie kam es, dass die deutsche Linke ihre Haltung gegenüber Israel so radikal änderte, bis hin zu jener unerträglichen Position, die der Titel des Buches ausspricht: „Wann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel?“

Der Satz entstammt einem Brief von Dieter Kunzelmann. Nach der Ausbildung in einem Lager der Fatah heimlich nach Deutschland zurückgekehrt, hatte er 1970 in einem fiktiven „Brief aus Amman“ seine deutschen Genossen ermahnt, zu Taten überzugehen:

„Von Amman aus frage ich mich: wann endlich beginnt bei Euch der organisierte Kampf gegen die heilige Kuh Israel? Wann entlasten wir das kämpfende palästinensische Volk durch praktischen Internationalismus?“

Der Historiker Moishe Postone hat in seinem Buch „Deutschland, die Linke und der Holocaust“ (2005) auf die Gründe für die fatale Verkehrung hingewiesen:

„Keine westliche Linke war vor 1967 in dem Maße philosemitisch und prozionistisch wie sie nach dem Sechs-Tage-Krieg propalästinensisch war. Was ‚Antizionismus’ genannt wurde, war in Wirklichkeit so emotional und psychisch beladen, dass es weit über die Grenzen einer politischen und gesellschaftlichen Kritik am Zionismus hinausging. Das bloße Wort war so negativ besetzt wie Nazismus […].

Der Wendepunkt vom Philosemitismus zu jener Form des Antizionismus war der Krieg 1967. Ich vermute, dass hier ein Prozess psychologischer Umkehr stattfand, in dem die Juden als Sieger mit der Nazivergangenheit identifiziert wurden, – positiv durch die deutsche Rechte, negativ von der Linken. Umgekehrt wurden die Opfer der Juden, nämlich die Palästinenser, als Juden identifiziert. Es ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, dass der Auslöser für eine solche Wende nicht die Vertreibung und das Leiden der Palästinenser war, das schon lange vor 1967 begonnen hatte, sondern der siegreiche ‚Blitzkrieg’ der Israelis.“

Und wie argumentieren diejenigen, die die deutschen Stadtguerilleros in ihrem „Volksbefreiungskrieg“ unterstützen wollen? In einem Interview mit dem Stern 1970 gab der Chef der AOLP (Aktionsorganisation zur Befreiung Palästinas) Dr. Issam El-Sartaoui bereitwillig Einblick in sein Denken:

„Die Deutschen haben 3,5 Milliarden Mark Wiedergutmachung an Israel gezahlt. Westdeutschlands finanzielle und technische Unterstützung Israels war ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung der israelischen Kriegsmaschine. […] Wir sind nicht gegen die Wiedergutmachung der Naziverbrechen an den Juden. Im Gegenteil, das war die Pflicht des deutschen Volkes. […] Aber die Aufrüstung Israels richtet sich gegen uns. Auf diese Weise kann Westdeutschland sich rühmen, in einer Generation zwei Völkermorde begangen zu haben. Den Völkermord an den Juden und – durch die überlebenden Juden – den Völkermord an den Arabern.“

Kraushaar schreibt dazu:

„Selbst seiner terroristischen Logik mangelt es nicht an argumentativer Kraft. Er weiß offenbar nur zu genau, welche Punkte er betonen muss, um die Schwachstellen in der Legitimationslogik der Bundesrepublik zu treffen.“

Und diese schwachen Punkte waren mitentscheidend für die verhängnisvolle Appeasementpolitik dieser Jahre, die dazu führte, dass man sich im Rahmen einer „neuen Nahostpolitik“ zahlloser schon gefasster palästinensischer Terroristen durch Abschiebung entledigte, um nicht erpressbar zu werden. Zum 40. Jahrestag des Olympiaanschlags schrieb der Spiegel, damals habe „der Geist des ‚Appeasement’ die Bonner Amtsstuben durchweht“. Und da München die Stadt des ersten Appeasement gewesen sei, als die Westmächte 1938 glaubten, Hitler beschwichtigen zu können, war dies für Israel eine ganz besonders grausame Ironie der Geschichte.

Kraushaar zeigt, dass weder die staatliche Seite der Verantwortung noch die Verstrickung der Linken aufgearbeitet ist. Sein Schlusswort entfernt sich weit von der Schuldzuweisung. Er erinnert an ein Wort von Bundespräsident Heinemann, der 1968 nach dem Attentat auf Rudi Dutschke und den folgenden Unruhen mit zwei Toten und unzähligen Verletzten erklärt hatte:

„Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter oder Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere Finger auf ihn selbst zurückweisen.“

Damit sei zunächst wohl die Schuldzuweisung an das Zeitungsimperium von Axel Springer gemeint gewesen, das die Aufhetzung bewirkt habe. Aber Kraushaar findet, dass hier ein übertragbares Bild gefunden ist, das

„geeignet [ist], jene Zusammenhänge besser zu begreifen, die zu den schrecklichen Ereignissen des Februar 1970 geführt haben. Nichts wird die Schuld palästinensischer Terroristen und ihrer deutschen Unterstützer mindern können. Es könnte jedoch ein Fehler sein, die Verantwortung für die damals begangenen Verbrechen allein bei ihnen zu suchen.“

Bettina Klix, Berlin

Pädophilie im linksliberalen Milieu

Alice Schwarzer hat kürzlich in der taz erklärt, weshalb sie in den 80ern gemeinsam mit dem bekennenden Schwulen Günter Amendt engagiert gegen die Legalisierung der Pädophile vorging. In dem Magazin Cicero wurde nun ein Beitrag gedruckt, der ursprünglich in der EMMA erschienen ist und noch detaillierter auf die Verharmlosung von Pädophile und Prostitution eingeht. Die These: Die gleiche Ideologie, die in den 70er- und 80er-Jahren für die Legalisierungsversuche von Sex Erwachsener mit Kindern verantwortlich ist, wirkt bis heute weiter und fördert die kulturelle Blindheit im Blick auf die Wirkungen von Pornographie und Prostitution.

So waren und sind die Grünen weiterhin gegen jegliche Einschränkung von Pornografie. Und sie sind die Vorreiter einer Verharmlosung von Prostitution, für sie „ein Beruf wie jeder andere“. Das passt zur Verharmlosung des Missbrauchs von Kindern: Die herrschenden Alt-Grünen sind gegen Herrschaftsverhältnisse im gesellschaftlichen Bereich, leugnen jedoch die Machtverhältnisse im Privaten. Das gilt für das Machtgefälle zwischen Freiern und Prostituierten ebenso wie für das zwischen Erwachsenen und Kindern. – Dürfen wir also auch bei der Prostitution, diesem „Beruf wie jeder andere“, nun 30 Jahre warten, bis ihre Verharmlosung und Akzeptanz als Skandal empfunden wird?

Übrigens gleicht sich die Argumentation frappant: Ganz wie die Kinder mit den Pädophilen machen es die Frauen mit den Freiern angeblich „einvernehmlich“ und „freiwillig“ – und es ist doch auch eigentlich nichts dabei, oder? Noch 1988 forderte der heutige parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, in einem Beitrag für die Pädosexuellen-Streitschrift „Der pädosexuelle Komplex“ eine „Entkriminalisierung der Pädosexualität“. Und heute? Er distanziert sich inzwischen davon. Doch propagiert er nun im gleichen Geist die Verharmlosung und Akzeptanz der Prostitution. Beck wörtlich: „Wenn Leute etwas anbieten, andere es kaufen wollen und es keine ökologischen oder sozialen Nebenwirkungen gibt, die man dringend unterbinden muss, dann nehme ich das zur Kenntnis und störe mich nicht weiter daran.“ Das erklärte Volker Beck jüngst apropos der Prostitution. – Sexualität als Ware. Man kann einen solchen Grad an Zynismus kaum fassen.

Mehr: www.cicero.de.

VD: MM

Michael Beintker: Krisis und Gnade

Beintker GnadeHier ein Auszug aus einer Buchbesprechung, die vollständig in der nächsten Ausgabe von Glaube und Denken heute erscheinen wird.

Der Schweizer Theologe Karl Barth (1886–1968) hat wie kein anderer die Theologie des 20. Jahrhunderts geprägt. Das Potential seines voluminösen Werkes ist noch nicht ausgeschöpft.* Nach Einschätzung von Michael Beintker liegt die eigentliche Wirkungsgeschichte seiner Theologie noch vor uns. Beintker muss es wissen. Er zählt zu den ausgewiesenen Experten der neueren Barthforschung. 1982 wurde er von der Universität in Halle an der Saale mit der „soliden Arbeit“ (so Eberhard Busch) „Die Dialektik in der ‚dialektischen Theologie‘ Karl Barths“ habilitiert. Heute ist der systematische Theologe Direktor des Seminars für Reformierte Theologie an der Universität Münster und Mitglied im Stiftungsrat der Karl Barth-Stiftung Basel.

Der Sammelband Krisis und Gnade vereint Studien, die in den Jahren von 1986 bis 2010 entstanden sind. Untersucht werden Themen wie Barths Abschied von der Zeitschrift Zwischen den Zeiten, Barths Kant-Deutung, die Sündenlehre oder die politische Ethik. Ergänzt werden die Aufsätze durch eine Einleitung der Herausgeber sowie eine Einführung zu Karl Barth durch den Autor. Bibelstellen-, Personen- und Sachregister sind ebenfalls enthalten. Hin und wieder stößt der Leser im Text auf Wiederholungen (vgl. z. B. S. 180–181 u. S. 225–226). Das lässt sich bei Sammlungen von bereits publizierten Texten nicht immer vermeiden.

Da ich im Rahmen dieser Buchbesprechung nicht auf alle Beiträge des Bandes eingehen kann, konzentriere ich mich auf diejenigen, die meine besondere Aufmerksamkeit geweckt haben.

Der Beitrag „Krisis und Gnade“ deutet die Dialektik beim frühen Barth anhand seines Verhältnisses von Gesetz und Evangelium (S. 22–39). Phänomenologisch stehen wir Menschen in dieser Welt „tiefer im Nein als im Ja“. Dennoch verzichtet Barth darauf, den Sündern mit einem von der Gnade abgeschnittenen Nein zu konfrontieren. Das Nein, die Negation also, wurzelt in einem zuvor gesetzten Ja Gottes zur Welt. Schon in der zweiten Auflage des Römerbriefkommentars ist implizit der Vorrang der Gnade Gottes unüberhörbar. Literarisch manifestiert er sich spätestens 1923 durch die Formel „Evangelium und Gesetz“ (vgl. S. 33). „Verwerfung gibt es“ – so Barth – „nur als Schatten des Lichtes der Erwählung. Gottes Nein ist nur die diesem Menschen in dieser Welt unvermeidlich zugekehrte Kehrseite von Gottes Ja“ (S. 35). Gelegentlich treibt Barth diese Dialektik auf die Spitze. So schreibt er 1922 in „Not und Verheißung der christlichen Verkündigung“: „Dieses Nein ist eben Ja. Dieses Gericht ist Gnade. Diese Verurteilung ist Vergebung. Dieser Tod ist Leben, diese Hölle ist Himmel. Dieser furchtbare Gott ist der liebende Vater, der den verlorenen Sohn in seine Arme zieht …“ (S. 252). Der Gnadenvorrang führt – wie Beintker in seiner Einführung zu Karl Barth richtig bemerkt (S. 246–263) – zu einem Heilsoptimismus (auch wenn Barth sich m. W. nie ausdrücklich zu einer Allerlösung bekannt hat). „In der Konzentration auf die sich in Christus vollziehende Begegnung zwischen Gott und Mensch ist vielmehr ein Heilsuniversalismus beschlossen, der — eminent realitätsbezogen — die Wirklichkeit konsequent im Horizont des Evangeliums entziffert“ (S. 254).

Wie wichtig Barths Offenbarungsverständnis angesichts der theologiegeschichtlichen Entwicklungen zwischen 1918 und 1934 war, zeigt der Aufsatz „Die Frage nach den Quellen der Offenbarung im Spiegel theologiegeschichtlicher Entwicklungen zwischen 1918 und 1934“ (S. 40–63). Große Theologen wie Emanuel Hirsch oder Adolf Deißmann erlagen Anfang des 20. Jahrhunderts den Versuchungen eines Bindestrich-Christentums. Gott wurde deutsch, der Krieg heilig. Hirsch begriff die Ereignisse von 1933 als Gottesstunde und verfiel hinsichtlich der Erstarkung des Nationalismus geradezu in religiöse Schwärmerei: „Das ‚Ja‘ zu dieser Stunde ist in mir lebendig, ist von Herzens Grunde in mir lebendig als ein Dank gegen den Gott, der nach langer Schande und Nacht uns allen in Flammen aufgegangen ist“ (S. 48).

Barth versperrte sich diesen gefährlichen Synthesen des Kulturprotestantismus und schritt gegen jegliche Inanspruchnahme Gottes für menschliche oder völkische Interessen ein. Der Verwerfungssatz der maßgeblich von Barth ausgearbeiteten Barmer Erklärung von 1934 bestreitet die falsche Lehre, „als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen.“

Allerdings haben sich nicht nur die dialektischen Theologen aus dem Umfeld von Karl Barth der nationalisierten Theologie verweigert. Wie Beintker zeigt, erkannten auch Gelehrte wie Paul Tillich oder Friedrich Heiler die Zeichen der Zeit, ohne dabei den Offenbarungsmonismus Barths zu teilen. Heiler schrieb 1932 beispielsweise: „Wenn die evangelische Kirche dieser Zersetzung des biblischen Christentums in ihren Reihen keinen entschlossenen Widerstand entgegensetzt, so verliert sie die ganze Substanz des Evangeliums, sie verfällt nicht nur einer völligen Säkularisierung, sondern einer furchtbaren Paganisierung“ (S. 54).

Drei Beiträge beschäftigen sich mit der Soziallehre. Ausgesprochen hilfreich fand ich den Aufsatz „Die politische Verantwortung der Christengemeinde im Denken Barths“ (S.172–199), der 1996 entstand und maßgebliche Strukturmomente seiner politischen Ethik skizziert. Einige erwähnenswerte Momente will ich kurz vorstellen.

Barth ersetzte die in der Sozialethik üblicherweise benutzen Begriff „Kirche“ und „Staat“ intendiert durch “Christengemeinde“ und „Bürgergemeinde“, um die Verantwortung der Menschen im kommunitären Interaktionsgeflecht anzusprechen (vgl. S. 175). Die politische Verantwortung der Kirche war für ihn aufs engste mit dem Auftrag verbunden, den sie durch Wort und Werk ihres Herrn empfangen hat (vgl. die sechste Barmer These). Beintker illustriert das durch ein wunderschönes Zitat aus der Kirchlichen Dogmatik (IV/3, S. 916):

„So heißt es zusammenfassend: ‚[…] der Gemeinde ist das Evangelium aufgetragen: die gute, die fröhliche Botschaft von Jesus Christus, von der wirklichen Tat und von der wahren Offenbarung der Güte, in der Gott sich selbst zum Gott des Menschen, den Menschen zu seinem Menschen machen wollte und gemacht hat. Dieses große Ja ist ihre Sache. Einen anderen Auftrag neben diesem hat sie nicht. Dieser Auftrag ist so tief erregend, so radikal bewegend, so wichtig, dringlich und umfassend, daß er sie ganz beansprucht, daß sie neben ihm keine anderen Aufträge entgegenzunehmen in der Lage ist.‘“

Damit wird das Evangelium nicht politisch neutralisiert, jedoch vermieden, dass die Nöte der Welt zum Gesetz der Kirche werden. „Das ihr zugesprochene Evangelium darf mit einem irdischen Programm zur Weltverbesserung weder identifiziert noch kompatibilisiert werden, weil es dann seine alles tragende Dynamik einbüßte und zur religiösen Hintergrundmusik einer auch ohne das Evangelium zu entwickelnden Gesellschaftstheorie, Sozialphilosophie, Werteordnung oder Parteiprogrammatik verkäme“ (S. 177). „So wird die Gemeinde in ihren Stellungnahmen immer zu beachten haben, dass nicht sie es ist, die das Reich Gottes herbeiführt. Sie kann ihre eigene Erlösungsbedürftigkeit ebensowenig ignorieren wie die Erlösungsbedürftigkeit der in tiefer Unordnung befindlichen Welt“ (S. 177).

Beeindruckend finde ich den Aufsatz über Barths Anselm-Buch Fides quaerens intellectum (S. 64–85). Nur wenige – so Beintker –, haben wie Hans Urs von Balthasar bemerkt, dass Barths Beschäftigung mit Anselm von Canterbury als wichtiger Schlüssel für das Verstehen seiner Denkbewegungen gesehen werden muss. Als Barth mit seinem Anselm-Buch begann, befand er sich in einer Situation des Übergangs. Die Rekapitulation der Theologiegeschichte war abgeschlossen, die Krisis der liberalen Theologie beschrieben. Nun ging es darum, eine theologische Erkenntnishaltung zu entwickeln, „die vor dem Anspruch der Wahrheit nicht zurückscheute und deren Resultate sich durch Erklärungskraft und Erschließungsfähigkeit auszeichneten“ (S. 65). Auch wenn die Übergänge fließend und vielschichtig sind, kommt mit dem Buch ein Klärungsprozess zum Abschluss und Barth findet zu einem Denkstil, der seinen Weg von da an bestimmt (vgl. S. 68).

Im Horizont des Proslogion von Anselm ist allein die anbetende Denkhaltung der Wahrheit Gottes angemessen. Theologie, dies entnahm Barth dem Wechsel von der reflektierenden zur betenden Argumentation bei Anselm, „‚ist anbetender Gehorsam‘. Man dürfe nicht übersehen wollen, daß Anselm über Gott redet, indem er zu ihm redet“ (S. 70).

Barth wurde und wird genau diese Deutung zum Vorwurf gemacht. Seine entrationalisierende Interpretation verkenne den Beweisanspruch Anselms. Beintker verteidigt Barth gegen solche Einwände, insbesondere gegenüber den Richtersprüchen Kurt Flaschs. „So weit vom historischen Anselm, wie es manche Kritiker ihm nachsagten, war Barths Interpretation gar nicht entfernt. Es ist einfach nicht wahr, dass Barth das Gegenteil von dem aus Anselm heraus- oder in Anselm hineingelesen hätte, was Anselm selber vor Augen stand, als er sein Proslogion niederschrieb“ (S. 72).

Fides quaerens intellectum bedeutet, dass der Glaube, dem Gewissheit geschenkt wurde, rationale Klarheit über seinen Gegenstand sucht. Beintker: „Die Gewissheit des Glaubens ist also nicht das Ergebnis rationaler Schlussfolgerungen am Ende eines langen Erkenntnisweges, sondern sie geht faktisch allen Erkenntniswegen voraus und verlangt nach ihnen. Barth versteht Anselms fides quaerens intellectum als Konsequenz der Gewissheit des Glaubens. Gerade im Besitz der Gewissheit des Glaubens müssen wir nach der fidei ratio hungern“ (S. 73). Die Theologie braucht die Wahrheit also nicht erst denkerisch zu konstituieren. „Davon ist sie entlastet. Und damit wäre sie auch hoffnungslos überfordert. Sie trägt nicht die Verantwortung für das Gegebensein des Glaubenssatzes, dass Gott existiert“ (S. 75). Die Wahrheit Gottes ist Voraussetzung allen Seins und Erkennens.

Erinnern wir uns kurz an den Aufbau des „Ontologischen Gottesbeweises“. Die Vernunft kennt nach Anselm die Idee des höchsten denkbaren Wesens. Würde dieses Wesen allein im Denken der Vernunft existieren, wäre es nicht das höchste Wesen, weil dann noch ein höheres Wesen gedacht werden könnte, nämlich ein Wesen, das nicht nur in der Vorstellung, sondern auch in der Wirklichkeit existiert. Deshalb verlangt der Begriff eines höchsten Gottes, dass dieser nicht nur im Denken, sondern auch in der Wirklichkeit existiert. Gott, über den nichts Größeres gedacht werden kann, existiert nicht nur im Intellekt, sondern auch in der Wirklichkeit.

Diese Beweisführung blieb natürlich nicht unwidersprochen. Anselms unbequemer Kritiker Gaunilo verkörpert für Barth den Skeptiker. Der Mönch behauptet, „dass man sehr wohl Gott nur als Gedankengebilde, als ein nur gedachtes Seiendes denken könne. Es fällt ihm leicht, das über allem Dasein stehende Dasein Gottes auf das Niveau einer imaginären Insel im Ozean herabzusenken“ (S. 79). Immanuel Kant formulierte später: „Man siehet aus dem bisherigen leicht: daß der Begriff eines absolut notwendigen Wesens ein reiner Vernunftbegriff, d. i. eine bloße Idee sei, deren objektive Realität dadurch, daß die Vernunft ihrer bedarf, noch lange nicht bewiesen ist, …“ (KrV, Meiner 1998, S. 668).

Für Barth laufen Einwände dieser Art ins Leere. Beintker erklärt dessen Sichtweise so: „Hinter den Einwänden des durchaus zeitlos zu denkenden Gaunilo verbirgt sich ein Wirklichkeitsverständnis, das sowohl im Blick auf die Wirklichkeit Gottes als auch im Blick auf die Wirklichkeit des Menschen deutlich unterkomplex verfährt und deshalb danebengreift. Es wird nicht beachtet, dass die Wirklichkeit Gottes kategorial von der Wirklichkeit der Dinge, die wir wahrnehmen und verstehend zu begreifen suchen, unterschieden werden muss. Wer an Gott glaubt und zugleich den Gedanken des Nichtseins Gottes für eine ernsthaft erwägenswerte Denkmöglichkeit hält, hat faktisch das Dasein Gottes mit allem anderen Dasein auf eine Stufe gesetzt. Er stellt Gott zur Disposition wie ein beliebiges Seiendes, dessen Denkbarkeit tatsächlich noch lange nicht dessen Dasein verbürgt“ (S. 79–80). Gaunilos Einwand basierte also auf der Annahme, „‚dass das Maß des Daseins überhaupt das Maß des Daseins Gottes sei‘. In Wirklichkeit verhält es sich genau umgekehrt: ‚das Dasein Gottes ist das Maß des Daseins überhaupt‘. Wer ihn erkennt, wirklich im Sinne des Wortes erkennt, kann nicht gleichzeitig denken: ‚Gott ist nicht da‘“ (S. 80). Gaunilos Wirklichkeitsverständnis ist vereinfacht im Blick auf die Unterscheidung des Daseins Gottes von allem anderen Dasein und missversteht die Wirklichkeit des Menschen. „Es verkennt nämlich den konstitutiven Rang des Gottesbezugs für das menschliche Dasein … Es nimmt den Unglauben ernster, als er es verdient, und fixiert so den Menschen, der in seinem Herzen spricht: ‚Gott ist nicht da‘, in seiner Isolation von der Wirklichkeit Gottes“ (S. 80).

Barth erteilt unter Berufung auf Anselm dem Cartesianismus und der Transzendentalphilosophie des deutschen Idealismus damit eine klare Absage. Er denkt gar nicht daran, den Satz vom Dasein Gottes in ein Abhängigkeitsverhältnis zu seiner eigenen Existenz zu setzen. Nicht das ego cogito des menschlichen Subjekts ist Urdatum der Erkenntnis, sondern die Selbstgewissheit ist von der Gottesgewissheit aus zu verstehen (vgl. S. 83–84). Barth stellt sich aus Überzeugung in die Denktradition Anselms. „Die Formel ‚fides quaerens intellectum‘ besagt, dass der Glaube, dem Gewissheit geschenkt wurde, rationale Klarheit über seinen Gegenstand sucht. Dieser Gegenstand kann in seiner Gültigkeit nicht in Zweifel gezogen werden, will aber auf Grund seiner Gültigkeit im Detail erkannt und mit der vom Glauben bestärkten und vergewisserten Rationalität so sorgfältig wie nur möglich erfasst werden. Darin besteht die Aufgabe der Theologie. Sie braucht die Wahrheit, der sie nachdenkt, nicht erst denkerisch zu konstituieren“ (S. 254).

Die Lektüre von Krisis und Gnade hat Freude bereitet. Michael Beintker ist ein begnadeter Beobachter und versteht es, die theologischen Weichenstellungen auf dem Hintergrund der damaligen Fragestellungen verständlich zu erklären. Der Sammelband erleichtert den Zugang zur Theologie eines wirklich großen kirchlichen Denkers. Mein Eindruck, dass nämlich Karl Barth vor hundert Jahren die Krise der Theologie scharfsinnig durchleuchtete und uns neu mit Gottes Anspruch und Zuspruch konfrontierte, hat sich bestätigt. Barth wandte sich entschlossen gegen jeden Versuch, vom Menschen ausgehend Gott zu denken und stellte dem neuzeitlichen Anthropozentrismus eine beharrliche Offenbarungstheologie entgegen. „Den Inhalt der Bibel bilden gar nicht Menschengedanken über Gott“ – schreibt er kraftvoll –, „sondern die rechten Gottesgedanken über den Menschen. Nicht wie wir von Gott reden sollen, steht in der Bibel, sondern was er zu uns sagt, nicht wie wir den Weg zu ihm finden, sondern wie er den Weg zu uns gesucht und gefunden hat“ (Das Wort Gottes und die Theologie, 1925, S. 18).

Dennoch bleibt das Vergüngen ambivalent, wie so oft, wenn ich Literatur von oder zu Karl Barth lese. Es hat sich mir deutlicher als bisher erschlossen, weshalb Klaus Bockmühl (ähnlich wie Bonhoeffer) in seiner Barthstudie mehrmals von der „Unwirklichkeit“ und „Zweideutigkeit“ der Theologie seines Basler Lehrers spricht (Atheismus in der Christenheit, Brunnen u. Brockhaus, 1985). Zwar schützen Verjenseitigung und Dialektik vor Kritik, lassen Gott aber eigenartig unwirklich erscheinen. Barths Situationsethik illustriert das besonders deutlich. Der Christ bleibt im Hier und Jetzt sich selbst überlassen.

Nur sehr wenige Theologen können alles lesen, was Karl Barth geschrieben hat. Niemand kann lesen, was alles über Barth geschrieben wurde. Ich empfehle Theologen, Studenten und Laien, die sich für das Werk des Schweizer Theologen interessieren, diesen Sammelband in die engere Auswahl zu nehmen.

Ron Kubsch

* Barth hat nicht nur die 13 Bände seiner Die Kirchliche Dogmatik hinterlassen. Im Auftrag der Karl Barth-Stiftung wird vom Theologischen Verlag Zürich zusätzlich unter der Leitung von Hinrich Stoevesandt (bis 1998) und Hans Anton Drewes (seit 1998) eine Gesamtausgabe verantwortet. Die bisher erschienenen 49 Bände sind inzwischen zusammen mit der Dogmatik und anderen Schriften auch digital zugänglich unter URL: solomon.dkbl.alexanderstreet.com.

rtemagicc-einkaufenkl-06.gif

 

 

Nancy Pearcey: Total Truth

51Ei7DTzR5LHanniel Strebel hat freundlicherweise eine Besprechung des Buches:

zur Verfügung gestellt:

Eine Wahrheit für das ganze Leben

Wer ist Nancy Pearcey? Die 1952 geborene US-Amerikanerin zählt gemäss „The New Evangelical Outpost“ zu den wenigen weiblichen evangelikalen Intellektuellen. Ich las das Buch nicht deshalb, weil es 2005 den prestigeträchtigen „ECPA Gold Medallion Award“ gewann, sondern weil es auf mehreren Bücherlisten von mir geschätzter Blogger ganz oben aufzufinden war. Sympathisch wog für mich als Europäer und Heimschulvater die Tatsache, dass Pearcey in Heidelberg Violine studierte und ihre beiden Söhne zu Hause unterrichtete. Pearcey zählt den zu geistlichen Erben von Francis Schaeffer (1912-1984). Der Besuch in schweizerischen L’abri anfangs der 1970er-Jahre hatte die damals agnostische junge Frau nachhaltig aufgerüttelt. Dies schildert sie denn auch in „Total Truth“. Heute leitet Pearcey zusammen mit ihrem Mann das „Francis Schaeffer Center for Worldview and Culture“ der Houston Baptist University.

Um was geht es? Philipp E. Johnson, ein führender Kopf der Intelligent Design-Bewegung in den USA, schreibt im Vorwort: „Weltanschauung zu verstehen gleicht dem Versuch, die Linse des eigenen Auges zu sehen. Normalerweise sehen wir unsere eigene Weltsicht nicht, stattdessen sehen wir alles andere durch diesen Filter. Einfach gesagt ist die Weltanschauung das Fenster, durch das wir die Welt – oft unbewusst – wahrnehmen und (dann) entscheiden, was real und wichtig oder nicht real und unwichtig ist.“ Die Wahrnehmung für dieses „Fenster zur Welt“ zu schärfen, darum geht es Pearcey in diesem Buch. Ausgangspunkt bildet der „tiefe Hunger unter Christen, durch „einen übergeordneten Rahmen“ Einheit in ihr Leben zu bringen und die tiefe Trennung zwischen einem säkularen und einem privat-persönlichen Bereich zu überbrücken. Wir sind es uns gewohnt, zwischen einem „wissenschaftlichen“, „wertefreien“ Bereich der öffentlichen Institutionen und einer privaten Sphäre der persönlichen Überzeugungen und Entscheidungen zu unterscheiden. Genau an dieser Stelle liegt der Hund begraben.

Wie ist das Buch aufgebaut? Pearcey hat ihr Werk in vier Teile aufgeteilt: Im ersten Teil legt Pearcey die Grundlagen für einen biblisch-weltanschaulichen Grundrahmen. Dieser hängt an drei Fragen:

  • Schöpfung: Wie hat alles begonnen?
  • Fall: Was ist schief gegangen?
  • Erlösung: Wie kann es wiederhergestellt werden?

Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Schöpfung, dem Startpunkt jeder Weltanschauung. Pearcey entfaltet darin ein engagiertes Plädoyer für den Intelligent Design-Ansatz. Wer sich bereits mit der evolutionistischen Weltanschauung abgefunden hat, reibt sich über diesen Seiten erstaunt die Augen.
Der dritte Teil geht der Frage nach, warum die Evangelikalen keine Tradition der Verteidigung ihrer Weltanschauung entwickelt haben.

Wo bleibt denn die Umsetzung? Das mögen sich einige gegen Schluss des Werkes fragen. Dafür hat sich Pearcey den vierten Teil vorbehalten. Der Rückgriff auf das wichtige Werk von Francis Schaeffer „Geistliches Leben – was ist das?“ hielt ich für angebracht.

Vier Anhänge mit Vertiefungen über die Säkularisierung der US-amerikanischen Politik, den modernen Islam und die New Age-Bewegung, den Materialismus und die Apologetik, wie sie in L’abri betrieben wurde, runden die Lektüre ab. Eine ausführliche, kommentierte Leseliste sowie ein Studienführen beschliessen das über 400 Seiten starke Werk.

Was faszinierte mich? Man mag das Beispiel für gar amerikanisch halten: Da unterhalten sich junge Frauen, die in einem Zentrum für Beratung von abtreibenden schwangeren Frauen arbeiten, in der Pause über die nächste Sonntagschullektion. So weit ist das Beispiel nicht hergeholt. Ich rede mit Studenten, die in der Freizeit eine Jungschararbeit leiten und im Studium mit dem Genderthema in der Literatur ringen. Ich kenne Juristen, die verbindlich in der Gemeinde mitarbeiten und sich täglich für die Interessen von zum Teil skrupellosen Klienten einsetzen. Ausserdem gibt es genügend Christen, die unserer Entscheidung, die Kinder selber zu unterrichten, mit Stirnrunzeln begegnen. Ganz zu schweigen von dem von mir beobachteten Tabu, über die Rolle der Frau im Rahmen der Gemeinde konkret zu werden. Zumindest in meiner Lebensrealität halten wir – trotz Bekenntnis – die zwei Lebensbereiche privat und öffentlich bzw. säkular und geistlich fein säuberlich getrennt. So ging mir denn die Ermahnung Pearceys zu Herzen. Sie sagte: „Der erste Schritt zum bewussten Um- und Aufbau einer christlichen Weltanschauung besteht darin, auf die Suche nach den eigenen Götzen zu gehen.“ Besonders geblieben sind mir einzelne biographische Elemente des Buches, so etwa die Beschreibung ihres engagierten Vaters, der den Familientisch für manche Lektionen und Diskussionen nutzte. Dass sie mit ihren Söhnen frühzeitig weltanschauliche Themen dort bearbeitete, wo sie auftauchten – zum Beispiel in den Kinderbüchern -, fand ich nachahmenswert. Ebenso berührte mich Pearceys Schilderung ihrer Zeit, als sie ehrlich nach der Wahrheit suchte. Ebenso nahe ging mir der Abschnitt im vierten Teil, in dem sie über ihr Ringen um ihre Rolle als Mutter berichtet.

Welche Stellen irritierten? Bisweilen fragte ich mich, ob ich den Ansprüchen „eine versöhnende Kraft in jedem Bereich der Kultur “ sein, verpflichtet bin. Ebenso bezweifle ich, exzellentere Lösungen als jeder Nichtchrist zustande bringen zu müssen. Wird hier nicht eine Erwartung aufgebaut, welche meine tief in mir wurzelnde Neigung zur Selbsterlösung stimuliert?

Ein weiteres Thema, das ich nicht genügend beleuchtet finde, ist der Stellenwert der Gemeinde. Pearcey betont zwar deren Wichtigkeit, wenn sie schreibt, dass die Gemeinde der Plausibilitätstest für das Evangelium sei. Bei mir blieb eher ihr Beispiel hängen, als sie bei einem Probebesuch in einer neuen Gemeinde den Pastor gegen die kopflastigen Bibelschulen uns Seminare wettern hörte.

Den einen oder anderen mag das dritte Kapitel, das die Geschichte der Evangelikalen in den USA beschreibt, dann doch gar amerikanisch anzumuten. Ich blieb dennoch sehr konzentriert, denn die Ausführungen werfen Licht auf den Anti-Intellektualismus, dem ich auch in unseren Gemeinden auf Schritt und Tritt begegne.

Ich legte das Buch mit einem tiefen Seufzer zur Seite. Für mich notierte ich: „Durch dieses Buch bin ich satt geworden.“ Ich empfehle es jedem Leser, welcher der englischen Sprache mächtig ist. Und ich wünsche mir mehr solches Material in der deutschen Sprache.

Hanniel Strebel

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner