Konfessionskunde

Martin Lloyd-Jones: Mitgefühl zeigen reicht nicht

51yqhH8SA1L SX420 BO1 204 203 200Wolf Christian Jaeschke schreibt in dem gerade von ihm herausgegebenen Buch Untern Gnadenhimmel oder: Unter Weinstock und Feigenbaum (Bonn: VKW, 2022, 650 S.) über die Sicht der Predigt bei Martin Lloyd-Jones (Anhang B, S. 508–509):

Jahrzehntelang predigte [Martin Lloyd-Jones] „in übervollen Kirchen und beeindruckte seine Zuhörer zutiefst mit seiner Verbindung von Logik, Feuer und sorgfältigem Umgang mit dem biblischen Text“. Was manchen wie ein Relikt aus einer untergegangenen Zeit erschien, wurde für andere zur Offenbarung und zum Schlüssel für die Zukunft. 1968 war Lloyd-Jones in den Ruhestand getreten. Seine homiletische Erfahrung fasste er im Frühjahr 1969 in einer Vortragsreihe am Westminster Theological Seminary in den USA zusammen, die dann 1971 als Buch unter dem Titel Preaching and Preachers (dt. Die Predigt und der Prediger) erschien. Darin knüpfte er gleich zu Beginn an jene Diskussion der 1960er Jahre an:

Wir leben in einer Zeit, in der nicht nur das Predigen, sondern die Kirche
überhaupt in Frage gestellt wird. Ihnen ist sicher die Rede vom „religionslosen
Christentum“ geläufig, die Idee vieler Leute, dass die Kirche selbst womöglich
das größte Hindernis für den christlichen Glauben ist und dass,
wenn wir wirklich wollen, dass die Menschen Christen werden und dass die
Welt, wie sie sich ausdrücken, „christianisiert“ wird, wir die Kirche los werden
müssen; denn die Kirche ist zu einem Hindernis geworden, das zwischen
den Menschen und der Wahrheit steht, die in Christus Jesus ist.

Wie das Evangelium nach dieser neuen Sicht weitergegeben werden soll,
beschreibt Lloyd-Jones so: „Nicht predigen, [also] nicht die althergebrachte
Methode, sondern sich unter die Leute mischen, Interesse zeigen,
Mitgefühl zeigen, einer von ihnen sein, sich mit ihnen zusammensetzen,
ihre Angelegenheiten und Probleme mit ihnen diskutieren.“

War Augustinus der erste Calvinist?

Der Theologe Ken Wilson behauptet in seinem Buch War Augustinus der erste Calvinist?, dass Calvinisten einen heidnischen Gott anbeten. Können die Begründungen für diese steile These überzeugen? Mario Tafferner, Dozent für Altes Testament am Tyndale Theological Seminary in den Niederlanden, hat das Buch gelesen und dabei überraschendes zutage gefördert.

Hier ein Auszug: 

Die Frage ist nicht, welche frühchristlichen Theologen von den sie umgebenden Philosophien beeinflusst wurden und welche „sauber“ blieben. Die Frage ist viel mehr, welche frühchristlichen Theologen die Denkkategorien ihrer Zeit dem biblischen Befund entsprechend verwendet haben.

Aus dieser Perspektive wird auch Wilsons Karikatur des Augustinus als Stoiker oder Manichäer fragwürdig. Wie Origenes ist Augustinus kein heidnischer Philosoph, sondern ein christlicher Theologe, der damit ringt, die biblische Lehre in den ihm zur Verfügung stehenden Denkkategorien zu fassen. So schreibt z.B. Mark Edwards, Wilson’s Doktorvater an der Universität Oxford, dass Augustinus zwar die stoische Willenslehre in seiner Definition des freien Willens aufnimmt, diese aber in einen den Stoikern vollkommen fremden christlichen Denkrahmen einbettet:

„Das Fehlen einer Lehre vom Sündenfall bei den Stoikern muss jede Parallele, die zwischen dem stoischen und augustinischen Verständnis des Willens gezogen werden kann, qualifizieren … Die Stoiker haben kein Konzept eines ursprünglichen Fehlers, der die Macht der Vernunft, dass Gute zu erkennen, und die Macht des Willens, dass Gute zu tun, einschränkt, selbst wenn das Gute erkannt wird. Sie hätten Augustins Lehre, dass wir ohne Gnade zwischen einer oder der anderen Sünde wählen müssen, da keine Handlung, die nicht in Liebe gründet, nichts anderes als sündig sein kann, weder erwogen noch verstanden.“

Mehr hier: www.evangelium21.net.

Lectio continua

Die fortlaufende Auslegungspredigt, bei der nacheinander biblische Bücher von ersten bis zum letzten Vers ausgelegt werden, war in der Kirche nicht selbstverständlich. Max Engammare beschreibt in seinem Aufsatz „Predigtkultur in der reformierten Schweiz während der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, wie diese Form der Verkündigung in den reformierten Kirchen Einzug hielt (in: Ariane Albisser;  Peter Opitz (Hg.), Die Zürcher Reformation in Europa: Beiträge der Tagung des Instituts für Schweizerische Reformationsgeschichte 6.-8. Februar 2019,  Zürich: TVZ, 2020. 548 S., S. 375–388, hier S. 378–379):

Als frühes Modell in der nicht-lutherischen protestantischen Welt funktionierte die Prophezei in Zürich nach dem Prinzip der lectio Continua, welches am besten für eine Neuübersetzung der Bibel, aber auch für die systematische Auslegung jedes biblischen Buches geeignet ist. Zwingli hat seine Wahl der lectio continua jedoch nicht formalisiert oder theoretisiert.

Wer die Zürcher Kirchenordnungen von 1520 bis 1627 konsultiert – mehr als ein Jahrhundert lang, hg. von Emidio Campi und Philipp Wälchli -, entdeckt viele Gebetstage (Bettag) und deren Beschreibung, bemerkt aber das Fehlen einer homiletischen Form im Korpus.7 Um mit Matthäus auf der Kanzel und mit Genesis in der Prophezei zu beginnen, ist die kontinuierliche Form des Predigens und der biblischen Erklärung zu bevorzugen. Bullinger und Gwalther und andere werden später das Gleiche tun.

So nahm beispielsweise am Sonntag, 16.7.1531, Oekolampad in Basel nach seiner Rückkehr aus Ulm (er hatte Basel am 11. Mai verlassen) den Zyklus des Markusevangeliums wieder auf, wie Bonifacius Amerbach in seinem Tagebuch notierte. Dies war die 112. Predigt in der Reihe. In meinem Buch habe ich gezeigt, dass Oekolampad (gestorben Ende 1531) in den 1520er Jahren sowohl Predigten nach dem Prinzip der lectio continua als auch bei einer bestimmten Gelegenheit durch bewusste Auswahl eines biblischen Textes oder einem auf der Kanzel ausgeführten Thema halten konnte, wobei er den brennenden und kontroversen Fragen der Eucharistie Vorrang einräumte.

Es ist jedoch klar, dass Oekolampad am Ende seines Lebens die Predigt nach der lectio continua bevorzugte, auch wenn das nicht seine Praxis während seiner Predigttätigkeit war.

Bei Calvin war das dominante, fast ausschliessliche homiletische Prinzip dasjenige der lectio continua, aber er erklärte seine homiletischen Prinzipien nie direkt. Es ist offensichtlich, dass der Reformator sich selbst als «ministre et prescheur de l’Evangile10» – «Pastor und Prediger des Evangeliums» – betrachtete, aber er spricht in seinen Kommentaren, seinen Predigten oder sogar in der Institutio nie von der lectio continua. Das Predigen des Wortes Gottes ist «Zeichen und Markierung der Kirche», während Gott der Autor des Predigens ist, rückt der Prediger in seinem magnum opus vor, wobei aber die Form des Predigens nicht erklärt wird.

Erasmus sagt in seinen Ecclesiastes nichts darüber, aber es ist anzunehmen, dass Calvin die Kraft der lectio continua während seines Aufenthalts in Straßburg zwischen 1538 und 1541 spürte, wobei er aber bereits früher im brieflichen Austausch mit Martin Bucer stand. Von 1525 an hatte sich Bucer daran gewöhnt, jeden Sonntag ein Kapitel oder eine Perikope des Evangeliums in lectio continua dem Volk zu erklären; im folgenden Jahr betraf die Praxis auch das Alte Testament für die Predigten der Woche. Calvins Praxis in Genf ist dem entsprechend anzunehmen.

R.C. Sproul: A Life

Nichols Sproul A lifeAm 14. Dezember 2017 verstarb R.C. Sproul im Alter von 78 Jahren. Timon Kubsch hat anlässlich seines Todestages die Biographie R.C. Sproul: A Life von Stephen J. Nichols besprochen:

Die Biografie ist mit viel Liebe zum Detail geschrieben und von großer Anerkennung für Sprouls Leben geprägt. Dabei lässt Nichols den Leser nicht nur einen zugeneigten Blick auf das werfen, was diesen treuen Mann Gottes geprägt hat. Vielmehr scheint es durch die privaten Details, die ausführliche Beschreibung des Lebensweges, die vielen Zitate von Sproul selbst und durch mehrere heitere Passagen fast so, als ob man R.C. Sproul selbst beim Lesen kennenlernt. Was dabei meiner Meinung nach etwas zu kurz kommt, ist die Frage, wie Sproul – neben all den theologischen Debatten – im privaten Leben mit Rückschlägen und Leid umgegangen ist. Außerdem könnte manch einen deutschsprachigen Leser nicht nur die englische Sprache, sondern auch das teils sehr spezifisch amerikanische Vokabular etwas abschrecken, welches eine gewisse Kenntnis des amerikanischen Kontextes voraussetzt. Nichtsdestotrotz ist R.C. Sproul: A Life eine lesenswerte Lektüre für jeden, der sich von dem Leben dieses gottesfürchtigen Mannes inspirieren und seinen Fokus wieder neu auf Gottes Heiligkeit und Größe ausrichten lassen möchte.

Mehr: www.evangelium21.net.

Papst setzt ein Signal gegen Konservative

US-Präsident Joe Biden, ein engagierter Kämpfer für die Abtreibung und die LTBGQ-Bewegung, sei laut Papst Franziskus ein guter Katholik und soll die Kommunion empfangen. Dabei will er die Abtreibungen bis zur Geburt erleichtern und sogar das Grundrecht auf Abtreibung einführen. Zu einer Kirche, die offiziell für den Lebensschutz eintritt, passt das nicht. Matthias Rüb schreibt für die FAZ: 

Auf die Frage, ob in dem Gespräch mit dem Papst vom Freitag auch das Thema Abtreibung zur Sprache gekommen sei, antwortete Biden am Samstagmittag vor amerikanischen Journalisten: „Nein, es kam nicht zur Sprache. Wir haben nur darüber gesprochen, dass er froh darüber ist, dass ich ein guter Katholik bin und dass ich weiter die Kommunion empfangen soll.“

Nach dem Gottesdienst vom Samstagabend sagte Pater Joe Ciccone, Hauptzelebrant der Abendmesse und Spender der Sakramente für die Bidens: „Die Kommunion vereint uns in Gott, unserem Herrn. Keiner von uns ist rein und perfekt. Wir alle haben Kämpfe zu bestehen in unserem Leben. Wir sind Heilige und Sünder zugleich.“ Damit brachte Pater Ciccone genau die Haltung von Papst Franziskus im Streit um die Kommunion für katholische Politiker zum Ausdruck, die sich entgegen der Lehre ihrer Kirche für das Recht auf Abtreibung einsetzen. So wie Joe Biden und Nancy Pelosi etwa.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Das Herman Bavinck-Archiv

Der Nachlass von Herman Bavinck (1854–1921) wurde in den 1950er Jahren der Freien Universität von Amsterdam (Niedelande) vermacht. Die Papiere sind inzwischen durch eine Kooperation zwischen dem Historischen Dokumentationszentrum für den niederländischen Protestantismus und dem Forschungsinstitut für Neo-Calvinismus (NRI) an der Theologischen Hochschule Kampen digitalisiert und öffentlich zugänglich gemacht worden.

Das Archiv enthält mehr als 900 Briefe an und von Herman Bavinck, Dokumente über sein persönliches Leben und seine Familie, Tagebücher, und Dokumente, die mit Bavincks öffentlicher Rolle als Pastor, Journalist, Politiker, Professor, Kirchenleiter und Autor zusammenhängen: Manuskripte, Notizbücher, Vorträge, Unterrichtsmitschriften.

Hier geht es zum Archiv: sources.neocalvinism.org.

Vor 100 Jahren starb Herman Bavinck

Mit freundlicher Genehmigung darf ich hier einen Artikel wiedergeben, den Dr. Jan Gerrit Beuker für die Zeitschrift Der Grenzbote verfasst hat (Nr. 5, 30. Mai 2021, S. 47–48):

Vor 100 Jahren starb Herman Bavinck

Herman Bavinck (1854 – 1921) ist der älteste Sohn von Jan Bavinck (1826 – 1909), der aus Bentheim stammte. Jan Bavinck war von 1848 bis 1853 der erste altreformierte Pastor, anfangs für die gesamte Niedergrafschaft, 1849 nur für Wilsum und Uelsen und 1850 bis 1853 nur für Uelsen. Von Uelsen aus wurde Jan Bavinck Dozent an der Theologischen Schule in Ruinerwold/Hoogeveen, wo er schon in seiner Studienzeit wie auch später in Uelsen angehende Theologen unterwiesen hatte.Eine Ernennung als Professor an der 1854 neu gegründeten Theologischen Schule in Kampen lehnte er ab. Er ließ über diese Entscheidung das Los den Ausschlag geben. Er arbeitete von 1853 bis 1857 zusätzlich als Pastor in Hoogeveen und von 1857 bis 1862 in Bunschoten. Nach zehn Jahren als Pastorin Almkerk-Nieuwendijk (1862 bis 1873) betreute er von 1873 bis 1903 die Gemeinde Kampen. Gleichzeitig gehörte er viele Jahrzehnte zur Leitung der Theologischen Schule Kampen. Jan Bavinck starb am 28. November 1909 in Amsterdam. WeitereInformationen über Jan Bavinck sind derBiografie zu entnehmen, die im Internet abrufbar ist: biografien/Biogr-Bavink-J-.pdf.

Sein Sohn Herman studierte 1873 in Kampen und 1874 bis 1880 in Leiden, wo er sein Studium mit der Promotion abschloss.1881/82 war er kurz Pastor in Franeker, 1882 wurde er Dozent an der Schule in Kampen, 1902 übernahm er einen Lehrstuhl an der Freien Universität (VU) in Amsterdam. Seine vierbändige Dogmatik ist in verschiedene Sprachen übersetzt, eine deutsche Übersetzung wird seit vielen Jahren vorbereitet. Seine Ethik ist vor kurzem in den Niederlanden neu erschienen.

Sein Buch Christliche Weltanschauung wurde 2007 in deutscher Sprache neu herausgegeben. Herman Bavinck schreibt darin über Fragen der Philosophie: Wie verhalten sich Denken und Sein und wie Sein und Werden zueinander? Oder: Welche Normen gibt es für rechtes Handeln? Bavinck meint, allein der christliche Glaube gibt befriedigende Antworten. Die englische Übersetzung war 2020 die Nummer eins der Amazon-Bestsellerliste für christliche theologische Literatur in den USA und in England. Allein vier verschiedene dicke Bücheraus den Jahren 1921, 1966, 2010 und 2020 beschreiben das Leben und die Wirkung von Herman Bavinck.

Die letzte Biografie von James Eglinton (Jg. 1982) zählt 2021 schon drei Auflagen und erscheint gerade in Chinesisch und Koreanisch. Die Monatsschrift „Protestants Nederland“ widmet Herman Bavinck die gesamte Nummer vom Februar 2021 mit etwa 60 Seiten. Autoren aus Korea, England, den USA und natürlich auch den Niederlanden würdigen seine Weitsicht. Er schrieb neben Dogmatik und Ethik auch über Pädagogik, Psychologie und Philosophie. Man nennt ihn wohl einmal einen „calvinistischen Alleskönner“.

Herman Bavinck versuchte im Dialog mit Abraham Kuyper, den christlichen Glauben und die moderne Welt miteinander ins Gespräch zu bringen. Er behielt die pietistische Einstellung seines Elternhauses, für die Wiedergeburt und Bekehrung wichtige Themen waren und wo man Gottes Willen mit dem Los erforschte und bestimmte Bibeltexte „bekam“, die einen Menschen versicherten, Gottes Kind zu sein. Diese abgeschiedene Frömmigkeit verband Bavinck schon in seinem Studium und dann auch lebenslang mit den Fragen der modernen Welt. Es war übrigens 1874 „unerhört“, dass der Sohn eines altreformierten Pastors nicht in Kampen, sondern in Leiden Theologie studierte. Bavinck wollte mehr als nur das eigene Seelenheil, das viele Altreformierte bekümmerte. Er wollte in einem guten Sinn die Welt mit dem christlichen Glauben gewinnen. Wenn Jesus Herr der ganzen Welt ist, dann ist unser ganzes Leben von ihm geprägt und nicht nur unsere Frömmigkeit oder unsere Gottesdienste.

In den USA, Korea, Asien oder auch Schottland ist Bavinck heute bekannter als in Mitteleuropa. Bavinck ruft dort bis heute auf, die Welt mit dem christlichen Glauben zu durchdringen. Es würde Europa gut tun, seine Stimme neu zu hören.

Dr. Gerrit Jan Beuker, Neuenhaus

VD: UN

Die Sekte der „Calviner“

41cNA6OeA8LAbraham Kuyper sagte in seiner Vorlesung über den Calvinismus (Calvinismus: Die Stone Lectures von 1898, 2021, S. 25–26):

Am häufigsten wird der Name Calvinist heutzutage noch angewandt als Bezeichnung für eine Sekte, nicht in protestantischen, aber in römischen Ländern, besonders in Ungarn und Frankreich. In Ungarn zählt die reformierte Kirche noch zweieinhalb Millionen Seelen, die von römischer Seite und in der jüdischen Presse beständig mit dem nicht offiziellen Namen „Calviner“ gebrandmarkt werden, ein nicht gerade liebenswürdig gemeinter Name, der auf die Glieder der reformierten Kirche dort auch dann angewandt wird, wenn sie die letzte Sympathie für den Glauben ihrer Väter bereits vollständig abgeschüttelt haben. Und auf dieselbe Erscheinung stößt man in Frankreich, vor allem in Südfrankreich, wo „Calvinistes“ ebenso und stärker noch ein Brandmal für Sektierer ist, wobei niemand mehr fragt, was der Gebrandmarkte persönlich glaubt oder bekennt, das vielmehr einem jeden aufgedrückt wird, der sich der „eglise reformee“ angeschlossen hat, auch wenn er Atheist geworden ist. Georges Thiebaud [1855–1915], bekannt durch seinen Antisemitismus, hat zugleich den Anticalvinismus wieder ins Leben gerufen, und bis in die Dreyfus-Affäre [1894ff.] hinein hat man „Juden und Calvinisten“ als die zwei antinationalen Mächte der Macht des „esprit gaulois“ gegenübergestellt. Dieser Gebrauch von „Calvinist“ als Sektenname stammt von den römischen Polemikern, die von Anfang an gewohnt waren, die in ihren Augen gefährlichste Form des Protestantismus unter dieser gehässigen Bezeichnung zu bekämpfen. Für die Kenntnis und Würdigung des Calvinismus dagegen ist diese erste Bedeutung des Namens „Calvinist“ nicht von der mindesten Bedeutung, da sie rein formal und äußerlich ist, ohne Rücksicht auf irgendein geistliches Bekenntnis.

Die Klarheit der Schrift bei Johannes Calvin

Alexandre Ganoczy und Stefan Scheld schreiben über die Klarheit der Schrift bei Johannes Calvin (Die Hermeneutik Calvins: geistesgeschichtliche Voraussetzungen und Grundzüge, 1983, S. 96–98):

Weil die Schrift durchsichtig, hell und klar ist, kann es keinen Zweifel an ihrer Wahrheit geben. Die ganze Schrift durchzieht nämlich im Grunde nur ein einziger Skopus bzw. Sinn: Jesus Christus. Das Alte Testament verheißt ihn; im Neuen Testament tritt er direkt in Erscheinung. Dies ist auch der Grund, warum Calvin übereinstimmend mit Bucer sagen kann, die Offenbarung Gottes im Alten und Neuen Bund sei in ihrem Wesen identisch. An der Einfachheit, Deutlichkeit und Klarheit der Epiphanie Gottes zu zweifeln, würde somit dem gesamten Duktus der Wortoffenbarung im Alten und Neuen Bund widersprechen. Gott hat sich in seinem Wort, das er den Urvätern und Propheten mitteilte und das er in Jesus Christus unüberbietbar und unüberhörbar ausspricht, in die Niederungen menschlichen Fleisches begeben. Er paßt sich unserem Verständnisvermögen an und handelt wie ein guter Pädagoge. Um allen Menschen einen Zugang zu seinem Wort zu verschaffen, äußert er sich sowohl in kunstvoller und gehobener Sprache als auch in einfacher und schlichter Rede.

Entsprechend bunt ist das Erscheinungsbild der biblischen Autoren. David, Salomon und Jesaja können als Dichterfürsten gelten, und auch Paulus und Lukas zeichnen sich durch Bildung aus, während sowohl die Propheten Amos, Jeremia, Sacharja als auch die Apostel Petrus, Johannes und Matthäus einfache Menschen waren.

Es kann daher nur ein Vorwand für mangelnde Verständnisbereitschaft sein, wenn behauptet wird, die Schrift sei dunkel oder ein Labyrinth. Calvin gibt zwar zu, daß es einige unklare Stellen in der Schrift gibt, aber diese sollen doch nicht dazu veranlassen, das Wort Gottes pauschal der Unklarheit zu bezichtigen. Gott spricht nämlich niemals ohne Grund und Zweck und enthüllt zu seiner Zeit den Sinn seiner Rede, wenn seine Worte im Herzen bewahrt werden.

Schrift und Vernunft bei Johannes Calvin

Die katholischen Calvin-Kenner Alexandre Ganoczy und Stefan Scheld schreiben über das Verhältnis von Schrift und Vernunft bei Johannes Calvin (Die Hermeneutik Calvins: geistesgeschichtliche Voraussetzungen und Grundzüge, 1983, S. 95):

Die Überzeugung, daß die Schrift in sich selbst wahr ist und keiner besonderen kirchlichen Approbation bedarf, drängt sich Calvin allerdings auch von einer Seite her auf, die nicht unmittelbar von der übernatürlichen Bestätigung durch das innere Geistzeugnis abhängt. Es gibt auch Vemunftgründe, die die unbezweifelbare Autorität der Schrift eindrucksvoll stützen. Calvin spricht hier ausdrücklich nicht von Beweisen, wohl aber von Hilfsmitteln, die den Glauben an das Wort Gottes in der Schrift nicht unvernünftig erscheinen lassen. Solche Hilfsmittel sind für ihn die innere Ordnung, Konvenienz, Eloquenz und das hohe Alter der Schrift sowie die Beobachtung, daß sich Verheißungen der Schrift erfüllt haben. Den Glauben kann man auf diese Gründe allein zwar nicht stützen, aber es ist doch bemerkenswert, wie Calvin Geistzeugnis und Vernunft nicht etwa in ein dialektisch-antithetisches Verhältnis zueinander setzt, sondern eine Konvenienz beider annimmt, die der Sicherheit des Glaubens zugute kommt. Wir werden dieser Struktur theologischen Denkens, die darin besteht, Gnade und Glaube als das Grundlegende zu betrachten, das Natürliche aber zur Unterstützung beizuziehen, noch öfter begegnen. Dieser Denkansatz erscheint katholisch und hinsichtlich Anselms Prinzip „fides quaerens intellec-tum“ auch traditionsgemäß, obgleich auffällt, daß Calvin sowohl das Geistzeugnis als auch die Vernunft zunächst nicht an eine bestimmte Kirchlichkeit zurückbindet. Dies hängt mit dem Bestreben des Reformators zusammen, wie seine Mitreformatoren und manche spätmittelalterlichen Schrifttheologen Schrift und Kirche zunächst zu trennen, um dann von der Schrift her kritisch gegen die Mißstände kirchlicher Lehre und Praxis vorzugehen. Legitim ist dies für Calvin, weil die Schrift und das mit ihr verbundene Geistzeugnis ihre Glaubwürdigkeit in sich selbst tragen, und die Vernunftgründe für die Schriftautorität nicht von kirchlichen Urteilen abhängen.

Nach oben scrollen
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner