Emmanuel Todd: Niedergang des Westens

1976 sagte der französische Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd den Zusammenbruch der Sowjetunion voraus. Jetzt spricht er davon, dass der Westen untergeht, weil es nichts mehr gibt (vor allem keine Religion), was ihn zusammenhält. Mich kann er nicht in allem überzeugen. Doch erkenne ich indem, was er in seinem Buch La Défaite de l’Occident und der WELT in einem Interview gesagt hat, einige Wahrheitsmomente. Wenn er das sinkende Bildungsniveau benennt und davon spricht, dass die Trans-Ideologie Ausdruck des Nihilismus ist, der sich im Westen ausgebreitet hat, dann stimme ich zu.

Hier zwei Zitate: 

In meinem Buch lasse ich die Luft aus dem Bruttoinlandsprodukt der USA und zeige die tief greifenden Ursachen für den industriellen Niedergang des Landes auf: die unzureichende Ausbildung von Ingenieuren und ganz allgemein ein seit 1965 sinkendes Bildungsniveau. Der zweite Faktor, der maßgeblich zum Untergang des Westens beigetragen hat, ist das Verschwinden des amerikanischen Protestantismus. Mein Buch ist im Grunde eine Fortsetzung von Max Webers Buch „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“.

Ich wurde von einer Großmutter aufgezogen, die mir erklärte, dass in sexueller Hinsicht alle Vorlieben auch in der Natur vorkommen, und ich bin meinen Vorfahren treu. Willkommen also, LGB. Was das T betrifft, also das Thema Trans, das ist doch etwas anderes. Die betroffenen Personen müssen natürlich geschützt werden. Doch die Fixierung der westlichen Mittelschicht auf dieses Thema, das doch nur eine winzige Minderheit betrifft, wirft eine soziologische und historische Frage auf. Am sozialen Horizont jedoch die Vorstellung zu konstituieren, dass ein Mann tatsächlich eine Frau und eine Frau ein Mann werden kann, das bedeutet, etwas biologisch Unmögliches zu behaupten, die Realität zu leugnen und etwas Falsches zu verbreiten. Die Trans-Ideologie ist meiner Ansicht nach eine der Fahnen des Nihilismus, die mittlerweile den Westen bestimmen, und ein Drang zur Zerstörung, nicht einfach nur der Dinge und Menschen, sondern auch der Realität.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Lernende in Sachen Demut

In dem Artikel „Lernende in Sachen Demut“ erörtert Thomas Jeising Hochmut, Demut und falsche Demut. Er schreibt: 

Martin Luther zeigt im ganzen Zusammenhang, wie wichtig es ist, dass Christen jeder Obrigkeit untertan sind und sich auch einander unterordnen. Luther hält fest, dass Unterordnung in den weltlichen Sachen von allen Christen gefordert ist, dass man der Obrigkeit – welcher Art sie auch ist – aber widerstehen muss, wenn sie sich gegen den Glauben an Christus stellt und einen anderen Glauben fordert. Allerdings betrifft das nicht die Liebe zu den Menschen. Die Liebe ist immer demütig. Sie liebt sogar die Feinde des Evangeliums. Aber der Glaube, der darf sich nicht gegen Gottes Wahrheit und sein Evangelium unterordnen und sich vor falscher Lehre demütigen.

Offenbar ist das bei vielen Christen heute anders. Man ist bereit, sich und das eigene Gewissen vor allen möglichen falschen Lehren zu demütigen. Müsste man nicht zuerst vor Gott demütig sein, sich unter seine gewaltige Hand beugen (vgl. 1Petr 5,6), sowie sein Wort und seine Wahrheit anerkennen? Oft wird dann die Liebe zu den Menschen mit Demut vermischt oder verwechselt. Aus Liebe zu Menschen Kompromisse in Sachen des Glaubens zu machen, kann nicht richtig sein. Menschen zu lieben, selbst wenn man ihnen klar und scharf widersprechen muss, das ist biblisch. Es ist doch so: „Unglaub’ und Torheit brüsten sich frecher jetzt als je“. Das dichtete Philipp Spitta schon vor 200 Jahren. Aber es ist seitdem nicht besser geworden. Nur beugen sich jetzt vor dem Unglauben und der offensichtlichen Dummheit Christen, die es aus Gottes Wort besser wissen könnten. Paulus meint, dass selbst Gottes „Torheit“ noch klüger ist als die größte menschliche Weisheit (vgl. 1Kor 1,25).

Mehr: www.evangelium21.net.

A. Schlatter: Die Apathie als Problem

Adolf Schlatter hatte schon vor 110 Jahren erkannt, dass die Gefühlsarmut des deutschen Protestantismus problematisch ist (Die christliche Ethik, 5. Aufl., 1986, S. 323–324):

Dem, der in seiner Vereinsamung und Getrenntheit von Gott seinen Blick nur auf seinen eigenen Lebensstand richtet, erscheint die Aufgabe, das Gewoge seiner Empfindungen zu regieren, leicht als unausführbar. Dann sucht er in der Herstellung der Unempfindlichkeit das Mittel, das ihn gegen seine Empfindungen schützen soll. So entsteht die mehr oder weniger planmäßige, mehr oder weniger vollständige Abstumpfung der Lust und des Schmerzes, die verhüten soll, daß sie unser Denken stören und unsere Begehren erregen. Diese Methoden sind für die Christenheit nicht brauchbar, weil wir uns damit dem natürlichen Gesetz unseres inwendigen Lebens entziehen und weil uns die Gemeinschaft mit Gott die Freude, unser Widerstreben gegen Gott den Schmerz in neuer Stärke bringen und gerade dadurch unserem Leben die Richtung zu Gott hin geben. Auch die gemilderte Regel, daß wir die Empfindungen zwar nicht völlig verdrängen, jedoch schwächen, uns nur maßvoll freuen und nur mäßig leiden sollten, verlockt uns zur Unnatur. Sie wird uns nicht nur als „Bildung“ empfohlen, sondern auch von der evangelischen Ethik vertreten, sowie sie uns nur negative Ziele zeigt und nur das „Nichtsündigen“ gebietet. Dieses Ziel scheint leichter erreichbar zu sein, wenn wir nur kümmerlich fühlen. Das ergab den Schein, daß die jenseits der Kirche Lebenden neben denen, die die Kirche erzog, die Gesunden seien, weil nur jene stark empfänden, während aus der christlichen Erziehung nur ein leidenschaftsloses, gedämpftes Fühlen entstehe. Darum wandten sich seit dem „Sturm und Drang“ des 18. Jahrhunderts die, die sich weigerten, ihre Gefühle zu verdrängen, und eine starke Leidenschaft als eine Bereicherung des Lebens priesen, nicht nur gegen die Vernünftigkeit der Aufklärung, sondern auch gegen die Sittlichkeit der Kirche, die ihnen als eine künstliche Dressur der Gefühle erschien.

Wissenschaft als Abenteuer

Die Öffentlichkeitsarbeit der Hochschulen nähert sich dem Marketing an. Innovatoren und Experten sind gefragt, Intellektuelle stören nur – meint Markus Steinmayer in seinem Beitrag für die FAZ:

Ein Blick in den Pressespiegel einer beliebigen Universität zeigt allerdings das Gegenteil. Die Forschung an der Universität verspricht jederzeit, das Leben leichter und die Lage erträglicher zu machen. Wir haben, frivol formuliert, unsere „Erklärbären“ an den Instituten. So bietet die Leibniz-Gemeinschaft eine Art Speeddating für das interessierte Publikum an: „Bei ‚Book a Scientist‘ haben alle Neugierigen und Wissensdurstigen die Chance, sich 25 Minuten lang mit einer Expertin oder einem Experten der Leibniz-Gemeinschaft auszutauschen und alles zu fragen, was sie schon immer zu ihrem Lieblingsthema wissen wollten.“

Man kann in dieser Anpassung an die Marketingkommunikation eine Form des akademischen Kapitalismus sehen. Julika Griem schreibt: „Aber es kann nicht nur darum gehen, Personen, Drittmittelrekorde oder ganze Hochschulen zu verkaufen wie Schokoriegel oder Kleinwagen.“

Die Anpassung an ökonomische Formate bleibt nicht folgenlos. Es verschwindet der streitbare Intellektuelle aus der Universitätskommunikation. Er wird durch den Experten ersetzt. Der Experte fungiert als das personifizierte Spezialgebiet, als inkarnierte gesellschaftliche Herausforderung. Der Intellektuelle als Antagonist des Experten wie des Aktivisten stellt zwar möglicherweise die richtigen, aber eben auch schwierige oder heikle Fragen. Er wird als Störfaktor wirkungsorientierter Kommunikation inkriminiert. Wo es ihn wider Erwarten neben all den Experten für Stauforschung, Künstliche Intelligenz, Viren und Politikmanagement immer noch gibt, wird er als „regressiver Gegner des sozialen Wandels“ betrachtet. Für populäre Wissenschaftskommunikation im beschriebenen Sinne ist er nicht geeignet. Er ist ein Relikt, bisweilen noch anzutreffen, aber funktionslos geworden.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.faz.net.

Empfehlenswerter Bücher zum Thema „Pornographie“

David, Betreiber der Internetseite Unbeschwert laufen, hat eine hilfreiche deutschsprachige Liste empfehlenswerter Bücher zum Thema „Pornographie“ zusammengestellt. Eine sehr gute Ressource für Betroffene, die tiefer gehen wollen; Gruppenleiter; Jugendleiter u. Jugendmitarbeiter; Pfarrer/ Pastoren u. Gemeindeleiter u. Älteste; Gemeindemitarbeiter; Seelsorger u. Berater.

Die Liste kann in zwei Versionen hier jeweils als PDF-Datei heruntergeladen werden: unbeschwert-laufen.de.

Folgen der Bildschirmzeit bei Kindern

Kleine Kinder unter drei Jahren sollten keine Zeit vor Bildschirmen und Fernsehern verbringen. Dennoch passiert es. US-Forscher haben die Auswirkungen untersucht. Die Ergebnisse sind beunruhigend – und sollten Eltern alarmieren. DIE WELT schreibt:

Bei einjährigen Kindern führte jede Bildschirmaktivität zu einer um 105 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit, „starke“ sensorische Verhaltensweisen anstelle von „typischen“ zu zeigen – verglichen mit Kindern, die nicht fernsahen. Die „starke“ Sinneswahrnehmung war bei den knapp drei Jahre alten Kindern bereits mit einer Wahrnehmungsstörung verbunden.

Bei zweijährigen Kindern führte jede zusätzliche tägliche Stunde vor dem Bildschirm zu einer 20 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit, nach 33 Monaten eine „hohe“ Sensationslust oder ausgeprägte Sinnesvermeidung zu entwickeln.

Die Liste der Beeinträchtigungen ist lang. Forscher beobachten bei Säuglingen und Kleinkindern in diesem Zusammenhang Schlafstörungen, verminderte Aufmerksamkeit und Sprachverzögerung; Probleme werden von ihnen nur verzögert gelöst. Auf die Entwicklung von ADHS und Autismus, so die Vermutung, kann sich verstärkte Bildschirmzeit ebenfalls auswirken.

Laut einer wissenschaftlichen Recherche verbrachten im Jahr 2014 Zweijährige und Jüngere in den USA täglich durchschnittlich drei Stunden und drei Minuten pro Tag vor dem Bildschirm. 1997 hatte die Zahl noch bei 79 Minuten gelegen. Die American Academy of Pediatrics (AAP) rät bei Kindern unter zwei Jahren davon ab, vor dem Bildschirm zu sitzen oder liegen. Live-Video-Chat wird von der AAP als möglich erachtet, da die stattfindende Interaktion einen eventuellen Nutzen bringt, etwa im Austausch mit Großeltern.

Die wichtigste Aussage lautet meines Erachtens: „Nicht nur die Zeit vor dem Bildschirm wirkt sich entscheidend auf die Wahrnehmungsfähigkeiten der Kinder aus. Sondern ebenso, dass sie dabei alleine sind, ohne Eltern und Interaktion mit der realen Welt. Die mangelnde Beschäftigung mit Bezugspersonen schadet den Kleinkindern ebenfalls. Etwas fehlt.“

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Päivi Räsänen: Staatsanwaltschaft lässt nicht locker

Am 14. November 2023 habe ich hier über den einstimmigen Freispruch von Päivi Räsänen berichtet. Sie und ein befreundeter Bischof mussten sich vor Gericht verantworten, weil sie sich in einer sexualethische Debatte zu biblischen Positionen bekannt hatten. Räsänen und Bischof Pohjola wurde freilich in allen Anklagepunkten freigesprochen.

Doch die finnische Staatsanwaltschaft wird gegen das zweite einstimmige Gerichtsurteil Berufung einlegen, meldet ADF International. Die Staatsanwaltschaft fordert demnach Zehntausende von Euro an Geldstrafen und besteht darauf, dass die Veröffentlichungen von Räsänen und Pohjola zensiert werden.

Päivi Räsänen kommentiert das Vorgehen der Staatsanwaltschaft: 

Nachdem ich vor zwei Gerichten einstimmig freigesprochen wurde, habe ich keine Angst vor einer Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof. Auch wenn mir bewusst ist, dass jeder Prozess Risiken birgt, würde ein Freispruch durch den Obersten Gerichtshof einen noch stärkeren positiven Präzedenzfall für das Recht aller Menschen auf freie Meinungsäußerung und Religionsfreiheit schaffen. Und sollte der Gerichtshof beschließen, die Freisprüche der unteren Gerichte aufzuheben, bin ich bereit, die Rede- und Religionsfreiheit notfalls bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu verteidigen.    

Im 21. Jahrhundert wird die Nachfolge jeden Jünger etwas kosten

Timothy Paul Jones hat im Februar 2023 am Seminar der Südlichen Baptisten (Louisville, Kentucky, USA) einen bemerkenswerten Vortrag über die Verteidigung des christlichen Glaubens gehalten (in der Fachsprache „Apologetik“). Ähnlich wie James R. Wood in seinem Aufsatz „Warum ich mich von Tim Kellers Apologetik abgenabelt habe“ (Glauben und Denken heute, Nr. 22/2022, S. 28–30), macht Jones darauf aufmerksam, dass die Apologetik nicht länger davon ausgehen darf, die Gesellschaft sei für die Option der christlichen Sichtweise aufgeschlossen. Die Zeit, in der die westliche Kutlur gegenüber dem Christentum hin- und hergerissen war, sei vorbei. Die Stimmung sei inzwischen so sehr gekippt, dass die Kirche für die Probleme in der Welt verantwortlich gemacht würde. 

Timothy Paul Jones erwartet dabei interessanterweise nicht, dass die Apologetik viele Menschen überzeugt. Vielmehr sei sie notwendig, um den gesellschaftlichen Anspruch der christlichen Kirche zu verteidigen. Vor allem gebrauche Gott die „neue Apologetik“, um seine Kirche dafür zuzurüsten, beharrlich ihren Glauben trotz Gegenwind öffentlich zu praktizieren und verkündigen. Er schreibt („Brothers and Sisters, We Are All Apologists Now“, SBJT, Nr. 27/2, 2023, S. 110-127, hier S. 122): 

Ich bin nicht sonderlich zuversichtlich Blick darauf, dass diese Argumente [für den christlichen Glauben] irgendeinen zeitgenössischen säkularen Progressivisten davon überzeugen werden, dass christliche Berufe und Praktiken gut für die Welt sind. Soweit man das heute beurteilen kann, haben die Entschuldigungen von Aristides, Justin und Athenagoras die kaiserliche Wahrnehmung des Christentums nicht verändert. Im zweiten Jahrhundert standen die schlimmsten Verfolgungen ja noch bevor. Warum also habe ich Ihnen diese antiken Beispiele angeführt? Und warum habe ich es gewagt, zu erklären, dass wir jetzt alle Apologeten sind? Nicht, weil ich erwarte, dass diese Praktiken jeden Säkularisten vom sozialen Nutzen des Christentums überzeugen werden. Sondern weil Gott uns durch Handlungen wie diese zu einer Gemeinschaft formt, die über den Aufstieg und Fall jeder Macht, die sich der Wahrheit Gottes widersetzt, hinaus Bestand hat. Was durch diese besonderen Handlungen wahrscheinlich Gestalt annimmt, ist nicht die Überzeugung der Welt, sondern die Formung eines Volkes – eines Volkes, das beharrlich seinen Glauben öffentlich praktiziert und verkündet.

Ich sehe die Dinge etwas hoffnungsoller als Jones und bete weiterhin für ein geistlichen Erwachen in Europa. Nichtsdestotrotz erkenne ich einen bedeutsamen Wahrheitsmoment in seiner Argumentation. Apologetik ist nicht nur für das Erreichen der Menschen draußen notwendig, sondern auch für die Zurüstung der Gemeinde. Und: Es wird uns in Zukunft etwas kosten, unseren Glauben öffentlich zu bekennen.

Der Aufsatz „Brothers and Sisters, We Are All Apologists Now“ kann hier heruntergeladen werden: SBJT-27.2-We-are-All-Apologists-Now-Timothy-P.-Jones.pdf.

Auch Christen brauchen das Evangelium

Vor etwa zwanzig Jahren hörte Derek Thomas Jerry Bridges auf einer Konferenz in Iowa. Bei einem seiner Vorträge erklärte er, warum auch Christen das Evangelium brauchen. Ein Anlaß für Thomas, den Artikel „Auch Christen brauchen das Evangelium“ zu schreiben. Darin heißt es: 

Manchmal kann ein schlechtes Gewissen aus einem übertrieben sensiblen Geist resultieren. Schon die kleinste Übertretung kann manche an einen Ort der Finsternis und Verzweiflung treiben. Der Apostel Johannes spricht diese Angelegenheit in seinem ersten Brief an: „Und daran erkennen wir, dass wir aus der Wahrheit sind, und damit werden wir unsere Herzen vor Ihm stillen, dass, wenn unser Herz uns verurteilt, Gott größer ist als unser Herz und alles weiß.“ (1Joh 3,19–20). Allzu leicht ist es möglich, dass sich unser Gewissen Gottes Zusicherung in den Weg stellt. Unser Herz verdammt uns dort, wo das Evangelium uns vergibt. Johannes zeigt den Ausweg: Eine Anwendung der Medizin des Evangeliums ist größer als unser Herz. Ein Gewissen, das uns verurteilt (ob vor oder nach unserer geistlichen Wiedergeburt), sollte auf Christus blicken und seine Vergebung empfangen. In den Worten von Joseph Hart: „Lass dich nicht von deinem Gewissen treiben“ (aus dem alten Kirchenlied „Come Ye Sinners, Poor and Needy“).

Mehr: www.evangelium21.net.

Fall einer Bloggerin

Die Bloggerin Rona Duwe äußerst sich pointiert kritisch zum Selbstbestimmungsgesetz und liefert sich im Internet Debatten mit Transgender-Aktivisten. Nun lädt die Polizei sie zur erkennungsdienstlichen Behandlung vor. Ihr Anwalt bezeichnet das Vorgehen der Polizei als „absolut unüblich“.

Ich empfehle die Lektüre des WELT-Beitrags von Anna Kröning. Darin heißt es: 

Was ihr aktuell vorgeworfen wird, das ist weder für Duwe noch für ihren Rechtsanwalt nachvollziehbar. Duwe geht davon aus, dass auch dahinter politisch motivierte Gruppen stehen, die versuchten, sie mit einer Flut von Anzeigen und Beschwerden zum Schweigen zu bringen – offenbar mit Erfolg, da auch die Polizei sie wie eine „Verbrecherin“ behandle: „Ich halte diese erkennungsdienstliche Vorladung für einen Einschüchterungsversuch.“

Ihr Anwalt Lammers setzt sich mit der Polizei in Verbindung, versucht, die Angelegenheit zu klären. Lammers beantragt bei der Staatsanwaltschaft Einsicht in Akten des von der Polizei erwähnten Ermittlungsverfahrens, welches Anlass für die erkennungsdienstlichen Maßnahmen sein soll. Er erhält eine solche Akteneinsicht bis heute nicht. Schriftlich erläutert Lammers der Polizei, weshalb er die beabsichtigte Vorladung für rechtswidrig halte. Gleichwohl erlässt die Polizei am 8. Dezember 2023 einen Vorladungsbescheid gegen Duwe – unter anderem zur Aufnahme von Zehnfinger- und Handflächenabdrücken.

Wie viele dieser „politisch initiierten“ Verfahren inzwischen bundesweit geführt wurden, ist bislang nicht erfasst, doch habe das Thema in den vergangenen Jahren und der Debatte um das Selbstbestimmungsgesetz deutlich an Fahrt aufgenommen, beobachte Jacob. Die Aussage, es gebe von Natur aus Männer und Frauen, könne inzwischen zu persönlichkeitsrechtlichen Verfahren führen, könnten in Zukunft von Gerichten im Einzelfall als Beleidigungsdelikte gewertet werden, sagt Jacob. Dass mit dem geplanten Selbstbestimmungsgesetz jeder Mensch ab 14 Jahren in Deutschland sein juristisches Geschlecht im Personenstand selbst definieren darf und eine objektive Überprüfung nicht mehr nötig ist, könne zivilrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Etwa dann, wenn öffentlich ein sogenanntes drittes Geschlecht oder ein fluider Geschlechtsbegriff angezweifelt wird.

Mehr: www.welt.de.

Oswald Bayer: Über Selbsteinschätzung und Eingeschätztwerden

Wer bin ich? Obwohl die es im Hier und Jetzt keine erschöpfende Antwort auf diese Frage gib, darf ich doch wissen, dass meine Identität in guten und starken Händen von Ewigkeit zu Ewigkeit aufbewahrt ist. Oswald Bayer schreibt (Leibliches Wort, 1992, S. 33–34):

Angesichts der unentrinnbaren Selbstbelastung durch das Gesetz und die von ihm geforderte Gerechtigkeit wird verständlich, welche Entlastung und Befreiung das Wort vom Glauben als Werk Gottes ist: Weil für den Glauben – das heißt: für mich selbst – Gott allein verantwortlich ist, habe ich von mir selber Distanz und bin so frei, aus mir herauszugehen – auf Gott, den anderen und alle Kreaturen zu.

Die Selbsteinschätzung und das Eingeschätztwerden, das Beurteiltwerden von anderen bleibt zwar die Realität des alltäglichen Rechtfertigungszusammenhanges: Ich muß mit dem Bild, das ich von mir selber, von meinen Fähigkeiten und Schwächen habe, umgehen; ich muß berücksichtigen, wie andere mich sehen und beurteilen.

Das Entscheidende und das Befreiende des Glaubens ist nun aber, daß diese tägliche – bis zum Tod notwendige – Balance zwischen Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung nicht das Erste und nicht das Letzte ist. Wir sind nicht dazu verdammt, sondern dazu befreit, in dieser Balance zu leben, die durchdrungen und umgriffen ist von Gottes rechtfertigendem Wort.

Unübertrefflich hat davon Dietrich Bonhoeffer in seinem Gedicht „Wer bin ich?“ geredet. Bin ich das, was ich selbst von mir weiß? Oder bin ich das, was andere von mir sagen? Diese Fragen werden nicht weggeblasen; sie verschwinden nicht. Gleichwohl: „Wer ich auch bin“ – ich kann das dahingestellt sein lassen –, „Du kennst mich, dein bin ich, o Gott!“

Im Gebet ist die Frage „Wer bin ich?“ nicht beantwortet, aber in gute Hände weggegeben – in der Gewißheit, daß für mich selbst von Ewigkeit zu Ewigkeit gesorgt ist. Damit bin ich mir selber entzogen – in einer barmherzigen und gnädigen Weise entzogen. Die Freiheit, die sich daraus ergibt, besteht nicht zuletzt darin, daß ich über mich selber kein letztes Urteil sprechen muß und daß das, was andere über mich sagen, kein letztes Urteil ist, sondern immer nur ein vorletztes. Ich muß also keine definitive Bilanz ziehen, sondern darf hier alles das Vorletzte sein lassen und mit Unfertigem leben.

Dramatisieren die Medien Schwangerschaftskonflikte?

Ich finde es erschreckend, wie unkritisch die FAZ Ansichten von Abtreibungsbefürtwortern propagiert und infolgedessen auch noch groben Unfug verbreitet. In dem Interview „Frau allein, traurig, depressiv“ darf die Filmemacherin Franzis Kabisch darlegen, wie es Abtreibungsgegner gelungen ist, mittels Fotos und bildgebender Verfahren die Kritik an Schwangerschaftsabbrüchen zu untermauern. Den Interviewer Matthias Dell, (schreibt auch für ZEIT, SPIEGEL und DEUTSCHLANDRADIO) scheint es zu erfreuen, wenn über die spielerische Leichtigkeit bei der seelischen Verarbeitung von Abtreibungen berichtet wird. 

Konkret: Kabisch behauptet: 

Mit der Personalisierung des Fötus. Viele Forscherinnen markieren das als einen wichtigen Punkt. Der Fötus wurde instrumentalisiert von rechten Gruppen – als eigene Person, die, wie die Historikerin Barbara Duden das nennt, zum „öffentlichen Fötus“ wurde. Der braucht nichts, sondern ist autonom und universal. Diese völlige Loslösung von der Schwangeren hat es einfach gemacht, sich für den Fötus einzusetzen. Der wird dagegen auch nie Widerstand leisten und so vereinnahmt für einen „Lebensdiskurs“, in dem die schwangere Person ihm entgegengesetzt ist als Bedrohung. Dabei ist niemand automatisch ein autonomer Mensch, auch das Baby braucht nach der Geburt Fürsorge, Nahrung.

Was passiert hier: Menschen, die davon überzeugt sind, dass auch ein ungeborenes Kind Person ist, werden in die rechte Ecke gestellt. Zugleich wird die These aufgestellt, dass diese Leute meinten, ein Fötus sei autonom und könne von einer schwangeren Frau völlig losgelöst betrachtet werden. Beide Behauptungen sind falsch.

Erwartbar wird in dem gesamten Interview auf das Forschungslage zur Situation der Frauen gar nicht eingegangen. Vermittelt werden soll: Die allermeisten Frauen sind glücklich mit ihrer Entscheidung, abgetrieben zu haben. Was über die Medien – insbesondere durch Bilder – vermittelt wird, dass nämlich Föten Personen seien und Frauen, die abgetrieben haben, Selbstzweifel hätten, ist nur konstruierte Wirklichkeit.

Dass der STERN 1971 mit seine Kampanie „Ich habe abgetrieben“ Frauen bewusst „in Szene gesetzt“ hat, wird nicht einmal erwähnt. Im Gegenteil! Kabisch behauptet: „Es stehen sogar die Namen darunter. Und die Frauen sehen eigentlich alle zufrieden aus, erleichtert oder einfach so, wie man sich Menschen im Alltag vorstellt, die nicht für ihr Leben traumatisiert sind.“

Haben die Kulturwissenschaftlerin Franzis Kabisch und der Medienjournalist Matthias Dell übersehen, dass es ein großer Bluff war, als Romy Schneider, Senta Berger und Alice Schwarzer zusammen mit 371 anderen Frauen im Stern bekannten „Wir haben abgetrieben!“? Alice Schwarzer hat zum Beispiel schlicht gelogen: „Aber das spielte keine Rolle. Wir hätten es getan, wenn wir ungewollt schwanger gewesen wären“ (vgl. hier).

Wenden wir uns kurz von der medialen Wirklichkeit ab. Die Ärztin Angelika Pokropp-Hippen zitiert in ihrem Aufsatz über das Post Abortion Syndrom (PAS) aus einer Studie des Elliot Institutes, bei der 260 Frauen von 15 bis 35 Jahren aus 35 verschiedenen Staaten der USA zu ihrem Gefühlszustand nach der Abtreibung befragt wurden: 

  • 92,60% der befragten Frauen leiden an starken Schuldgefühlen
  • 88,20 % leiden an Depressionen
  • 82,30 % haben ihr Selbstwertgefühl verloren
  • 55,80% haben Selbstmordgedanken
  • 66% beendeten die Beziehung zu ihrem Sexualpartner nach der Abtreibung
  • 40,60% begannen, Drogen zu nehmen
  • 36,50% flüchteten in den Alkohol

Johannes Gonser setzt sich in seinem Buch Abtreibung – ein Menschenrecht?: Argumentationshilfen zur Debatte um den Schwangerschaftsabbruch übrigens gründlich mit der Frage auseinander, ob ein ungeborener Mensch Person ist oder nicht. Das Buch ist meiner Meinung nach ein wichtiger Debattenbeitrag.

Geerhardus Vos: Das Reich Gottes

Der in den Niederlanden geborene Geerhardus Vos (1862–1947) war von 1893 bis 1932 Professor für Biblische Theologie am Princeton Theological Seminary (USA). Er ist bekannt geworden für seine Pionierarbeit im Bereich der sogenannten „Biblischen Theologie“, als deren „Vater“ er gelegentlich bezeichnet wird. Er gehört zu jenen Theologen, die an die vollständige Inspiration der Heiligen Schrift glaubten und ihr die höchste Autorität in allen Fragen einräumten und zugleich akademisch auf dem höchsten Niveau arbeiteten. Vos zeigte und begründete in seinen Vorlesungen und Schriften, dass Gottes erlösende Offenbarung als ein sich organisch entfaltender historischer Prozess erfolgt und das diese Einsicht für die Auslegung der Schrift sehr bedeutsam ist.

Bis vor Kurzem sind nach meinen Wissen keine Schriften von Geerhardus Vos in deutscher Sprache erschienen. Umso erfreulicher ist es, dass der Betanien Verlag inzwischen das kleine Buch Das Reich Gottes und die Gemeinde publiziert hat. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe heißt es (S. 8–10):

Das vorliegende Buch schrieb Vos im zweiten Jahrzehnt seiner Professur in Princeton im Jahre 1903 und somit ist es eines seiner früheren Werke. Es entstand zu einer Zeit, als er und seine Frau Catherine nach neun Ehejahren endlich ihr erstes Kind bekamen und er tägliche Mittagsspaziergänge mit Benjamin B. Warfield unternahm, denen sich oft auch weitere Princeton-Theologen wie J. Gresham Machen anschlossen. Kurz zuvor hatte Vos begonnen, neben seiner akademischen Tätigkeit auch allgemeinverständliche Artikel für eine breite Zielgruppe zu schreiben und in einem neuen Journal namens „The Bible Student“ zu veröffentlichen, das ein bibeltreues Schriftverständnis unter Christen fördern sollte. Seine Schriftauslegung in diesen Artikeln hatte dabei einen starken heilsgeschichtlichen Fokus. „Das Reich Gottes und die Gemeinde“ ist die Weiterentwicklung einiger Artikel und Rezensionen, die Vos in „The Bible Student“ veröffentlich hatte. Er wollte mit diesen Artikeln damals aufkommende irrige Sichtweisen des Reiches Gottes korrigieren, die insbesondere aus deutschsprachiger Richtung die bibeltreue Theologie zu beeinflussen begannen: So verbreitete der deutsche Theologe Wilhelm Lütgert (ein Schüler Adolf Schlatters) eine allein diesseitige Sicht des Reiches Gottes; der Schweizer Paul Wernle publizierte ein Buch über seine rein eschatologische Auffassung des Reiches. Andere jüngere theologische Richtungen vertraten eine strikte Trennung zwischen Reich Gottes und Gemeinde, insbesondere der von John Nelson Darby eingeführte Dispensationalismus, der auch unter den Old-School-Presbyterianern, denen Vos angehörte, Anklang fand. Die Darstellung und Kritik falscher Auffassungen nimmt jedoch nicht sonderlich viel Raum in diesem Buch ein; Vos legt den Schwerpunkt auf eine konstruktive Darlegung dessen, was der Herr Jesus ganz in Harmonie mit dem AT und mit Paulus über Gottes Königsherrschaft lehrt. Da das Thema Reich Gottes einer der ganz großen „roten Fäden“ der biblischen Heilsgeschichte ist – wenn nicht sogar das eine große vereinende Thema der Bibel kommt Vos’ theologische Brillanz als Experte für heilsgeschichtliches Verständnis hier besonders gut zum Ausdruck.

Geerhardus Vos soll noch selbst zu Wort kommen. Über den Glauben sagt er, dass letztlich Gott diesen im Menschen wirkt, er also ein Geschenk von oben ist. Leider muss das innerhalb der evangelikalen Szene heute wieder herausgestellt werden, da in ihr die Anschauung verteidigt wird, der Glaube sei ein Werk des Menschen. Vos schreibt (S. 110):

In letzter Analyse ist Glaube gemäß Jesu Aussage eine Gabe Gottes. Glaube muss das Werk Gottes im Menschen sein, denn nur so lässt er sich mit der Erkenntnis in Einklang bringen, dass wir alles dem Wirken Gottes für uns und in uns verdanken. Der Vater ist es, der den unmündigen Kindern das offenbart, was er „vor Weisen und Verständigen verbirgt“ (Mt 11,25). Jesus betet für Petrus, dass sein Glaube nicht aufhört. Gebet ist also ein Anerkennen, dass das, wofür wir beten, abhängig ist vom Willen und Wirken Gottes. Als Petrus bekannte: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16), antwortete Jesus, dass nicht Fleisch und Blut ihm dies offenbart haben, sondern der Vater im Himmel.

Im Johannesevangelium werden in den Reden Jesu einige wichtige Punkte seiner Lehre über den Glauben klarer und ausdrücklicher herausgestellt als bei den Synoptikern. Glaube ist hier durchweg Glaube an Jesus, und nicht nur an Jesus als Werkzeug Gottes, sondern an ihn als Ebenbild und Inkarnation Gottes, so dass an ihn zu glauben heißt, an Gott zu glauben. Folglich wird dieser Glaube an Jesus auch eindeutig dargestellt als umfassender Glaube an ihn als Retter in Sachen Leben und Tod, für Zeit und Ewigkeit, und nicht nur als Glaube an Jesus als Helfer in einer konkreten Notsituation. Ja mehr noch, unser Herr beschreibt hier vorausschauend, in welcher Beziehung Glaube zu seinem Sühnetod und seiner Auferstehung stehen wird, und wie dieser Glaube zu einem Glauben an den himmlischen, verherrlichten Christus wird (Joh 3,14; 6,51; 7,29.38; 11,25; 15,7.16; 16,23–24). Weil das Selbstzeugnis Jesu in diesem Evangelium so viel umfassender und reichhaltiger ist, wird der Glaube hier stärker mit Erkenntnis gleichgesetzt (Joh 6,69; 8,24.28; 14,9–10.20; 16,30). Doch wie bereits gesagt, bedeutet Erkenntnis hier weit mehr als intellektuelle Einsicht. Sie beinhaltet praktische Kenntnis, Vertrauen und Liebe (Joh 10,4.14.15; 17,25.26). Und schließlich: Unser Herr äußert sich hier viel deutlicher zu den Ursachen von Glauben und Unglauben als in den synoptischen Evangelien. Glaube und Unglaube sind praktische Zustände und Handlungen, anhand derer die gesamte geistliche Verfassung des Einzelnen ans Licht kommt. Nicht zu glauben ist die große Hauptsünde, weil die tiefe, innewohnende Sündigkeit des Herzens in der Sünde des Unglaubens ihren wahren Charakter der Feindschaft gegen Gott zeigt (Joh 9,41; 15,22.24; 16,8–9).

Das Buch kann direkt beim Verlag Betanien bestellt werden: www.cbuch.de.

Regis Martin zu Papst Franziskus: „Legen Sie das Amt nieder“

Regis Martin, Professor für Theologie und Fakultätsmitglied des Veritas-Zentrums für Ethik im öffentlichen Raum an der Franziskaner-Universität von Steubenville (Ohio, USA), hat angesichts „Fiducia Supplicans“ scharfe Kritik an Kardinal Manuel Fernandez (Präfekt des Dikasteriums für die Glaubenslehre) und Papst Franziskus geübt: 

Was sollen Sie also dem Papst raten? Wenn ich es wäre, würde ich Folgendes sagen: „Eure Heiligkeit, bei allem Respekt, es gibt zwei Dinge, die Sie tun müssen, und zwei weitere, die Sie tun könnten. Die ersten beiden sind ziemlich einfach. Werden Sie Fernandez los; dann werfen Sie die Erklärung weg. Was die beiden anderen angeht, so sind sie optional, aber ich würde beides dringend empfehlen. Legen Sie das Amt nieder, das Ihnen so zur Qual geworden ist, und gehen Sie ins nächste Kloster, um ein Leben in Gebet und Buße zu führen.“ 

Hier der lesenswerte Artikel: crisismagazine.com.

Tara Isabella Burton: Self-Made

Tara Isabella Burton hat ein interessantes Buch mit dem Titel Self-Made: Creating Our Identities from Da Vinci to the Kardashians geschrieben (Hodder & Stoughton 2023). Sie folgt in gewisser Weise den Spuren, die Charles Taylor oder auch Carl Trueman gelegt haben. Und doch unterscheidet sich ihr Urteil über unser Zeitalter von dem dieser beiden Autoren.

Taylor stimmt sie darin zu, dass inzwischen der expressive Individualismus „die Art und Weise dominiert, wie wir im modernen Leben über uns selbst denken“ (S. 16). Allerdings glaubt Burton nicht, dass wir in ein säkulares Zeitalter eingetreten sind. Sie meint, dass sich der religiöse Glaube nur verschoben habe. Die Menschen glauben nicht mehr an einen allmächtigen Gott, der sie geschaffen hat und vor dem sie verantwortlich sind. Sie haben diesen Glauben ersetzt durch den Glauben daran, dass sie selbst Götter seien.

Sie schreibt (S. 16):

Ich bin jedoch nicht der Meinung [von Taylor, Anm. R.K.], dass diese Verschiebung einen Übergang von einer religiösen zu einer säkularen Weltanschauung darstellt. Vielmehr glaube ich, dass wir den Glauben an das Göttliche nicht so sehr abgeschafft, sondern vielmehr verlagert haben. Wir haben uns von der Vorstellung eines Schöpfergottes da draußen abgewandt und Gott stattdessen in uns selbst verortet – genauer gesagt, in der numinosen Kraft unserer eigenen Wünsche. Unsere Besessenheit von der Selbsterschaffung ist auch eine Besessenheit von der Vorstellung, dass wir die Macht haben, von der wir einst glaubten, dass Gott sie hat: uns selbst und unsere Realitäten neu zu gestalten, nicht nach dem Bild Gottes, sondern nach dem unserer eigenen Wünsche.

Philip Rieff oder Carl Trueman kann sie nicht darin folgen, dass die moderne oder spätmoderne Pflicht zur Selbsterschaffung des Menschen eine Erzählung des kulturellen Niedergangs sei. Sie sieht im Narrativ der Selbsterschaffung zwar keine erfolgreiche Geschichte des Fortschritts, aber eben auch keine der problematischen Regression. Die Menschen versuchen laut Burton einfach „das Rätsel zu lösen, wie wir als Wesen leben können, die sowohl überwältigend mächtig als auch erschreckend verletzlich sind und ohne unser Einverständnis in eine Welt gedrängt werden, deren Zweck und Bedeutung wir vielleicht nie wirklich erkennen können“ (S. 19).

Alexandra Davis hat kürzlich für Public Discourse ein Interview mit Tara Isabella Burton geführt. Ich kann es allen empfehlen, die sich für das Thema interessieren und zugleich die Zeit fehlt, das gesamte Buch zu lesen.

Burton betreibt alles in allem eine solide Kulturhermeneutik. Und sie wird Recht damit haben, dass dieses Narrativ der erfolgreichen Selbsterschaffung inzwischen auch über die Kirchenkanzeln in das kulturelle Bewusstsein eindringt. Dort, wo nicht mehr Gott selbst im Mittelpunkt steht und angebetet wird, werden ursprünlich christliche Ideen für die Selbstoptimierung verzweckt.

Sie sagt:

In der Pop-Psychologie gibt es diese Erzählung, dass sich die Menschheit verbessert, dass wir alle zu unserem besten Selbst werden, und dass diejenigen von uns, die nicht zu unserem besten Selbst werden, irgendwann aussterben, und das ist gut so, denn es gibt eine Art grundlegendes Wachstum. Das Universum will, dass wir erfolgreich sind; das Universum will, dass wir reich sind. Und das ist nicht nur eine Randsportart der Selbsthilfe-Industrie, sondern wird auf den Kirchenkanzeln der reichen Leute an der gesamten Ostküste gepredigt. Es gibt Leute wie William Ellery Channing oder Henry Ward Beecher, diese christlichen Prediger, die diese Ideologie in das kulturelle Bewusstsein der Amerikaner einbringen.

Hier geht es zum Interview: www.thepublicdiscourse.com.

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